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Erinnerungen an Siegburger KultkneipeEin letzter Walzer für das Deichhaus

Lesezeit 4 Minuten
Eine Frau mit Sonnenbrille hinter einer Kneipentheke

Die Kneipe Deichhaus in den 80er Jahren mit Inhaberin Marlene Seim am Zapfhahn

Ehemalige Stammgäste feiern das heute legendäre Lokal und seine Wirtin Marlene Seim

Marlene Seim atmet kurz durch: „Tja, wo fange ich an?“ Und dann sprudeln die Anekdoten nur so hervor. Kein Wunder: Es ist eine Frau, die in den 80er Jahren zehn Jahre lang ein besonderes Kapitel der Siegburger Stadtgeschichte mitgeschrieben hat.

Eine der ersten Kult- und Szenekneipen in Siegburg

In seinem Mittelpunkt steht das Deichhaus an der Frankfurter Straße, eine der ersten Siegburger Kult- und Szenekneipen überhaupt; und Marlene Seim war ihr Herz und ihre Seele. Mehr als 100 ehemalige Stammgäste des Deichhauses sind an diesem Abend zum großen Wiedersehenstreffen gekommen, allerdings im Kapellchen in der Innenstadt, da es das Lokal an der Frankfurter Straße nicht mehr gibt.

Wie damals steht die Gastgeberin im Mittelpunkt. Die 75-Jährige, die wie frisch aus dem Jungbrunnen gestiegen wirkt, kann kaum einen Schritt gehen, ohne von früheren Gästen geherzt und umarmt zu werden.

Das war keineswegs absehbar, als Seim, damals noch unter dem Namen Tettinger, am Silvesterabend 1981 erstmals die einstige Vorortkneipe aufschloss: „Ich hatte keine Erfahrung als Gastwirtin, aber jede Menge Ideen.“ Als Vorteil erwies sich, dass das Deichhaus als eine der ersten Siegburger Kneipen eine Nachtkonzession erhielt, also am Wochenende bis drei Uhr nachts öffnen durfte, was sich nicht nur bei den feierwütigen Kreisstädtern herumsprach: „Ich habe mich gewundert, für wie viele Menschen die Kneipe ein Zuhause sein kann.“

Kneipe Deichhaus in den 80er Jahren, finnische Rockabilly-Band

Kneipe Deichhaus in den 80er Jahren, finnische Rockabilly-Band

Das Publikum war bunt gemischt, es reichte vom Handwerker bis zum Intellektuellen, stark vertreten waren auch Schüler und Studenten. „Wir hatten auch viele Grüne und queere Menschen“, erinnert sich Seim. Gut die Hälfte der Gäste war weiblich, was der Gastgeberin wichtig war: „Mir lag es am Herzen, dass sich Frauen bei uns sicher fühlten. Wer übergriffig wurde, flog raus.“

Kultkneipe in Siegburg auf dem Deichhaus: Musik von Callas bis New Wave

Den Gästen wurde einiges geboten, angefangen bei der Musik, die von Maria Callas bis zur damals aktuellen New Wave reichte. Ein besonderes Ritual war das Stück „An der schönen blauen Donau“, mit dem die Nachtschwärmer heraus komplementiert wurden – nicht wenige davon den Walzer tanzend.

Immer wieder drohten die viel zu kleinen Räume aus allen Nähten zu platzen. Als eine der ersten Siegburger Kneipen wurde am Heiligabend geöffnet, als Zufluchtsstätte nach verkrampften Familienfeiern: „Das war der schönste Abend des Jahres“, erinnert sich die Wirtin.

Zwei Männer und eine Frau auf einer Bank vor einer Kneipe

Kneipe Deichhaus in den 80er Jahren, von links: Urban Kiwit, Jörg Heinen, Sabine Kunze

Treffen von ehemaligen Gästen der Kneipe "Deichhaus" im Kapellchen

Treffen von ehemaligen Gästen der Kneipe 'Deichhaus' im Kapellchen, von links: Urban Kiwit, Jörg Heinen, Sabine Kunze

Bei der Gestaltung legten die Gäste selbst Hand an. So gab es nahe der Theke eine Fotocollage mit dem sehr späten Elvis Presley, darunter der Schriftzug: „Sagen Sie nicht, dass er fett war.“ Marlene Seim organisierte eine Siegburg-Rallye, Ausflüge, Travestie-Shows und schräge Literaturveranstaltungen. „Sie konnte im Gast den Menschen sehen, nicht die Einkommensquelle“, erinnert sich Stammgast Wiljo Steinhauer: „Nicht die schlechtesten Voraussetzungen für eine Wirtin.“

Tom Buhrow unter den Stammgästen

Unter den damaligen Gästen war auch der heutige WDR-Intendant Tom Buhrow: „Als Student bin ich oft von meinem Elternhaus in Seligenthal zum Deichhaus gefahren. Mich hat damals die Vielfalt der Leute fasziniert.“ Eine Angewohnheit mit Nebenwirkungen: „Ich hatte damals sturmfreie Bude und ein paar Leute aus dem Deichhaus mitgebracht. Danach habe ich eine Woche gebraucht, ehe mein Elternhaus wieder in Schuss war.“

Treffen von ehemaligen Gästen der Kneipe "Deichhaus" im Kapellchen

Treffen von ehemaligen Gästen der Kneipe 'Deichhaus' im Kapellchen

„Wir lebten in den Tag und am Tag für den Abend im Deichhaus“, sagt Stammgast Wiljo Steinhauer. Ende 1990 stieg Marlene Seim aus ihrem Kneipenprojekt aus, danach war das Deichhaus nicht mehr dasselbe, darin sind sich die Stammgäste einig. Sie alle sind danach ihren Weg gegangen, auf unterschiedliche Weise.

Chemie unter den Gästen stimmte immer noch

Doch beim Revival gut 30 Jahre später stimmt die Chemie unter den Gästen sofort wieder, es wird geplaudert und gelacht, als ob das letzte Bier im Deichhaus gerade erst ein paar Stunden zurückliegen würde.

Eine Frau vor einer Schiefertafel mit Aufschrift alle Cocktails je nur 6 Euro

Die damalige Inhaberin Marlene Seim heute

„So etwas wie das Deichhaus als Ort des Austausches fehlt heute“, findet Marlene Seim, „aber die Zeiten ändern sich, heute gibt es das Rauchverbot in Kneipen, und die Leute verbringen viel mehr Zeit vor ihrem Computer.“ Und wenn es doch die Voraussetzungen für ein Comeback des Deichhauses geben würde? „Na ja, es würde mich schon in den Fingern jucken.“