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Kirchenaustritt„Glauben kann ich auch ohne Steuern"

Lesezeit 3 Minuten

Immer weniger Gläubige gehen zur Messe.

Siegburg – Der Flur ist lang, das Licht ist matt. Die grauen Kunststoff-Klappsessel auf dem Gang sind unbesetzt. Die Bürotür ist geschlossen. Heute wartet niemand vor der Kirchenaustrittsstelle im Siegburger Amtsgericht. Die einzige Mitarbeiterin ist gut gelaunt und trägt ausgerechnet den Namen Kreutz.

Und Iris Kreutz hat schon ganz andere Zeiten erlebt. Wahre Anstürme, erinnert sie sich. „Es war unglaublich. Die Schlange zog sich durch das ganze Treppenhaus.“ Alle wollten plötzlich aus der Kirche austreten. Anfang der 1990er Jahre war das. Die 55-Jährige ist ein alter Hase im Siegburger Amtsgericht. Seit 1975 arbeitet sie in dem markanten Gebäude an der Neue Poststraße, und seit 2012 ist sie die „Dame von der Kirchenaustrittsstelle“.

Die Austrittsstellen sind in NRW qua Gesetz den Amtsgerichten angegliedert, erklärt Direktorin Birgit Niepmann und zitiert aus dem so genannten Kirchenaustrittsgesetz: „Das Amtsgericht teilt dann den Austritt der jeweiligen Religionsgemeinschaft mit.“ Iris Kreutz schickt eine beglaubigte Abschrift der Austrittserklärung dem zuständigen Gemeindeamt mit sowie bei Verheirateten dem Standesbeamten.

So pompös manche Religionsgemeinschaften die Aufnahme feiern, so schmucklos vollzieht sich also die Verabschiedung: Treppe hoch, Gang entlang, Klappsessel. Die Justizamtsinspektorin residiert in einem kleinen Büro im ersten Stock. Innen ein Schreibtisch, zwei Besucherstühle, Aktenordner, Computer, Topfpflanze. Dann ein Formular, Unterschrift, 30 Euro, danke sehr, alles Gute.

An manchen Tagen warten 20 Leute. Dann registriert Iris Kreutz den Exodus der Gläubigen im Jahr 2013 nach Christi im Akkord. An anderen Tagen hingegen warten nur zwei Personen auf dem Gang. Dann können sich die Kandidaten mit ihrer Gretchenfrage theoretisch sogar Zeit lassen. Während ihre Kollegen am Amtsgericht Zwangsvollstreckungen, Insolvenzangelegenheiten und Bußgeldsachen bearbeiten, wird Iris Kreutz nämlich zuweilen Zeugin regelrechter Glaubensfragen. Die erfahrene Gerichtsmitarbeiterin hütet sich zwar wohlweislich, nach den Beweggründen ihres Gegenübers zu fragen. Was vereinzelte Zeitgenossen aber nicht davon abhält, trotzdem kundzutun, weshalb sie von dieser oder jener Kirche die Nase gestrichen voll haben.

„Ich gebe dann keine großen Antworten. Sonst entstehen womöglich noch Diskussionen, die keiner will. Nein, das lasse ich lieber“, sagt Kreutz und lächelt. „Letzte Woche kam ein älterer Herr herein, der wollte austreten wegen dieser Klinikgeschichte. Der machte deutlich: »So, jetzt reicht’s!«“Die Gründe sind ganz unterschiedlicher Natur: Eltern treten aus, nachdem ihre Kinder den hochbegehrten kirchlichen Kitas oder Schulen entwachsen sind. Bei Paaren wechselt der eine zur Weltanschauung des anderen. Ein Senior wiederum leistete die entscheidende Unterschrift, weil seine erheblich gläubigere Gattin mittlerweile verstorben war.

Weggänge verzeichneten alle Religionen zuweilen, sagt die Fachfrau: Katholiken und Protestanten, russisch und griechisch Orthodoxe, Altkatholiken und evangelische Freikirchen, Judentum und Neuapostolische Kirche. Anhänger all dieser Religionen müssen den Gang zum Amtsgericht tun, wenn sie ihre Glaubensgemeinschaft verlassen wollen. Allerdings, schränkt Iris Kreutz ein, summieren sich alle Austritte aus den kleinen Kirchen pro Jahr auf eine gerade mal einstellige Zahl.

Im Gegensatz dazu sei der Katholizismus zumindest in der Austrittsstelle die unangefochtene Nummer Eins auf der Beliebtheitsskala. Allein der Missbrauchsskandal im Jahr 2010 ließ die Austrittszahlen in die Höhe schnellen, von den üblichen 1100 bis 1200 pro Jahr auf satte 1600. Am Allzeithoch freilich kann diese Zahl nicht einmal kratzen: „Das war 1991, als der Solidarbeitrag eingeführt wurde.“ 2300 Austritte, und eben besagte Schlangen bis ins Treppenhaus. Kreutz muss nun doch lachen. Das, berichtet die 55-Jährige, sei nämlich der meistgenannte Grund für den Glaubens- oder zumindest Kirchenabfall: der schnöde Mammon. „Viele sagen »Glauben kann ich auch ohne Kirchensteuer.«“ Der arbeitsintensivste Monat sei deshalb der Januar – „Dann sind gerade die Jahresabrechnungen gekommen.“