Stadtteil in SiegburgEin Besuch auf der Zange – Leben zwischen Sieg und Bahndamm
Siegburg – Mit Schrecken denken Brummi-Fahrer bisweilen an ihren Besuch auf der Zange zurück. Bröckelnder Putz an der Unterführung der Mahrstraße erinnert an Lastwagen, die sich in diesem viel zu niedrigen Nadelöhr festfuhren und ihre Aufbauten abrasierten.
Doch gleich dahinter geht’s rund – auf dem „Berliner Kreisel“, den die Zanger stolz „den schönsten der Stadt“ nennen. Gepflegt von der „Rentnerband“ der Bürgergemeinschaft, ist diese kleine grüne Insel am Berliner Platz die Visitenkarte des Stadtteils und sichtbares Zeichen einer „starken Gemeinschaft“.
Bürgergemeinschaft 2001 gegründet
Helmut Bergmann meint damit den ganzen Stadtteil, aber vor allem die Bürgergemeinschaft, deren Geschäftsführer er seit der Gründung 2001 ist. „Der tiefe Sinn“, sagt der 77-Jährige, sei die Stärkung des „Wir-Gefühls “ gewesen, was eine Herkules-Aufgabe ist bei weit über 3000 Einwohner und einem bunten Haufen Individualisten.
Künstler, Musiker und Schauspieler haben sich auf der Zange niedergelassen – darunter Nito Torres, der auch schon in Daily Soaps wie „Verbotene Liebe“ über die TV-Bildschirme flimmerte und im Auftrag der Bürgergemeinschaft bisweilen als Nikolaus in Erscheinung tritt. „Als richtiger Nikolaus, nicht so’n Coca-Cola-Typ“, betont Bergmann.
Zum Künstlervölkchen gehört auch Bildhauer Karl-Heinz Löbach. Vor knapp einem Jahr ist der 58-Jährige mit seiner Lebensgefährtin Melanie Rotscheroth, deren Tochter Roya (7) und Hund Pablo von der Kaiserstraße in die Katharinenstraße umgezogen.
„Die Kaiserstraße war furchtbar“, seufzt Melanie Rotscheroth. Doch viele Jahre mussten sie warten, bis das Häuschen mit Scheune, Stall und Garten endlich frei wurde. „Wir sind happy, der Umzug auf die Zange war für uns ein Quantensprung“, preist Neubürger Löbach die „Idylle mitten in der Stadt“ und die „tolle Nachbarschaft“. Wenn er Skulpturen aus seinem Auto lade, „geht gleich ein Fenster auf und ruft einer: Kann ich helfen?“
„Eine richtige Stadtteilkultur“
Hier kennt man sich, hier grüßt man sich. Hier wird man aber auch schnell vereinnahmt. Schon nach dem ersten Elternabend in der Grundschule Bonner Straße hatte Melanie Rotscheroth die Aufgabe der Protokollführerin „an der Backe“. Auch das gehört zu dem, was Löbach „eine richtige Stadtteilkultur“ nennt. Die will er zusätzlich beleben. Mit seinen Künstlerkollegen will er mal „was zusammen machen“, und wenn aus dem Garten ein kleiner Skulpturenpark geworden ist, zur „Offenen Gartenpforte“ einladen.
Futtertröge in seinem zum Atelier umfunktionierten Stall erinnern indes an die Geschichte der Zange, die einst vornehmlich von Ackerbau und Viehzucht geprägt war. Mitte des 19. Jahrhunderts (siehe „Elias und der Hornpott“) hatte die Einöde gerade mal 21 Einwohner.
Erst mit der Wende zum 20. Jahrhundert, als auch die Siegburger Bevölkerungszahlen explodierten, erlebte das Veedel „am Fuße des Michaelsbergs, zwischen silberglitzernder Sieg und Bahndamm, der uns mit der Welt verbindet“, wie es im „Gebet der Zanger Bürger“ heißt, seinen ersten Aufschwung, einen zweiten mit Eröffnung des ICE-Bahnhofs: Der hat junge Familien mit Kindern auf die Zange gelockt. Denn mit dem ICE sind die Eltern in 30 Minuten an ihrem Arbeitsplatz in Frankfurt, und auf der Zange genießen sie die Nähe zur Natur.
Nur noch eine Kneipe
Von der Landwirtschaft ist freilich nicht viel mehr übrig als die Futtertröge bei Löbach und das halbe Dutzend Hühner im Stall von Karl-Heinz Neifer. Mit seinen 87 Jahren ist Neifer ein Zanger Urgestein. Sein Großvater hatte einst einen Riesengartenbaubetrieb und einen Lebensmittelladen, den sein Vater 1953 übernahm und um eine Drogerieabteilung erweiterte. Doch wie die meisten Einzelhändler warf auch Karl-Heinz Neifer in den 1960er Jahren das Handtuch vor der Konkurrenz der Filialisten, versuchte es eine Zeit lang mit einer Hühnerfarm und dann – freilich als Steckenpferd – mit einem Ponyhof.
Neifer kann sich noch gut an andere Zeiten erinnern: Vor dem zweiten Weltkrieg zählte die Zange elf Lebensmittelgeschäfte, eine Metzgerei, drei Kohlenhändler, einen Süßwarenladen, ein Tabakwarengeschäft, sogar eine Zigarrenfabrik und neben vielen weiteren Gewerbebetrieben auch so etwas Exotisches wie eine Zahnbohrerschleiferei. Vor allem: fünf Kneipen! Von denen ist, seit aus der Gaststätte „Zur Zange“ eine Wohnung wurde und auch der Bonner Hof wieder geschlossen ist, eine einzige übrig geblieben.
Gefeiert wird in der Aula des Berufskollegs
Aber die Gaststätte „Jraduss“ an der Ecke Hohenzollern-/Ludwigstraße habe noch nicht einmal ein Sälchen, seufzt Bergmann. Feiern müssen die Vereine in der Aula des Berufskollegs. Dort findet auch die Karnevalssitzung der Bürgergemeinschaft statt, die einst Milchhändler Hans Gilgen ins Leben gerufen hatte.
Aber für ihre Jahresabschlussfeier muss die Bürgergemeinschaft ins Kolpinghaus in der Mühlenstraße ausweichen – und in drei Schichten feiern. Das für die Gäste kostenlose Abendessen ist an allen drei Tagen das gleiche. „Am dritten Abend können wir vom Vorstand das Essen schon nicht mehr riechen“, schmunzelt Bergmann und hofft auf den neuen Kindergarten. Das „Kinderreich“ in der Katharinenstraße, über dem vor wenigen Wochen der Richtkranz gehisst wurde, soll nämlich auch den Vereinen als Versammlungsstätte dienen.
Die ist dringend nötig. Allein die Bürgergemeinschaft wuchs von anfangs 62 rasant auf 525 Mitglieder. Hinzu kommt eine Vielzahl weiterer Vereine. Schützenbruderschaft Sankt Servatius und Hornpötter Hunnenhorde zählen zu den großen, der „Lotterie-Club der 12“ zu den kleinen. Das Clübchen wurde bereits 1921 gegründet, um bei der „Preußischen Klassenlotterie“ jede Woche zehn Viertellose zu kaufen. Bis jetzt hält das Dutzend Glückssucher die Tradition aufrecht, die sich auch in der Mischung aus dörflicher und städtischer Architektur aus der Gründerzeit spiegelt. Darüber können auch nicht die Hochhäuser hinwegtäuschen, die 1965 als die ersten Hochhäuser von Siegburg gefeiert wurden – die ersten mit Aufzug und Müllschlucker.
„Wir fühlen uns hier pudelwohl“, sagt Helmut Bergmann, und Karl-Heinz Neifer pflichtet ihm bei. Den Spaziergang in der Siegaue weiß er vor allem zu schätzen und erinnert sich, dass er in den 30er Jahren für seinen Führerschein heimlich auf dem Siegdamm Autofahren geübt hat. Das ginge heute gar nicht mehr.
Tagesration im „Rigoletto“
Heutzutage ist die Zange zum Verdruss der Anwohner Siegburgs größter Parkplatz. Auch der Bordellbetrieb mit seinem Laufhaus ist nach wie vor ein Aufreger. Und doch lieben die Menschen ihr Veedel. Auch wenn sie, um den Kühlschrank aufzufüllen, weite Wege in Kauf nehmen müssen – mit dem Einkaufsbus, der sie zu Hit und Aldi bringt.
Die Tagesration gibt’s freilich immer noch beim Inder um die Ecke. „Ich versuch’s mal“, hatte sich Rajinder Deol gedacht. Als der letzte Tante-Emma-Laden auf der Zange schloss, eröffnete er neben seiner Mini-Pizzeria „Rigoletto“ in der Hohenzollernstraße einen kleinen Kiosk, wo es frische Brötchen, Konserven und alles gibt, was man für den Tag braucht. „Was nicht vorrätig ist, kann ich in 24 Stunden liefern“, verspricht Deol seinen Kunden zumeist älteren Semesters.
Klar hat auch dieses Paradies seine kleinen Fehler, aber keine Schmuddelecken. Tadellos sind Häuser und Gärten gepflegt, vor allem der Berliner Kreisel. Zwei Mal im Monat trifft sich die Rentnerband mit Heinz Becker, Heinz Göbel, Karl-Heinz Knöfer, Leo Sauerzweig, Karl Schmiegel und Hans-Peter Witsch auf der grünen Insel, jätet Unkraut und klaubt Getränkedosen und Zigarettenschachteln auf.
„Ein Sack wird immer voll“, ärgert sich Knöfel über den Unrat, den Autofahrer wegwerfen. Doch die Rentnerband gibt nicht auf. „Schließlich“, meint Witsch, der über zehn Jahre Vorsitzender der Bürgergemeinschaft war, „ist der Kreisel doch unser Entree.“