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„Ich klage an“Die traurige Geschichte hinter der Todesanzeige von Klaus Grosch

Lesezeit 7 Minuten
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Die Zeit, die blieb, kosteten Angelika und Klaus Grosch aus: Reisen, nach Jever, Kiel, Königssee, „da konnten wir noch wandern“.

  1. Das Oberverwaltungsgericht in Münster verhandelt am Mittwoch einen Streit zum Zugang zu Betäubungsmittel zur Selbsttötung.
  2. Auch Klaus Grosch blieb 2019 der Zugang zu dem Betäubungsmittel verwehrt. Er entschied sich deshalb für das Sterbefasten.
  3. „Unzumutbar und unwürdig“ beschrieb er sein Sterben. Und dennoch sei es für ihn die einzige Möglichkeit gewesen, sein Leben selbstbestimmt zu beenden, bevor ihn seine tödliche Krankheit ALS zu völliger Hilflosigkeit verdammte.
  4. Seine Witwe, seine Tochter und eine Todesanzeige vom 4. Mai erzählen die Geschichte eines verzweifelten Menschen, dem ein Tod in Würde verwehrt blieb.
  5. Ein Bericht aus unserem Archiv, der erstmals am 16. Mai 2019 veröffentlicht wurde.

Troisdorf – „Ihr Antrag auf Erwerb eines Betäubungsmittels zum Zweck der Selbsttötung ist abgelehnt.“ Den endgültigen Bescheid bekam Angelika Grosch, da war ihr Mann Klaus schon tot. Verhungert und verdurstet. Palliativ begleitet im Krankenhaus nennt man das Sterbefasten, dann klingt es weniger grausam. Das Sterben jedoch bleibt gleich: Organversagen nach Tagen, meist Wochen ohne Nahrung, ohne Flüssigkeit. „Unzumutbar und unwürdig“ hat Klaus Grosch sein Sterben selber beschrieben. Und dennoch sei das Fasten für ihn die einzige Möglichkeit gewesen, sein Leben selbstbestimmt zu beenden, bevor ihn seine tödliche Krankheit ALS zu völliger Hilflosigkeit verdammte.

Ein Stolpern, Sprachschwierigkeiten – seine Witwe erinnert sich an die ersten Symptome, die ihr im Frühjahr 2017 auffielen und die zum Ende des Jahres zunahmen. „Wir haben einen kleinen Schlaganfall vermutet.“ Im Krankenhaus in Sieglar kam die Diagnose und der Satz: „Sie werden daran sterben.“ Unwirklich sei das gewesen, sagt sie: „Man denkt, der Arzt redet mit jemandem anders.“

Grosch-Todesanzeige

Die Todesanzeige von Klaus Grosch erschien am 4. Mai im „Rhein-Sieg-Anzeiger“ und der „Rhein-Sieg-Rundschau“.

Zu Hause zog sich ihr Mann zurück, hinter den Kamin, und weinte. „Ich bin zu ihm gegangen und habe gesagt, wenn wir weinen, dann weinen wir zusammen.“ So wie sie alles zusammen gemacht haben, seit sie sich in Kiel kennenlernten; der große, dunkelhaarige Bundeswehrsoldat aus Köln und sie, die Fernsprecherin bei der Bundeswehr. Berufliche Umzüge im In- und Ausland, Urlaube. Und Karneval, Klaus Grosch ging immer als Clown. „Die Clownsnase haben wir ihm mit in die Urnenkammer gegeben, und beim Auszug aus der Trauerhalle erklang ’Wenn et Trömmelche jeht’“, erzählt Tochter Nadja Klein.

Schon Monate nach der Diagnose konnte Klaus Grosch nicht mehr richtig gehen

„Er hat schon früh gesagt, dass er ein Ende machen will“, erinnert sich die Technische Systemplanerin. Eine Entscheidung, die sie und ihre Mutter bedingungslos unterstützten. „Er hat ja jeden Verfall seines Körpers mitbekommen.“ Der sportliche Mann, der wanderte und Volleyball spielte, konnte bereits Monate nach der Diagnose nicht mehr richtig gehen, nicht mehr stehen und nicht mehr alleine sitzen. Zähneputzen, Toilettengang – ohne fremde Hilfe nicht mehr möglich. Wie muss das für ihn gewesen sein, für einen Mann, der alles selber machte, einen Anpacker wie ihn, fragt sich seine Witwe. Für den stolzen Heimwerker, der die gläserne Terrassenüberdachung selber putzte, Kirschen vom großen Baum pflückte, bei der Hausrenovierung der Kinder half, das hölzerne Modellschiff einer spanischen Galleone von 1636 selber baute, im Maßstab 1:100, komplett mit Masten und Tauwerk.

Klaus Grosch

April 2017. Zu dieser Zeit fielen Angelika Grosch die ersten Symptome bei ihrem Mann auf. „Wir haben einen kleinen Schlaganfall vermutet.“ 

„Papa hätte sich doch eher die Zunge abgebissen als um Hilfe zu fragen“, charakterisiert Nadja ihren Vater. Auch weinen habe sie ihn nie sehen, „in 40 Jahren nicht“. Jetzt aber weinte er viel, Symptom seiner Erkrankung ebenso wie Furcht vor dem, was ihm bevorstand. „Wir haben gelesen, man lebt ein bis vier Jahre mit dieser Krankheit“, sagt Angelika Grosch. „Aber wir wussten, es geht nicht so lange.“ Den Eheleuten war klar, ihnen blieb nicht viel Zeit, bevor der 78-Jährige völlig hilflos sein würde, gefangen in seinem sterbenden Körper.

Was ist ALS?

Die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist eine degenerative Erkrankung des zentralen Nervensystems. Die Schädigung in Gehirn und Rückenmark führen zum Verlust bestimmter Nervenzellen, die für die Steuerung der Skelettmuskeln zuständig sind. Infolge bilden sich die Muskeln zurück. Lähmungen sind die Folge, sowie erhebliche Schwierigkeiten beim Atmen, Schlucken und Sprechen. Die Wahrnehmung, das Bewusstsein und die intellektuellen Fähigkeiten der Patienten bleiben in der Regel vollständig erhalten. Die Krankheit ist nicht heilbar, die meisten Patienten sterben innerhalb von zwei bis vier Jahren.

Jedes Jahr erhalten in Deutschland etwa 2000 Menschen die Diagnose ALS. Insgesamt hierzulande derzeit etwa 6000 bis 8000 Menschen an ALS erkrankt. Bei Männern tritt die Krankheit etwas häufiger auf als bei Frauen, betroffen sind meist Menschen über 50 Jahren.

Der Künstler Jörg Immendorff und der Physiker Stephen Hawking etwa waren an ALS erkrankt, wobei letzterer ein untypischer Fall war: Hawking erkrankte bereits als junger Mann und lebte noch viele Jahre, allerdings im Rollstuhl. Die Nervenerkrankung hatte ihm die Fähigkeit zu laufen und zu sprechen genommen. (seb)

Die Zeit, die blieb, kosteten sie aus: Reisen, nach Jever, Kiel, Königssee, „da konnten wir noch wandern“. Unerbittlich schritt der Verfall voran. Die Muskeln bildeten sich zurück, „auf der Couch ist Papa immer hin und her gerutscht, er saß ja auf dem blanken Knochen“, beschreibt Nadja Klein. Dann versagte die Sprache. Auf Zetteln schrieb er, was er eigentlich hätte sagen wollen. Zum Schluss zitterten die Hände so, konnten die Finger den Stift nicht mehr halten, auf dem Papier nur noch Gekrakel. Dann schrieb er mit den Fingern die Worte in die Luft, natürlich spiegelverkehrt, damit die anderen sie lesen können.

„Ich wusste die letzten Wochen nicht, was ich ihm zu essen machen sollte“

Die Muskeln schwanden, das Gesicht wurde zur Maske, Atmen zur Qual. Kauen und Schlucken waren kaum noch möglich. „Ich wusste die letzten Wochen nicht, was ich ihm zu essen machen sollte“, erzählt Angelika Grosch. Gekochte Eier, Rührei, Brühe, das ging noch, alles musste püriert werden und anschließend durch den Filter; danach hätte er über eine Magensonde ernährt werden müssen. Nur das Herz, das schlug stark und unbeirrt, „da geht die Krankheit nicht dran, als ob der Körper möglichst lange leiden soll“, beschreibt es seine Tochter. Ein Leiden, dem sich Klaus Grosch nicht ergeben wollte. Hilflos und bewegungsunfähig von medizinischen Geräten abhängig zu sein, kam für den 78-Jährigen nicht infrage.

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Verbittert sei er nicht, schrieb Grosch in seinem Nachruf, den er seine Wandergruppe, seiner Rentnergruppe, den Volleyballsportlern und seiner alten Crew von der Marine schickte und auch in der Zeitung veröffentlicht sehen wollte. „Aber ich klage an."

Mit seiner Frau, mit seiner Tochter und deren Mann Carsten, mit seinen behandelnden Ärzten, mit Familie und Freunden besprach er die Möglichkeiten, sein Leben selbstbestimmt zu beenden. Alle respektierten seine Entscheidung, schrieb er am 3. Dezember 2018 in einem Einschreiben an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in Bonn (BfArM). Dort beantragte er die Erlaubnis für eine tödliche Dosis des Beruhigungsmittels Natrium Pentobarbital und berief sich auf eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts Leipzig vom 2. März 2017, dass schwerstkranke Menschen in Extremfällen einen entsprechenden Anspruch haben.

Der Antrag wurde keine zehn Tage später abgelehnt, aber sollte er ihn aufrechterhalten, so müssten weitere Unterlagen vorgelegt werden. Ein neues Gutachten stellte der Neurologe aus; zusätzlich hätte ein Notar oder ein psychiatrischer Facharzt ein Gutachten erstellen müssen, aus dem hervorgeht, dass sich Grosch der Tragweite seiner Entscheidung in vollem Umfang bewusst sei. Aber dann wollte Grosch nicht mehr: „Der Antrag wird ja doch abgelehnt, das Gesundheitsministerium hat Order gegeben, alle Anträge abzulehnen.“

Gleichzeitig setzte er sich mit Alternativen auseinander. „Es kamen Gedanken an Suizid“, berichtet Angelika Grosch. Er könne sich im Keller aufhängen, sich in die Kreissäge legen, die Pulsadern öffnen, Stickstoff atmen. Mit Rücksicht auf seine Familie habe er sich dagegen entschieden, schrieb der 78-Jährige in seinem eigenen Nachruf. Seine Frau wäre auch diesen Weg mit ihm gegangen, sagt die 69-Jährige: „Wie er sein Leben beenden wollte, war seine Sache; er hatte ja die Krankheit.“

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„Wie er sein Leben beenden wollte, war seine Sache; er hatte ja die Krankheit“, sagt Angelika Grosch.

Wer ist BfArM?

Über 100 Anträge sind seit dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 2. März 2017 auf Erlaubnis zum Erwerb eines letal wirkenden Medikaments zur Selbsttötung gestellt worden. Alle Anträge wurden abgelehnt. 22 der Antragsteller starben während eines anhängigen Verfahrens, das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage Anfang Mai hervor.

Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in Bonn hat in seiner Antwort an Klaus Grosch erklärt, es erscheine zweifelhaft, ob das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts verfassungsgemäß sei. Auch der Deutsche Ethikrat hat dem Urteil in einem Mehrheitsvotum widersprochen. „Der gebotenen Achtung individueller Entscheidungen über das eigene Lebensende“ sollte keine staatliche Unterstützungsverpflichtung zur Seite gestellt werden, so der Ethikrat.

„Viele der Bedenken des Deutschen Ethikrats werden von uns geteilt“, teilte das Bundesinstitut mit. Das Bundesministerium für Gesundheit habe das BfArM aufgefordert, Anträge auf Erteilung einer Erlaubnis zum Erwerb von Natrium-Pentobarbital zum Zweck der Selbsttötung abzulehnen. (seb)

Gemeinsam besuchten sie das Hospiz und die Palliativstation im Troisdorfer Krankenhaus St. Josef. Dort, so entschied Grosch, solle das Sterbefasten geschehen. „Er wollte noch seinen Geburtstag, den Geburtstag unserer Tochter und meinen im März erleben“, erzählt Angelika Grosch.

Im April dann war es soweit. Ein schlimmer Gang für seine Familie, sagt seine Tochter Nadja: „Allein, ihn dahin zu bringen und zu wissen, mein Papa wird jetzt verhungern und verdursten.“ Die Tabletten, die die Auswirkungen der ALS und der großen Luftnot lindern sollten, konnte er nicht mehr schlucken; konsequent weigerte er sich, diese mit Flüssigkeit einzunehmen. Nur das Benetzen ließ er zu. Einen so willensstarken Mann habe er noch nie gesehen, sagte der begleitende Arzt. Und Klaus Grosch beruhigte seine Familie: „Alles ist gut.“

Verbittert sei er nicht, schrieb er in seinem Nachruf, den er seine Wandergruppe, seiner Rentnergruppe, den Volleyballsportlern und seiner alten Crew von der Marine schickte und auch in der Zeitung veröffentlicht sehen wollte. „Aber ich klage an – unseren Staat, der es mir verweigert hat, in Würde zu sterben.“