Luftwaffenoffizier über Afghanistan„Vieles fühlt sich so falsch an“
In den bewegten letzten Tagen hat der deutsche Luftwaffenoffizier L. herausgefunden, wo er am besten weinen kann. Im Büro. In seiner Kaserne in Norddeutschland hat er ein großes Einzelbüro. Da merkt es keiner, wenn er schluchzt und Tränen aus seinen Augen laufen. „Zu Hause habe ich Frau und zwei Kinder“, sagt er. „Denen will ich das nicht zumuten.“
L. ist eigentlich alles andere als ein Emotionsbündel, eher der aufgeräumte Typ. In Afghanistan war er bereits zweimal stationiert, in Mazar und in Kabul. Unter der Bedingung der Anonymität spricht er über die hässliche Unterseite der deutschen Luftbrücke nach Kabul.
Schwierigste Phase läuft
Man kann auch deren positive Seite beleuchten, die Kanzlerin hat es gestern getan. Die Bundeswehr hat mehr als 4600 Menschen ausgeflogen, in einem ihrer gefährlichsten Einsätze aller Zeiten. Die wohl schwierigste Phase läuft jetzt gerade. Weltweit gibt es anerkennende Worte für das Engagement der Deutschen, von dem Angehörige aus 46 Nationen profitiert haben.
Doch es gibt auch eine dunkle Seite. Und L. kennt sie sehr genau. Eigentlich müssten noch sehr viel mehr Menschen aus Afghanistan gerettet werden. Das Auswärtige Amt sprach gestern von einer „hohen vierstelligen oder niedrigen fünfstelligen Zahl“. Immer mehr Schutzbedürftige stoßen aber auf Hindernisse.
Frau und Kinder bangend am Flughafen
Am gestrigen Mittwoch telefonierte Luftwaffenoffizier L. zwischen Kabul und Berlin hin und her, weil gerade Frau und Kinder eines afghanischen Bauunternehmers, der in Masar-i-Sharif Gebäude für die Luftwaffe errichtet hatte, bangend vor dem Südosttor des Kabuler Flughafens standen.
Das Problem: Der Mann hat zwar den Bauauftrag tatsächlich abgewickelt und war monatelang auf dem deutschen Stützpunkt. Doch juristisch gesehen war er nur Subunternehmer einer anderen afghanischen Firma. Und Subunternehmer werden nicht ausgeflogen.
„Ein bisschen wie im Film“
L. hängt sich rein in solche Fälle, außerhalb der Dienstzeiten und Dienstwege, telefoniert auch mit Abgeordneten, schickt Eingaben ans Kanzleramt. Mitunter interveniert er sogar live in Kabul, per Whatsapp. Anfang dieser Woche wurden Angehörige afghanischer Hilfskräfte von deutschen Wachen am Airport in Kabul gestoppt: Wo ist das Visum?
Die Gruppe stand auf einer Excel-Liste, die L. schon vor Wochen zusammengestellt hatte. Die nötigen Papiere, schrieb L. nun nach Kabul, könnten in diesem Ausnahmefall nachträglich in Usbekistan ausgestellt werden. Man solle die Familie bitte einfach erstmal nach Taschkent fliegen.
Eingriffe nicht immer erfolgreich
Nicht immer waren solche Last-Minute-Eingriffe erfolgreich. Weil mittlerweile Betrugsversuche und Urkundenfälschungen zunehmen, werden die Soldaten misstrauischer. Am Ende besiegelt dann eine zurückweisend erhobene Hand oder ein nickend ausgesprochenes „Weitergehen!“ ganze Schicksale.„Es ist ein bisschen wie im Film“, sagt L. „Man erinnert sich an Schindlers Liste.“ Über diesen makabren Gedanken habe er in letzter Zeit oft mit Kameraden geredet. Die hätten ähnliche Empfindungen und seien sich einig: „Vieles fühlt sich so falsch an.“
Hätte alles ganz anders, viel besser laufen können? Wenn L. über die Bundesregierung spricht, ist sein Ton differenziert, nicht verächtlich. Auch L. bekennt sich dazu, den sofortigen Kollaps der regulären afghanischen Regierung nicht geahnt zu haben. Auch L. betont, dass den Deutschen immer wieder von den USA ein Handlungsrahmen gesetzt worden sei, auch jetzt wieder, bei der Beendigung der Luftbrücke zum 31. August.
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Die letzte deutsche Maschine wird wohl am Freitag fliegen. Die Regie am Hamid Karzai International Airport liege nun mal derzeit in der Hand der amerikanischen Luftwaffe. Schon aus technischen und logistischen Gründe könne man an den Vorgaben der Amerikaner nichts ändern.
Zu beklagen sei aber ein Mangel an Redlichkeit und an Menschlichkeit in der Berliner Politik im Laufe der letzen Wochen und Monate. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) kommt bei ihm noch gut weg, sie sei in Sachen Ortskräfte seit Anfang des Jahres sehr aktiv gewesen. Innenminister Horst Seehofer (CSU) aber habe immer wieder gebremst.
Angst um eine 19-jährige Frau
Im Mai gehörte L. zu jenen Offizieren die schon mal überschlägig die Gesamtzahl der zu rettenden afghanischen Ortskräfte hochrechneten. Er kam auf 50.000: „Das war eine Zahl, die niemand hören wollte in einem Bundestagswahljahr.“ Dabei hatten seine Kalkulationen eine ebenso simple wie saubere Grundlage. L. addierte alle über 20 Jahre hinweg geschlossenen Verträge, etwa für Übersetzer, Köche, Reinigungskräfte oder Bauarbeiter, und multiplizierte sie dann mit dem Faktor Fünf,der Kopfzahl der afghanischen Durchschnittsfamilie: Vater, Mutter und drei Kinder.
Moment mal, konterten Seehofers Leute aus dem Innenressort in den nachfolgenden regierungsinternen Beratungen – und ließen nichts unversucht, die Zahl wieder klein zu kriegen. Der Ausreiseanspruch müsse auf die „Kernfamilie“ begrenzt bleiben, dazu dürften neben dem Ehepartner nur jene Kinder zählen, die noch nicht volljährig sind. Außerdem sei ja wohl jemand, der vielleicht mal vor zehn Jahren etwas für die Deutschen getan habe, heute nicht mehr in Gefahr. Beide Punkte drückte Seehofer durch, anfangs jedenfalls.
Seehofer habe keine Ahnung vom Land
Den Soldaten L., der den Afghanen in Masar-i-Sharif und in Kabul in die Augen geblickt hat, schüttelte es: Seehofer, das war für ihn klar, habe keine Ahnung von dem Land. L. riet dringend zu Nachbesserungen der Regeln, alles andere werde zu Tragödien führen. Afghanistan-Kenner in den internationalen Hilfsorganisationen sahen es genauso. In den vergangenen Wochen schob Berlin dann tatsächlich diverse Korrekturen nach. Doch in vielen Fällen kamen sie zu spät.
Die deutsche Klausel über die Kernfamilie zum Beispiel zerriss die Familie von Ali Mohammad A., der für die Deutschen als Koch gearbeitet hat. A. hat eine spastisch gelähmte 19 Jahre alte Tochter, die in Masar-i-Sharif lebt. Der Koch bekam ein deutsches Visum und reiste schon im Juni aus, in der zunächst berechtigten Hoffnung, für seine Tochter nachträglich ebenfalls ein Visum zu bekommen.
Berlin weichte Bestimmungen auf
Tatsächlich weichte Berlin die Bestimmungen zu dieser Zeit gerade generell auf. Inzwischen aber, seit die Taliban die Straßen kontrollieren, hat die Tochter schon physisch keine Chance mehr, zum Flughafen zu gelangen. Wie wird es ihr in Zukunft ergehen, als alleinstehende behinderte Frau in einer von den Taliban regierten Gesellschaft?
L., der den verzweifelten Vater gut kennt, fürchtet das Allerschlimmste. Die Taliban könnten zu dem Schluss kommen, dass die Tochter eines Kollaborateurs wegen ihrer Behinderung nicht mal für eine Zwangsheirat an einen Krieger taugt – „und deshalb beseitigt werden kann“.
Hoffnungen ruhen auf Taliban
Fälle wie diese hatte im Berliner Innenressort keiner auf dem Zettel – heute bereiten sie Soldaten mit Afghanistan-Kontakten schwere Tage und schlaflose Nächte. Letzte Hoffnungen ruhen jetzt auf einer Zusage der Taliban, die der deutsche Verhandlungsführer Markus Potzel am Mittwoch bei Gesprächen in Doha bekam. Angeblich können afghanische Ortshelfer auch noch nach dem 31. August ausreisen, mit zivilen Maschinen. Aber kann man dieser Zusage trauen? Und wer entscheidet, ob die Voraussetzungen erfüllt sind?
Falsch lag Seehofer jedenfalls auch mit seiner Einschätzung, wer nur irgendwann vor vielen Jahren etwas für die Deutschen getan haben, müsse die Taliban heute nicht mehr fürchten.L. hat in seinen Excel-Tabellen frappierende Gegenbeispiele. Zehn Jahre ist es beispielsweise her, dass das Bauunternehmen Bakhar Afghan Construction Company (BACC) in Masar-i-Sharif im Auftrag der Deutschen eine kleine Kirche baute, einen ökumenischen Ort der Andacht für Christen auf dem Kasernengelände.
Todesurteil gegen BACC-Geschäftsführer
Gegen den BACC-Geschäftsführer erging deswegen bereits ein Todesurteil. Nach der Scharia, heißt es darin, sei das Errichten nichtmuslimischer Gotteshäuser eine Todsünde. Sterben müsse auch die Familie des Geschäftsführers. Die männlichen Mitglieder werde man enthaupten, die weiblichen steinigen. Unterzeichnet ist das Ganze vom Distriktkommandanten der Taliban. „Die afghanische Seele vergisst nichts“, sagt L. „Deshalb sind jetzt alle am damaligen Bau Beteiligten in akuter Lebensgefahr.“
Tiefe, Ernsthaftigkeit und geringe Vergesslichkeit prägen aber auch das Denken jener Afghanen, die in Freiheit leben wollen. Viele von ihnen blicken jetzt befremdet auf ihre westlichen Freunde: War das Gerede von Hilfsbereitschaft des Westens eine einzige große Lüge?
Solidarität und gebrochen Versprechen beeindrucken
Jeder echter Akt der Solidarität, sagt L., werde die Afghanen jetzt auf Jahrzehnte hinaus beeindrucken. Jedes gebrochene Versprechen auch. Inzwischen sei schon so viel schiefgegangen, dass es ihm in der Seele weh tue. Als L. selbst sich einst aus Afghanistan verabschiedete, 2011, war er an seinem letzten Abend umringt von 30 Ortskräften. Hähnchen kamen auf den Grill. „Es war die Zeit, in der junge Frauen mit offenem Haar zur Universität spazierten.“ Es ist zum Heulen.