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„Anne Will“ zu Corona„Wahnsinnig viel verschlafen“ – Virologe kritisiert Politik

Lesezeit 8 Minuten
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Anne Will im Gespräch mit Armin Laschet, Claudia Spies und Alexander Kekulé (v.l.n.r.).

  1. „Die Corona-Krise – wie drastisch müssen die Maßnahmen werden?“, fragte Anne Will am Sonntagabend.
  2. Zu Gast waren Olaf Scholz (Bundesfinanzminister, SPD), Armin Laschet (NRW-Ministerpräsident, CDU), Claudia Spies (Charité-Ärztin), Alexander Kekulé (Virologe), Angela Inselkammer (Hotel- und Gaststättenverband) und Cerstin Gammelin („Süddeutsche Zeitung“).

Berlin – In Zeiten wie diesen, wenn die Dinge sich schnell verändern und die Verunsicherung hoch ist, mutieren selbst die Polit-Talks im Fernsehen unversehens vom Entertainment-Gezänk zur Informationssendung.

Als es am Sonntagabend bei Anne Will hieß „Die Corona-Krise – wie drastisch müssen die Maßnahmen werden?“, hatte Bundesinnenminister Horst Seehofer gerade erst die Schließung einiger deutscher Grenzen verkündet, und vielen Bundesländern stand der erste Tag der Kita- und Schulschließungen bevor.

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Die Zuschauer dürften also an den Lippen der Experten und Politiker gehangen haben, die die neuesten Einschätzungen und Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus besprachen. Dass wegen der Infektionsgefahr auf ein Studiopublikum verzichtet wurde, verstärkte den Eindruck sogar, dass dieses Mal Information vor Streit gehen sollte. Ganz durchzuhalten war das zwar nicht – weil sich Virologie und Politik uneins waren.

Olaf Scholz verteidigt Maßnahmen gegen Corona

Es ist in den deutschen Talkshows, auch bei Anne Will, nicht die erste Runde zum neuen Coronavirus, das Deutschland gerade überschwemmt. Doch angesichts der gerade verkündeten Grenzschließungen und der vollkommenen Stilllegung des öffentlichen Lebens in einigen Nachbarländern Deutschlands lag die debattierte Frage tatsächlich in der Luft: Wie drastisch müssen die Maßnahmen werden?

Olaf Scholz (SPD): Der Vizekanzler und Bundesfinanzminister musste vor allem erklären, warum die Maßnahmen der Bundesregierung im Kampf gegen Corona weitgehend genug seien und rechtzeitig genug kamen. Dass die deutschen Grenzen etwa lange offen geblieben sind und erst jetzt teilweise geschlossen werden, erklärte er mit den Ladenschließungen in Belgien und Frankreich: Es gehe darum, dass die Franzosen nicht daheim vor geschlossenen Geschäften stehen, damit sich das Virus nicht weiter verbreitet – und dann einfach nach Deutschland zum Einkaufsbummel führen. So wie bisher die Schritte im Kampf gegen Corona dessen Verbreitung angepasst gewesen seien, halte man sich je nach Verlauf weitere Maßnahmen offen.

Alexander Kekulé: Der Chef des Instituts für Medizinische Mikrobiologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg galt angesichts seiner früheren Auftritte und Warnung vielen als zu alarmistisch – und war (etwa deshalb?) nicht als Berater geladen, als Angela Merkel und die Ministerpräsidenten aller Bundesländer über die sinnvollsten Schritte gegen Corona informiert wurden und berieten.

Mit einiger Verzögerung hat die Politik jeweils die Forderungen Kekulés umgesetzt, was ihn inzwischen für viele adelt. Die Politik in Europa insgesamt habe „wahnsinnig viel verschlafen“, sagt er, immerhin habe man die Corona-Gefahr seit Anfang Januar einschätzen können. Die Grenz- und Schulschließungen hält er für richtig, aber womöglich zu spät. Weitere Einschränkungen könnten aber nötig werden.

Armin Laschet (CDU): Der Ministerpräsident aus der deutschen Infektionshochburg Nordrhein-Westfalen erklärte, ganz im Einvernehmen mit Olaf Scholz, warum die Politik ihre Maßnahmen erst nach und nach eskalierte. Noch am Donnerstag hätten die als Berater geladenen Experten vom Robert-Koch-Institut und von der Charité nicht eindeutig für Schul- und Kitaschließungen plädiert. Angesichts dessen, dass nur eine Woche vergangen sei von den letzten Fußballspielen vor vollen Stadien bis zur weitgehenden Stilllegung des Landes habe die Politik doch sehr schnell gehandelt.

Cerstin Gammelin, Journalistin der „Süddeutschen Zeitung”: Die beiden kurzen Wortmeldungen der Wirtschaftsjournalistin machten nicht ganz klar, warum die „Anne Will“-Redaktion sie eingeladen hatte. Immerhin brachte sie das Stichwort der „Ausgangssperren“ in die Runde ein, die es in Frankreich und Österreich gebe - hierzulande aber nicht. Kämen sie, wären vielleicht die Grenzschließungen nicht nötig, weil ja gar keiner mehr einreisen wolle, wenn hier alles dicht sei.

Das wies Virologe Kekulé – ganz und gar nicht alarmistisch – zurück: Man habe zu spät auf Corona getestet und die Ausbreitung in Schulen und bei Massenveranstaltungen zu spät gestoppt, so Kekulé, aber: „Die ganze Republik jetzt in die Bude einzusperren, dafür gibt es keine medizinische Indikation.“ Wer draußen Abstand halte, solle doch bitte an die frische Luft gehen und mit der Familie im Park spazieren gehen dürfen, so der Experte.

Claudia Spies: Als Ärztliche Leiterin des CharitéCentrums für Intensivmedizin war sie die medizinische Praktikerin der Runde. Die Belastung der Kliniken sei jetzt sehr groß, aber noch handhabbar, sagt Spies, auch wegen der etwa dreifach besseren Kapazitäten in Deutschland im Vergleich zu Italien, wo man Menschen über 80, die Corona-Symptome haben, inzwischen zum Sterben nach Hause schickt. Wenn nun jedoch Tausende Corona-Patienten in die deutschen Kliniken kommen werden – womit man rechnen müsse – gelte es Ruhe zu bewahren und kreativ mit dem Mangel umzugehen: „Krankenhäuser müssen sich jetzt gut überlegen, wie sie das meistern wollen“, sagte Spies. Bei ihr kämen Rentner zurück und meldeten sich Medizinstudenten freiwillig, um zu helfen. Die Hoffnung sei groß: „Die Maßnahmen, die wir jetzt haben, könnten in sechs bis 10 Tagen diese steile Kurve reduzieren“, so die Ärztin, aber: „Das werden wir erst in 6 bis 10 Tagen sehen.“

Angela Inselkammer: Die Präsidentin des Bayerischen Hotel- und Gaststättenverbandes DEHOGA war als Vertreterin der besonders betroffenen Tourismusbranche zugleich die Stimme der Wirtschaft – und damit die Vertreterin der Gegenposition in der Runde. Wobei sie nicht gegen die getroffenen Maßnahmen sei, betonte sie: „Wir haben großes Verständnis dafür, dass die Lage jetzt schwierig ist, wir fühlen uns gut aufgehoben durch die Bundesregierung, und vor allem auch durch unseren Ministerpräsidenten in Bayern.“ Sie sei „extrem besorgt ..., dass die Hälfte dieser Betriebe nach der Krise nicht mehr existiert“, warnte sie und forderte, Finanzminister Scholz möge doch durch die Senkung der Mehrwertsteuer fürs Gastgewerbe dabei helfen, dass nicht die Hälfte der Betriebe kaputtgehen.

Das Duell des Abends bei „Anne Will“...

... entfiel. In weniger dramatischen Zeiten hätten Zuschauer und politische Beobachter wohl auf den rhetorischen Zweikampf zwischen den möglichen Kanzlerkandidaten Olaf Scholz (SPD) und Armin Laschet (CDU) geachtet. Wem würden sie eher die Führung des Landes zutrauen? Wem würden sie eher vertrauen? Doch der Parteienstreit ist derzeit auf ein Mindestmaß heruntergefahren – bei Anne Will fand er gar nicht statt.

Kein Wunder: Bundesregierung wie NRW-Landesregierung müssen sich derzeit beide fragen lassen, ob sie zu zögerlich reagiert und zum Beispiel Großveranstaltungen zu spät untersagt haben. Auch in der Runde, vom Virologen Kekulé und auch von Gastgeberin Anne Will: „Machen Sie sich da Vorwürfe, Herr Laschet?“

Nein, antwortet er, man habe stets schnell reagiert, sobald die Fakten der Wissenschaftler auf dem Tisch lagen. Damit kommt er an diesem Sonntag vorerst davon.

Später dürfte er noch oft gefragt werden, warum niemand den Mumm hatte, den Karneval in NRW abzusagen und so die rasante Corona-Ausbreitung in Deutschland zu verhindern.

Erste große Frage bei „Anne Will“: Reichen die Maßnahmen?

Drohen uns auch bald italienische Verhältnisse, fragt Anne Will. Die Antwort der Experten: Was die Überlastung des Gesundheitssystems angeht, kommt es auf das Tempo der Corona-Ausbreitung an.

Eine infizierte Person hat nach Berechnungen Kekulés in acht Wochen etwa 3000 andere Menschen infiziert, wenn sie nicht isoliert wurde. Deshalb seien die Schulschließungen dringend nötig.

Was den Umfang weiterer Schließungen angeht, beruhigen die Politiker einerseits: Alles, was man zur Versorgung braucht, „kann man auf keinen Fall schließen“, betont Scholz. Genannt werden Supermärkte, Apotheken und Banken. Ob man andererseits, wie in Italien, Frankreich und Österreich, weitergehen und alle anderen Läden schließen müsse, „wird nun sorgfältig diskutiert“, so der Vizekanzler – und zwar schon an diesem Montag mit den Ministerpräsidenten der Länder.

Laschet verteidigt, dass die Grenzen für Waren offen bleiben: Die Lieferketten dürften nun auf keinen Fall unterbrochen werden, um die Versorgung aufrecht zu erhalten.

Für eine weitergehende Ausgangssperre gebe es tatsächlich keine Argumente, beruhigt auch Experte Kekulé: „Die ganze Republik jetzt in die Bude einzusperren, dafür gibt es keine medizinische Indikation.“

Zweite große Frage bei „Anne Will“: Wie lange soll das so gehen?

Die ehrliche Antwort von Medizinierin Spies und Forscher Kekulé war an diesem Abend: Man weiß es nicht. Aber schon, weil man die Menschen nicht ewig einsperren könne, komme es nun auf die nächsten zwei, drei Wochen an. Das entspreche der Inkubationszeit von Corona. Wenn man so lange Neuansteckungen vermeide, könne man die Infizierten dann behandeln und die Krankheit allmählich besiegen.

In China habe es funktioniert, durch zwei bis drei Wochen Stillstand und den weiteren Anstieg von Infektionen zu vermeiden. Richtig sei deshalb, nun die Schulen bis nach Ostern zu schließen.

Was aber geschehen soll, wenn die Trendwende in dieser Zeit nicht geschafft werden, blieb offen – und damit ein ungutes Gefühl.

Der wichtigste Satz bei „Anne Will“ am 15. März

„Eine Ausgangssperre ist unnötig – so lange Sie Abstand halten und ansonsten so weit wie möglich soziale Kontakte meiden“, betonte Virologe Kekulé. Intensivmedizinerin Spies sagte, dass sie immer noch zu viele Menschen sehe, die das nicht ernst nähmen: „Zwei Meter Abstand halten, das ist jetzt das Wichtigste!“

Übrigens halte das die Runde bei Anne Will selbst gerade nicht ein. Will lachte peinlich berührt, und schlug bei der zweiten Kritik daran vor: „Komm, wir rücken auseinander!“ – und schuf damit das inoffizielle Motto für die nächsten Wochen in Deutschland.

„Anne Will“ am 15. März: Das Fazit

Als Aufruf, die soziale Trennung ernst zu nehmen, die die Politik dem Land verordnet, hat die Sendung sicherlich funktioniert. Wer zudem bisher den Eindruck hatte, die Politik habe weise und besonnen agiert, dürfte nach dieser Debatte endgültig zweifeln, ob die beherzten Schritte dieser Tage nicht eine Woche zu spät kommen. Die Aspekte rund um das Thema Corona – auch das zeigte „Anne Will“ an diesem Sonntag – bleiben zugleich so vielfältig, dass sich die Medien und speziell die Talkshows wohl noch lange damit beschäftigen können. Und wohl auch müssen.