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Bodentruppen erreichen Gaza-StadtLäuft Israels Großoffensive gegen die Hamas bereits?

Lesezeit 9 Minuten
Rauch steigt nach israelischem Luftangriff auf.

Rauch steigt nach einem israelischen Luftangriff in Gaza-Stadt auf.

Das Militär weitet den Kampf gegen die Hamas aus, ohne die große Offensive zu bestätigen. Dadurch sollen nicht nur die Geiseln geschützt werden.

„Wir werden nicht vergessen, wir werden nicht vergeben und wir werden nicht aufhören bis zum Sieg“, sagt der Soldat, während er seine Kameraden beim Hissen einer Israel-Flagge auf einem Häuserdach im Gazastreifen filmt. Es dürfte das erste Mal seit dem Abzug aus Gaza im Jahr 2005, dass in dem von der Hamas kontrollierten Gebiet die israelische Fahne weht. In der Nacht zu Montag hat das israelische Militär die Bodenoperationen in Gaza nach eigenen Angaben erneut ausgeweitet. Die Truppen hätten einen Kommandoposten mit mehr als 20 Terroristen angegriffen sowie weitere Hamas-Kämpfer in Zivilgebäuden und geheimen Tunneln.

Mehrmals sind in den vergangenen Tagen Panzer und Soldaten der Bodentruppen in den Gazastreifen vorgedrungen und haben kleinere Offensive gegen die Hamas-Terroristen begonnen. Von der israelischen Armee veröffentlichte Aufnahmen zeigen, wie Panzer über die Grenze in den Gazastreifen rollen, Schüsse abgeben und Gebäude explodieren. „Zahlreiche Terroristen, terroristische Infrastruktur und Abschussrampen für Raketen“ habe man angegriffen, teilt das Militär mit. Von verschiedenen Richtungen greifen die israelischen Einheiten an. Im Norden des Gazastreifens gibt es Kämpfe bei Beit Hanoun und Jabalia, aber auch in der Mitte des schmalen Streifens und an der Küste stoßen Truppen mit Panzern vor.

Risiko eines Flächenbrandes reduzieren

Der Beginn der großangelegten Bodenoffensive wurde offiziell noch nicht bekannt gegeben und wird er vermutlich auch nicht mehr. Denn das Vorgehen der israelischen Armee deutet darauf hin, schrittweise die Intensität der Offensive im Gazastreifen zu erhöhen. Das soll das Risiko eines Flächenbrandes reduzieren, sagt Steven Höfner von der Konrad Adenauer Stiftung, der das Büro für die Palästinensischen Gebiete in Ramallah leitet. „Wir sehen aber bereits, dass israelische Truppen bis an die Ausläufer von Gaza-Stadt vorgedrungen sind.“ Gaza-Stadt soll offenbar eingekesselt und belagert werden, auf beiden Seiten der Stadt sind bereits israelische Soldaten. Unbestätigten Angaben zufolge hat die Armee mehrere Kilometer erobert. Der Iran, die Hisbollah und andere Akteure hatten gedroht, bei einer großen Bodenoffensive in den Konflikt einzusteigen. Israel spricht daher nur von einer „neuen Phase“, hatte früher jedoch schon erklärt, dass die zweite Phase die Bodenoffensive sei.

Mit ihren ersten Vorstößen am Boden schaffe die israelische Armee derzeit günstige Voraussetzungen für größere Offensiven, so der Militärstratege Michel Wyss von der Militärakademie an der ETH Zürich. „Dazu gehören Aufklärung und Nachrichtenbeschaffung, Sicherstellung der eigenen Mobilität und des Zugangs zum Operationsraum oder auch die Bekämpfung spezifischer gegnerischer Ziele“, sagt Wyss, der zuvor mehrere Jahre am International Institute for Counter-Terrorism in Israel forschte.

Gleichzeitig besteht noch Hoffnung, dass einige Geiseln durch Verhandlungen aus den Fängen der Hamas-Terroristen befreit werden können. Die Chancen darauf sind bei Verhandlungen größer sein als bei einem gewaltsamen Befreiungsversuch. „Ein solches Unterfangen wäre sehr komplex und die Erfolgsaussichten ungewiss“, sagt Wyss dem RND. Zudem müsse man davon ausgehen, dass die Geiseln auf verschiedene Standorte verteilt sind, zum Teil auch in Tunneln. Wenn die Bodenoffensive richtig läuft und die Hamas in Bedrängnis gerät, ist auch das Leben der Geiseln in Gefahr. „Sie werden schnell an Wert verlieren und haben geringere Überlebenschancen, je verzweifelter die Hamas um ihr eigenes Überleben kämpft.“

Vorbereitung auf das Worst-Case-Szenario

Zudem ermöglicht das langsame Vorgehen des israelischen Militärs den USA auch die Vorbereitung auf das Worst-Case-Szenario, einen Flächenbrand in der Region. In mehreren Ländern haben die USA nach eigenen Angaben zusätzliche Luftverteidigungssysteme stationiert, darunter in Katar, Kuwait, Irak, Jordanien und Saudi-Arabien – „für den Fall einer horizontalen Eskalation des Konflikts und insbesondere zur Abwehr von Angriffen durch iranische Proxy-Kräfte“, wie Experte Wyss erklärt. Zivilisten im Norden des Gazastreifens sollen weiter die Möglichkeit zur Flucht bekommen, ehe die Offensive beginnt. Am Montag rief Israel erneut Zivilisten zur Evakuierung auf.

Militärexperte Wyss macht deutlich: „Zwar hat Israel die Zivilbevölkerung aufgefordert, in den Süden zu fliehen, aber wir dürfen uns nichts vormachen: Kollateralschäden und zivile Todesopfer sind beim Kampf im überbauten Gelände schlicht nicht zu vermeiden.“ Wenn die israelische Armee in Gaza-Stadt operiert, werde es dabei unvermeidlich zu Schäden und Zerstörungen kommen. Bei Gefechten in Städten werden typischerweise bis zu 90 Prozent der Gebäude zerstört.

„Die Hamas wird ihrerseits das urbane Gelände vorbereiten, zum Beispiel mit Sprengfallen, Hinterhalten, Sperrelementen zur Einschränkung der israelischen Mobilität“, so Wyss. Vermutlich werde die Hamas auch Drohnen, Panzerabwehrwaffen und Scharfschützen einsetzen.

Angst vor Besetzung ist groß

Dennoch werden sich viele Zivilisten für einen Verbleib im Norden des Gazastreifens entscheiden oder an der Flucht durch die Hamas gehindert. In ähnlichen Fällen blieben etwa 10 Prozent der Zivilisten zurück in den Städten – in Gaza-Stadt wären das 60.000 Zivilisten. Viele Palästinenser befürchten, dass Israel sie nicht an einen sicheren Ort bringen will, sondern sie stattdessen das Land verlassen sollen, das dann besetzt und schließlich besiedelt wird. Dies ist zwar nicht die erklärte Politik der israelischen Regierung, doch diese Sorgen gibt es trotzdem – angefacht von der Propaganda der Hamas.

Kleinere Angriffsoperationen führen meist zu weniger Todesopfern, insbesondere unter der Zivilbevölkerung, betont Israels früherer Ministerpräsident Naftali Bennett. Dies würde der Hamas nicht gefallen, da die Strategie der Terrororganisation darauf abziele, „dass wir möglichst schwere Kollateralschäden durch die Tötung von Kindern im Gazastreifen anrichten“.

Urbane Gebiete liefern Hamas mehr Schutz

Nicht nur wegen der vielen Zivilisten in den Städten war es von der Hamas taktisch geschickt, sich auf urbanes Gelände zurückzuziehen. In weniger dicht bebauten Gebieten wären die Terroristen auch leichter angreifbar und könnte nicht so einfach im Untergrund Schutz suchen. „Im überbauten Gelände und insbesondere auch dank den Tunnel kann die Hamas Vorteile der Israelis im Bereich der luftgestützten Überwachung und Aufklärung einschränken“, sagt Militärstratege Wyss. Israel kann also seinen technologischen Vorsprung gegenüber der Hamas nicht voll ausspielen. Zudem könne Israel im urbanen Gelände seine überlegene Feuerkraft nur begrenzt einsetzen, da es Kollateralschäden möglichst vermeiden will.

Im urbanen Gelände versuchen Verteidiger oft, ihre Angreifer in vorbereitete Tötungszonen zu zwingen. In der Schlacht von Mogadischu 1993, den Gefechten um Grosny 1994 und der Belagerung von Sadr City in Bagdad 2008 ließ man die Streitkräfte die Stadt zunächst betreten. Doch dann wurde der Weg hinter den Soldaten mit Reifen und Trümmern verbarrikadiert und sie wurden durch Straßen geschleust, die mit Sprengfallen übersät waren und in Hinterhalte gelockt.

Häuserkampf wird für Soldaten zu einer großen „psychischen Belastung“

Die israelische Armee muss sich mit einer erheblichen Anzahl Bodentruppen von Haus zu Haus und von Block zu Block kämpfen, jeden Keller, jedes Dach und jeden Abwasserkanal systematisch von feindlichen Kämpfern säubern und danach sichern. Kampfpioniere zerstören gegnerische Infrastruktur wie Tunnel, von See und aus der Luft erhalten die Bodentruppen Feuerunterstützung. Auch Drohnen spielen eine wichtige Rolle bei den Kämpfen im Gazastreifen, fügt Wyss hinzu, da sie den Einheiten am Boden ein Echtzeitlagebild vermitteln. „Der Häuserkampf wird für die Soldaten zu einer großen psychischen Belastung, da sie hinter jeder Ecke, hinter jeder Tür mit einem Gegner und auch ständig mit Angriffen aus dem Hinterhalt rechnen müssen“, so der Experte.

„Die Israelis trainieren solche Szenarien intensiv, die Herausforderungen bleiben dennoch immens“, sagt Wyss und verweist auf das israelische Urban Warfare Training Center, besser bekannt als „Mini-Gaza“. Denn die 600 Gebäude auf einem israelischen Militärstützpunkt simulieren die städtische Gegend des Gazastreifens. Achtstöckige Wohngebäude stehen neben Schulen, Geschäften und Marktplätzen. Sie sind so realistisch, dass hier bereits TV-Serien gedreht wurden. Es ist eines von vielen oft geheimen Trainingscentern, in denen sich Israels Militär seit Jahren auf eine Bodenoffensive vorbereitet. Das Training umfasst die Unterscheidung zwischen Terroristen und Zivilisten, Szenarien, in denen die Hamas Zivilisten als menschliche Schutzschilde benutzt und Gefechte in Tunneln.

„Tunnel werden das entscheidende Element der Kriegsstrategie der Hamas“

Die Tunnel verlaufen in bis zu 70 Metern Tiefe, verfügen über Stromgeneratoren, eine Belüftung, Wasserleitungen und Lebensmittelvorräte. Manche können nur mit Sauerstoffgerät und speziellen Nachtsichtbrillen betreten werden. „Die Tunnel ermöglichen den Kämpfern, sich frei und sicher unter den Gebäuden zu bewegen, selbst wenn Israel schwere Bomben über sie abwirft“, analysiert John Spencer, Lehrstuhlinhaber für Urban Warfare Studies am Modern War Institute des US-Militärs. Wenn ein entscheidender Angriff oder eine Umzingelung bevorstehe, würden Anführer und Kämpfer das Gefechtsfeld durch die Tunnel einfach verlassen.

„Tunnel werden das entscheidende Element der Guerillakriegsstrategie der Hamas sein“, so Spencer. „Die Hamas-Kämpfer bilden kleine Jäger- und Killer-Teams, die sich unter der Erde bewegen, plötzlich auftauchen und zuschlagen und schnell wieder in einem Tunnel verschwinden.“ Die Hamas nutze die Tunnel auch, um Raketen zu verstecken und zu transportieren. Viele der unteririschen Gänge seien mit Hunderten Kilo Sprengstoff ausgestattet, um die Gebäude darüber zum Einsturz zu bringen, sobald israelische Soldaten hineingelockt wurden.

Da die Hamas eine fundamentalistische, extrem religiöse Gruppe ist, befänden sich die Tunnelzugänge häufig in Moscheen, sagt der Geologe Joel Roskin von der Bar-Ilan University in Jerusalem dem RND. Doch auch Wohnhäuser und andere zivile Gebäude hätten geheime Eingänge zu den Tunneln. „Ich denke, dass einige der zerstörten Gebäude gezielt vom israelischen Militär angegriffen wurden, um die Tunnelöffnungen mit Trümmern zu versiegeln“, sagt der Experte. Wenn Soldaten ein Haus sichern aber den Tunnel nicht finden, könnten Hamas-Kämpfer Wochen später wieder in vermeintlich gesicherte Häuser eindringen.

Spezialeinheiten für das aufsprüren von Tunnel

Israels Militär hat Spezialeinheiten für das Aufspüren, die Säuberung und die Zerstörung der Tunnel aufgestellt und auch Hunde für den Einsatz im Untergrund ausgebildet. Spezielle Munition der israelischen Armee ist in der Lage, Tunnel in bis zu 30 Metern Tiefe zu zerstören und sechs Meter dicken Beton zu durchdringen. Roboter und andere unbemannte Fahrzeuge können Einsätze in den Tunnels zu einem gewissen Grad unterstützen, sagen Fachleute. „Die Zugänge zu den Tunneln können auch zugeschüttet und die Tunnel beispielsweise mit Wasser oder Gas geflutet werden“, sagt Experte Roskin. Ironischerweise habe die Hamas viele Baumaterialien für die Tunnel von Israel für den Bau ziviler Gebäude erhalten. „Jetzt zahlt Israel den Preis dafür, dass es zu nett war.“ Vieles über die Untergrundstruktur im Gazastreifen ist weiterhin unbekannt und Roskin rechnet damit, dass es in den nächsten Wochen noch zu Überraschungen kommen wird.

Einen Einfluss auf die Kämpfe könnte laut Beobachtern die Flut an Bildern und Videos aus dem Gazastreifen haben. Die Hamas kontrollieren weitgehend, welche Aufnahmen aus dem Gazastreifen dringen – und die sind meist sehr brutal und heben das menschliche Leid hervor. Die Terrorgruppe wolle vor allem die arabische Straße und das Westjordanland mobilisieren und dort die Emotionen schüren, sagt Experte Höfner. „Die Hamas setzt auf Emotionalität, weil das die Gräben vertieft und ein geschlossenes Vorgehen gegen Gewalt und Terrorismus verhindert.“ Das menschliche Leid der Kämpfe zu verbreiten sei Teil der Terror-Kriegsführung der Hamas.

Die Aufnahmen aus den Kämpfen könnten seiner Einschätzung nach in den nächsten Tagen zu einem großen Problem für die israelische Armee werden – wie schon bei früheren Konflikten. Beim Kampf um die westirakische Provinz Falludscha 2004 gingen Fotos und Videos von verwundeten Frauen und Kinder um die Welt und lösten einen internationalen Aufschrei aus, der die Bush-Regierung dazu zwang, die Kämpfe trotz erheblicher Fortschritte abzubrechen. „Wenn die Hamas überleben will, muss sie auf Zeit spielen“, sagt Höfner. Sie müsse darauf hoffen, dass eine Kriegsmüdigkeit einsetze und die israelische Gesellschaft, aber auch die internationale Gemeinschaft nicht nur einen humanitären Waffenstillstand fordern, sondern eine längere Pause der Kämpfe. Die ersten Forderungen danach gab es bereits.