Bundestagspräsidentin Bärbel Bas macht sich Sorgen über die Fälschungsmöglichkeiten mit künstlicher Intelligenz. Im Interview fordert sie eigene KI-Staatsanwaltschaften. Die Ampelkoalition warnt sie erneut vor zu häufigen Last-minute-Gesetzentwürfen.
Bärbel Bas im Interview„Der Ton ist härter geworden“
Frau Bas, erst die Corona-Pandemie, dann der Ukraine-Krieg – in den vergangenen Jahren haben wir alle im Ausnahmezustand gelebt. Was macht das mit dem Zusammenhalt der Gesellschaft?
Bärbel Bas: Ich sehe eine große Verunsicherung. Auch die klimagerechte Transformation der Industriegesellschaft steht im Raum. Viele Menschen haben Angst um ihre Arbeitsplätze, weil nicht klar ist, wie die Produktionsumstellung verläuft. Trotz der Krisen ist aber ein großer Zusammenhalt zu erkennen: Das sieht man etwa daran, wie engagiert die Menschen ukrainischen Geflüchteten helfen.
Kritik an politischen Beschlüssen kommt häufig sehr unversöhnlich daher. Ist das eine neue Entwicklung?
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Es gibt ohne Zweifel eine laute Minderheit, die geschickt Social-Media-Kanäle nutzt, deren Algorithmen Meinungsäußerungen potenzieren. Interessant ist, dass in Umfragen oft der Kurs der Regierung bestätigt wird, während man im Internet einen anderen Eindruck haben kann. Wie die schweigende Mehrheit denkt, versuche ich unter anderem mit Bürgerräten herauszufinden. Der erste von drei verabredeten Bürgerräten startet am 29. September. Der Deutsche Bundestag soll vor der Sommerpause die Einsetzung beschließen.
Welchen Einfluss sollen die Bürgerräte haben? Und was passiert, wenn sie zu einem Ergebnis kommen, das der Ampelkoalition nicht gefällt?
Die Bürgerräte sind kein Ersatzparlament, aber ihre Ergebnisse werden im Parlament aufgegriffen. Es kommen circa 160 Menschen zusammen, die nach dem Zufallsprinzip ausgewählt werden. Das kann Blockaden aufbrechen, es kann auch Verständnis geben für Schwierigkeiten der Entscheidungsfindung. Und es geht darum, ein Thema umfassend zu betrachten. Also nicht nur eine Ja-Nein-Frage zu beantworten. Das wird interessant. Auch die Parteien können etwas lernen. Es gibt schon manchmal ideologische Scheuklappen in unseren Debatten. Das Ziel ist, die Entfremdung von den demokratischen Institutionen zurückzufahren.
Verändern die sozialen Medien den Ton der Debatte?
Die sozialen Medien tragen zur Polarisierung bei. Der Ton ist härter geworden und die Angriffe gegen Politikerinnen und Politiker oder die Institutionen heftiger. Es gibt viel schneller Morddrohungen als früher. Insbesondere Frauen werden als Person angegriffen, oft geht es da ums Äußere. Mit Kritik hat das nichts mehr zu tun.
Kann man da irgendwas tun dagegen oder sind die sozialen Medien halt so, wie sie sind?
Man darf sich damit nicht abfinden. Gesetzgeberisch muss man sehen, wie die Plattformen in Verantwortung genommen werden können. Da gibt es Handlungsbedarf auf europäischer und internationaler Ebene. Wenn etwas in der analogen Welt als Straftat gilt, muss das auch in der digitalen Welt so sein. Wichtig ist, dass Betroffene Beleidigungen und Drohungen auch anzeigen. Es gibt Netzwerke wie HateAid, die dabei unterstützen.
Gibt es dafür ausreichende staatliche Strukturen?
In Brandenburg zum Beispiel kümmern sich Polizei und Staatsanwaltschaften gemeinsam um solche Fälle. Das ist vorbildlich. Künstliche Intelligenz schafft eine neue Herausforderung: Man kann Personen einfach in Pornos einbauen. Um solche Fakes zu erkennen und zu verfolgen, braucht es Beratungsstellen und in den Staatsanwaltschaften eigene Zuständigkeiten und Kooperationen mit den Ermittlungsbehörden.
In der Kommunalpolitik haben die zunehmenden Angriffe schon den einen oder anderen zum Aufhören bewegt.
Niemand darf abgeschreckt werden, in die Politik zu gehen. Einschüchterungsversuche dürfen keinen Erfolg haben. Auch Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker müssen besser geschützt werden, wenn es akut wird. Dazu gehört auch Personenschutz.
Auch Medien, ein konstitutiver Teil der Demokratie, werden zunehmend attackiert. Der Bundeskanzler spricht nicht von Lügenpresse, äußert sich aber öffentlich häufig aggressiv gegenüber Medien. Wie bewerten Sie das?
Medien haben in der Demokratie einen Auftrag und eine Verantwortung. Es ist wichtig, dass Politik dargestellt und kritisch hinterfragt wird. Wir müssen aufpassen, dass die Medien, die diese Aufgabe wahrnehmen, nicht angegriffen oder diskreditiert werden. Dass Angriffe auf die Presse- und Meinungsfreiheit demokratiegefährdend sein können, sieht man in anderen Ländern. Auf der anderen Seite gibt es bei manchen Medien die Tendenz, immer nur das aufzugreifen, was gerade im Netz Konjunktur hat – also einfach auf die aktuelle Welle aufzuspringen. Es ist die Verantwortung der Journalistinnen und Journalisten, sich um gründliche Recherche zu kümmern. Berechtigte Kritik müssen alle Seiten aushalten.
Apropos aushalten: Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki formuliert oft sehr zugespitzt. Kürzlich hat er etwa Wirtschaftsminister Robert Habeck mit Russlands Präsident Wladimir Putin verglichen. Er hat sich entschuldigt, findet aber auch, dass auf einen groben Klotz manchmal auch ein grober Keil gehöre. Ist das ein angemessenes Amtsverständnis?
Ich bekomme auch zu diesem Thema sehr viele Bürgerbriefe. Aber ich bin eben nicht die Vorgesetzte der Vizepräsidentinnen und Vizepräsidenten. Wolfgang Kubicki hat sich für den Vergleich entschuldigt, und das war richtig. Klar ist: Äußern sich Mitglieder des Bundestagspräsidiums öffentlich, werden sie nicht als einfache Parteimitglieder oder Abgeordnete wahrgenommen, sondern immer in ihrer herausgehobenen Rolle. Die Menschen trennen das nicht – das muss man wissen und beachten.
Eine wichtige Frage ist der Umgang der Regierung mit dem Bundestag: Sie haben die Regierung schon einmal aufgefordert, Gesetzentwürfe nicht in letzter Minute und in verkürzten Verfahren vorzulegen. Wie ist der Stand?
Das Thema liegt mir wirklich im Magen. Ich habe daher bewusst einen frühen Appell an die Ampel gerichtet. Die Abgeordneten müssen ausreichend Zeit haben, Gesetzentwürfe zu beraten, weil man ein Thema sonst gar nicht durchdringen und gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern erklären kann. Sachverständige können auch nicht innerhalb von ein paar Stunden eine seriöse umfangreiche Stellungnahme abgeben. In Krisenzeiten muss man manchmal schnell entscheiden. Mein Eindruck ist aber, dass man sich während der Pandemie an diesen Rhythmus gewöhnt hat und verkürzte Verfahren und Last-minute-Entwürfe als den Normalfall ansieht. Ein bisschen besser ist es nach meinem Einwurf bereits geworden, aber die Regierung und die Ampelfraktionen müssen sich das wirklich zu Herzen nehmen. Ich werde darauf sehr genau achten.
Über das Wahlrecht wurde mehrere Jahre lang gestritten. Jetzt gibt es einen Beschluss, den die Opposition nicht mitträgt. Die Zahl der Parlamentssitze wurde auf 630 begrenzt. Und in letzter Minute wurde noch die sogenannte Grundmandatsklausel gestrichen – wonach eine Partei auch bei Verfehlen der Fünf-Prozent-Hürde in den Bundestag kommt, wenn sie mindestens drei Direktmandate gewinnt. Das könnte vor allem zulasten von Linkspartei und CSU gehen. Ist das gerecht?
Mir ist bei der sehr aufgeregten Debatte ein bisschen das Positive abhandengekommen. Wir haben es geschafft, die Zahl der Abgeordneten deutlich abzusenken und klar auf 630 Abgeordnete zu begrenzen. In diesen Zeiten ist das ein wichtiges Zeichen gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern, dass wir auch bei uns selbst zu Einschnitten bereit und fähig sind. Es ist auch deshalb ein großer und wichtiger Schritt, weil ein immer weiter wachsender Bundestag irgendwann nicht mehr arbeitsfähig ist.
Wahlkreisabgeordnete sollen künftig in den Bundestag einziehen, wenn das Zweitstimmenergebnis ihrer Partei ausreicht. Das halten viele Juristinnen und Juristen für einen gangbaren Weg, denn das Problem wird an der Wurzel gepackt: Überhang- und Ausgleichsmandate werden verhindert, und damit auch ein unkontrolliertes Anwachsen der Mitgliederzahl des Deutschen Bundestages.
Bei der Abschaffung der Grundmandatsklausel geht es nicht darum, einzelne Parteien auszuschließen. Die Grundmandatsklausel soll aus systematischen Gründen abgeschafft werden, weil sie in das künftige Wahlrechtssystem noch weniger passt als in das bisherige.
Haben Sie nicht die Befürchtung, dass die Union das Wahlrecht wieder ändert, sobald sie mal wieder regiert? Dann würde es irgendwann unübersichtlich.
Es ist nicht auszuschließen, dass am Wahlrecht immer wieder mal etwas verändert wird. Aber ich denke nicht, dass der jetzige Beschluss wesentlich verändert wird. Mir fehlt die Fantasie, mit welcher Mehrheit das zustande kommen sollte. Eine so große und einschneidende Reform wird es nicht in jeder Wahlperiode geben.
Die CSU könnte wie bisher zwar fast alle Direktmandate in Bayern gewinnen, wäre aber im Bundestag nicht mehr vertreten, wenn sie bei den Zweitstimmen bundesweit unter 5 Prozent rutscht. Ist das kein Problem?
Wir haben ein Verhältniswahlrecht. Da wird auf die Zweitstimme abgestellt, und die ist ausschlaggebend für die Zusammensetzung des Bundestages. Direktkandidatinnen und Direktkandidaten gewinnen heute in der Regel mit 40 Prozent oder sogar deutlich weniger ihren Wahlkreis. Dass dies auch Auswirkungen auf die Grundmandatsklausel hat, finde ich nachvollziehbar. Bayern wird auch von den Abgeordneten repräsentiert, die über die Listen in den Bundestag kommen.
Unter anderem Ex-Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth fordert, über die Wahlrechtsreform auch den Frauenanteil im Bundestag zu erhöhen. Wie stehen die Chancen?
Wichtig war, dass wir die Verkleinerung des Bundestages rechtzeitig beschlossen haben. Alle anderen Themen, auch die Parität, liegen noch in der Wahlrechtskommission, die ihren Vorschlag spätestens Ende Juni vorlegen wird. Ohne den Empfehlungen vorgreifen zu wollen: Ich persönlich wünsche mir schon, dass wir absehbar einen verfassungsrechtlich konformen Weg zur Erhöhung des Frauenanteils finden. Bei 34,9 Prozent Frauen kann es wirklich nicht bleiben.
Kann man Parteien überhaupt vorschreiben, wie sie ihre Kandidaten aufstellen?
Andere Länder schaffen das ja auch. Im Grundgesetz steht, dass wir Hindernisse für die Gleichstellung beseitigen müssen. Das ist ein klarer Auftrag. Und es ist offenkundig: Wenn Parteien ihre Wahllisten freiwillig im Reißverschlussverfahren abwechselnd mit Frauen und Männern besetzen, ist der Frauenanteil im Parlament deutlich höher.
Wären finanzielle Anreize möglich, also die Koppelung der Parteienfinanzierung an Parität?
Ob das möglich ist, weiß ich nicht. Es klingt erst mal interessant. Wichtig ist vor allem auch: Die Strukturen müssen so verändert werden, dass sich Familie und Beruf für Politikerinnen und Politiker sowie deren Teams besser vereinbaren lassen. Man muss ein Mandat auch mit Kind gut ausfüllen können. Dazu gehört, dass Sitzungen nicht ständig bis in die Nacht dauern. Das habe ich schon mit den Parlamentarischen Geschäftsführerinnen und Geschäftsführern der Fraktionen besprochen, die die Tagesordnungen bestimmen. In den vergangenen Sitzungen ist es immerhin nicht mehr bis 2 Uhr nachts gegangen. Aber es geht sicher auch noch kürzer. Außerdem geht es um Räumlichkeiten: Man muss sein Kind, wenn man keine Betreuung hat, auch mal mitnehmen können. Am Rande des Plenarsaals braucht es mehr Möglichkeiten, um Kinder wickeln und stillen zu können. Und wir arbeiten gerade an einer Dienstvereinbarung, um den Anspruch auf Homeoffice festzuschreiben. Es gibt natürlich Bereiche, für die Homeoffice nicht infrage kommt. Da muss man aufpassen, dass es nicht zu Ungerechtigkeiten kommt.
Der Bundestag muss kinderfreundlicher werden?
Der Bundestag ist schon ganz gut aufgestellt, aber er kann durchaus noch kinderfreundlicher werden.
Gibt es in der Bundestagsverwaltung schon Parität?
Wir sind auf einem guten Weg. Vier von sechs Abteilungen werden von Frauen geleitet. Bei den Unterabteilungen arbeiten wir an der Parität. Bis zum Ende der Wahlperiode werden wir deutlich über dem heutigen Stand liegen. Es gibt jetzt schon manchmal Unmut bei Männern, die sich unterrepräsentiert fühlen. (rnd)