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Corona-Talk bei „Illner“Giffey: „Auch ältere Menschen sind mündige Bürger“

Lesezeit 7 Minuten
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Franziska Giffey (SPD), Bundesfamilienministerin

Berlin – Wenn sich das Coronavirus erst einmal in einem Alten- oder Pflegeheim ausbreitet, ist es meist zu spät; und oft mit besonders fatalen Konsequenzen verbunden. Erstens zählen die Bewohner solcher Einrichtungen zur Risikogruppe und sind daher noch einmal mehr gefährdet, zweitens fehlt es dort in vielen Fällen an Personal, Schutzkleidung und Testkapazitäten.

Im niedersächsischen Wolfsburg beispielsweise sind vor etwas mehr als einer Woche mehr als 20 Menschen in einem Heim für Demenzkranke infolge einer Corona-Infektion gestorben, in Würzburg wenige Tage zuvor ebenfalls viele Senioren. Deshalb lässt sich ein leichter Schluss ziehen: Pflege- und Altenheime sind zu Pandemie-Hotspots geworden.

Die Runde bei Maybrit Illner widmete sich der Thematik am Sonntagabend in einem “Corona spezial”. Der Talk drehte sich um die Fragen, was mit den Risikogruppen in Zukunft passiert, ob für sie die strengen Maßnahmen weiter gelten, wenn sie für andere Gruppen gelockert werden - oder ob gar eine Verschärfung droht.

Maybrit Illner: Gäste am 5. April

Franziska Giffey: Die Bundesfamilien- und seniorenministerin sagt zu den strengen Regeln in Alten- und Pflegeheimen: “Es dient dazu, gerade an Orten, wo die Gefährdungslage besonders groß ist, zu versuchen, Gefahren einzugrenzen - so lange, wie es nötig ist.”

Robert Habeck: Der Parteivorsitzende der Grünen erläutert: “Das Selbstbestimmungsrecht der älteren Menschen gilt über den Shutdown hinaus. Die Abwägungsdebatte beginnt jetzt erst.”

Klaus Reinhardt: Der Präsident der Bundesärztekammer betont: “Die Wahrscheinlichkeit, zu erkranken, ist bei Älteren höher als bei jungen Menschen. Einen besonderen Schutz brauchen die Menschen schon.”

Hendrik Streeck: Der Direktor des Instituts für Virologie an der Universität Bonn sagt: “Es macht Hoffnung, eine Verlangsamung der Verdoppelungszeit zu sehen. Aber man muss das erst einmal ein paar Tage beobachten.”

Eva Ohlerth: Die Altenpflegerin und Buchautorin erläutert: “Die Zustände mit dem Besuchsverbot finde ich für demente Menschen eine absolute Katastrophe. Wir haben die Situation kommen sehen.”

Ursula Hönigs: Die Leiterin des Hermann-Josef-Altenheims in Erkelenz ist auch Vorstandsmitglied im Deutschen Berufsverband für Altenpflege (DBVA). Sie sagt: “Wir haben bei uns einen betroffenen Bewohner. Aber wir leben im Kreis Heinsberg auch schon seit fünfeinhalb Wochen in einem Ausnahmezustand.”

Lockerung der Kontaktsperre

Natürlich nahm auch bei “Illner” die zuletzt schon so häufig gestellte Frage nach der Exit-Strategie einen gebührenden Raum ein. Grünen-Chef Robert Habeck sagte, die Frage nach dem Wie sei eine “dringende Diskussion”. Doch vom Vorschlag der sogenannten Umkehrisolation - der neue Fachbegriff für die Strategie, nur noch angehörige der Risikogruppen zu isolieren - “halte ich gar nichts”, betonte er.

Die Frage der Abwägung werde noch eine ganz schwere, räumte Habeck gleichwohl ein. “Aber die Pandemie durch Wegsperren zu lösen, geht in die falsche Richtung.” Man dürfe nicht “alles mit dem Holzhammer platthauen”, gab er etwas plump zu bedenken, stellte dann aber verbal galant dar: Man müsse mit “dem Florett kommen und gucken, wo das Virus” sei. Das bedeutet: die älteren Menschen schützen, sie aber nicht wegsperren. Ein Gedanke, den wohl ein Großteil der Deutschen unterstützen.

Auch Bundesärztekammer-Präsident Klaus Reinhardt entpuppte sich als strikter Gegner der Umkehrisolation. “Das finde ich falsch”, sagte er. Ältere dürfe man nicht isolieren, man müsse sie vielmehr “behüten und beschützen”. Der Umgang bleibe für sie kompliziert, aber das könne man lösen. Einen wirklichen Vorschlag nannte er nicht.

Bundesfamilien- und seniorenministerin Franziska Giffey (SPD) argumentierte da schon deutlich präziser. “Eine Zwei-Klassen-Gesellschaft kann nicht funktionieren”, betonte sie. Auch ältere Menschen seien mündige Bürger. Ihr Beispiel überzeugte: “Es gibt fitte 70-Jährige, die noch viel Sport treiben, und es gibt 50-Jährige, die haben viele gesundheitliche Probleme. Wo will man da die Grenze ziehen?”, sagte Giffey zurecht.

“Man muss gucken, dass Gefährdete einen besonderen Schutz erfahren, aber wir können keine Pauschalantwort geben, dass Ältere per se nicht raus dürfen”, ergänzte sie. Ein nachvollziehbarer Punkt, über den die politischen Verantwortungsträger bald entscheiden müssen.

Pflegebedürftige zu Hause betreuen

Moderatorin Maybrit Illner stellte die Frage in den Raum, ob man angesichts der Problematik in Alten- und Pflegeheimen die Angehörigen nicht besser nach Hause holen und dort betreuen sollte. Pflegerin Eva Ohlerth bejahte diese Idee. Zwar sagte sie: “Es gibt viele gute Heime”, ergänzte dann allerdings, es gebe “auch sehr problematische”.

“Wenn ich dort meine Mutter hätte, würde ich sie auf jeden Fall nach Hause nehmen”, betonte Ohlerth. Der Grund ist kein unbekannter. “In solchen Heimen gibt es zu wenige Fachkräfte und Menschen, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind.”

Bundesärztekammer-Präsident Reinhardt glaubte indes, “dass die Schwierigkeiten in der Pflege sogar noch zunehmen werden” - und das ist keineswegs abwegig. “Alles bleibt am knappen Pflegepersonal hängen”, sagte er, schob aber sogleich ein Lob hinterher: “Trotzdem machen sie das ziemlich gut.”

Dann stieß er einen Punkt an, der ein wenig unter den Tisch fiel. Alten- und Pflegeheime sind nämlich oft auch ein vergleichsweise sicherer Hort, und nicht nur Pandemie-Hotspots. Das sei ein Grund dafür, dass alte Menschen in solchen Situationen eben doch nicht so oft vom Virus heimgesucht würden. “Das müssen wir nutzen.”

Das Beispiel Heinsberg

Der erste großflächige Ausbruch des Coronavirus in Deutschland erfolgte im Kreis Heinsberg - etwa zwei Wochen, bevor der Erreger das öffentliche Leben bundesweit diktierte. Deshalb sprechen Experten von einem Vorsprung, den der Kreis hat. Den gilt es zu nutzen. “Wir hatten Glück, schnell gute Strukturen aufbauen zu können”, sagte Ursula Hönigs, die Leiterin eines Altenheims in Erkelenz.

“Wir haben schnell Schulen und Kitas geschlossen”, ergänzte Hönigs, “und in den fünfeinhalb Wochen ganz gute Strategien entwickeln können.” Die Wucht treffe Heimbewohner, Angehörige und Mitarbeiter dennoch. “Skypen ist schön”, erzählte Hönigs, “aber viele Bewohner sind schlichtweg mit diesen Methoden nicht zu erreichen.”

Der Virologe Hendrik Streeck, der nur für wenige Augenblicke zugeschaltet wurde, versucht anhand einer Studie im Kreis Heinsberg Rückschlüsse auf die Verbreitung des Virus in ganz Deutschland zu ziehen. Mit dem eigentlichen Thema der Sendung hatte der Beitrag zwar wenig gemein, dennoch waren seine Beiträge noch einmal ein netter Randaspekt.

“Menschen brauchen Fakten”, sagte Streeck. “Und wir haben die Chance, in diesem Miniatur-Deutschland zu verstehen, wie hoch die Dunkelziffer ist. Wir können sehen, ob bestimmte Maßnahmen funktioniert haben, und wir können die Ausbreitungswege besser verstehen.”

Besuche in Alten- und Pflegeheimen

Alte Menschen in den Heimen zu besuchen, ist in den meisten Bundesländern inzwischen verboten. Virologe Streeck brachte den Plan ein, durch die Entwicklung von Corona-Schnelltests diese Maßnahme zumindest wieder zurückfahren zu können. Altenpflegerin Ohlerth zeigte sich hellauf begeistert. “Das würde sehr helfen”, sagte sie. “Eine ganz tolle Lösung.” Nur: Wann diese Schnelltests auf den Markt kommen, ist ungewiss.

Grünen-Chef Habeck jedenfalls plädierte dafür, die Möglichkeiten der Technik zu nutzen. Man könne auch Leute, die 80 Jahre alt sind, mit einem Mobiltelefon kontaktieren, sagte Habeck. Auch wenn ihm bewusst ist: “Das ersetzt natürlich nicht den direkten körperlichen Kontakt oder im extremen Fall das Abschiednehmen.”

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Doch es gibt ja auch noch Besuchskräfte, deren Wert in Ohlterths Augen ambivalent ist. “Besuchskräfte nehmen den Pflegern ihre Arbeit natürlich nicht ab, aber sie können die Einsamkeit der alten Menschen lindern”, sagte sie - und erwähnte an anderer Stelle: “Leute sterben nicht nur an Corona, sondern auch an schlechter Pflege.” Worte, die drastisch klingen, wohl aber in manchen Fällen nicht unwahr sein könnten.

Illner am Sonntag: Das Fazit

Über eine Strategie zu sprechen, ob und welche Personengruppen weiter isoliert bleiben, oder welche zurück ins öffentliche Leben entlassen werden, ist freilich eine schwere Aufgabe. Die Runde bei Illner lieferte zwar keine wesentlich neuen Erkenntnisse, doch das ist auch nahezu unmöglich. Sie beschäftigte sich aber immerhin intensiv mit der Frage und schuf noch einmal ein neues Bewusstsein für die Thematik. Eine Entscheidung muss letztlich die Politik treffen.