In vielen Regionen Deutschlands sind diverse Arzneimittel knapp, darunter Fiebersäfte und Antibiotika für Kinder. Wie es dazu kommen konnte und welche Lösungsvorschläge auf dem Tisch liegen.
Fiebersaft, PenicillinDas Problem der Medikamentenknappheit – und wie es gelöst werden könnte
Wer derzeit in Deutschland eine Apotheke geht, fühlt sich an den Besuch eines Supermarktes kurz nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie erinnert: viele leere Regale. Der Inhaber einer Berliner Apotheke hat dort sogar kleine Schilder platziert: „Derzeit nicht erhältlich - sprechen Sie uns wegen der Gründe an.“
Eine der Ursachen liegt auf der Hand: Es grassieren gleichzeitig mehrere Infektionswellen, von der schweren Grippe über das Respiratorische Synzytial-Virus bis zu Corona ist so gut wie alles dabei. Aber wie kann es sein, dass es deswegen in einem Land mit einer ansonsten vorbildlich durchorganisierten Medikamentenversorgung zu derart massiven Engpässen kommt?
Fragen und Antworten zur aktuellen Lage auf dem Arzneimittelmarkt, die Gründe für die Mangellage - und welche Ideen es zur Lösung des Problems gibt:
Welche Medikamente sind knapp?
Auf 13 Seiten hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) alle Medikamente aufgelistet, bei denen es Lieferengpässe gibt. Demnach sind aktuell mehr als 300 Arzneimittel knapp. Besonders prekär ist die Lage bei Fiebersäften für Kinder, bei Blutdruck- und Cholesterinsenkern sowie bei Antibiotika wie Penicillin. Auch das Mittel Amoxicillin gegen Ohrentzündungen bei Kindern ist jüngst knapp geworden. Ein Mangel herrscht zudem bei Schmerzmitteln wie Fentanyl und Palladon sowie bei Mitteln zur Behandlung von Herzrhythmusstörungen.
Das heißt aber nicht, dass es bei allen Präparaten auch eine Versorgungslücke gibt: Bei manchen der aufgelisteten Arzneimitteln sind andere Packungsgrößen verfügbar oder Alternativen, die jedoch wegen Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten nicht für jeden Patienten in Frage kommen. Der Hausärzteverband spricht von einer „angespannten Lage“.
„Die Lieferengpässe sind in der hausärztlichen Versorgung sehr deutlich spürbar“, sagt Vizeverbandschefin Nicola Buhlinger-Göpfarth dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Das Problem ist nicht neu, das Ausmaß schon.“ Viele Medikamente könnten zwar im Zweifel durch ein anderes Präparat ersetzt werden.
„Das erfordert in unseren Praxen einen enormen zusätzlichen Aufklärungsaufwand“, sagt sie. So hätten die Patientinnen und Patienten viele Fragen, wenn auf einmal das altbewährte Medikament ausgetauscht werden muss. „Gerade jetzt, wo die Hausarztpraxen aufgrund der starken Infektionswellen brechend voll sind, ist das eine zusätzliche zeitliche Belastung, die nur bedingt leistbar ist.“
Warum kommt es gerade bei Fiebersäften zu Engpässen?
Im Frühjahr hatte ein größerer Hersteller von flüssigen Paracetamol-Zubereitungen die Produktion mangels Wirtschaftlichkeit eingestellt. Seitdem gibt es im deutschen Markt mit Ratiopharm nur noch einen Hauptanbieter dieses Mittels. Er ist offensichtlich nicht in der Lage, den durch die massiven Infektionswellen stark gestiegenen Bedarf zu decken. Der Mangel hat sich daher auch auf ibuprofenhaltige Säfte ausgeweitet, die als Alternative infrage kommen.
Die Verfügbarkeit ist regional allerdings unterschiedlich, was das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte mit einer Verteilungsproblematik erklärt: So hätten sich manche Apotheken und Großhändler große Vorräte angelegt und damit zusätzlich für Knappheit gesorgt. Der Beirat des Bundesinstituts bittet Apotheken und Großhändlern deswegen dringend, keine Vorräte über den Bedarf einer Woche hinaus anzulegen.
Wie sieht es beim Brustkrebs-Medikament Tamoxifen aus, das ebenfalls lange als knapp galt?
Mittlerweile besser. Anfang 2022 war es beim Präparat Tamoxifen ebenfalls zu Lieferengpässen gekommen. Das war besonders problematisch, weil es keine Alternative für das Mittel gibt. Mindestens 100.000 Brustkrebs-Patientinnen waren betroffen. Auch bei diesem Präparat hatten zuvor einige Hersteller die Produktion eingestellt, mit der Begründung, die Herstellung sei nicht mehr profitabel. Mittlerweile ist das Arzneimittel aber wieder verfügbar: Es wurde ein Bevorratungsverbot angeordnet und den Apotheken empfohlen, nur kleinere Packungen abzugeben.
Auch der Import aus anderen Ländern wurde erlaubt. Es gibt jedoch Befürchtungen, dass das Problem wiederkommen könnte, weil nur wenige Hersteller das Medikament produzieren. Falls ein Unternehmen die Herstellung aufgibt, droht eine erneute Mangellage. Hier gebe es nach wie keine Alternative, warnte Buhlinger-Göpfarth vom Hausärzteverband. „Dass sich die Patientinnen in einer so ernsten und belastenden Krankheitsphase nicht darauf verlassen können, dass sie die notwendigen Medikamente erhalten, sollte zu einem Umdenken führen.“
Die Pharmaindustrie wirft den gesetzlichen Krankenkassen vor, mit sogenannten Rabattverträgen Schuld an der Misere zu haben. Worum geht es bei den Rabattverträgen?
Medikamente, bei den der Patentschutz abgelaufen ist, werden in der Regel von zahlreichen Produzenten hergestellt. Dadurch sinkt der Preis deutlich. Um noch mehr zu sparen, können die Kassen die Versorgung ihrer Versicherten mit diesen Nachahmerprodukten, die sogenannten Generika, ausschreiben. Wer das preiswerteste Angebot abgibt, gewinnt.
Dabei gibt es zwei Varianten der Rabattverträge, die in der Regel über zwei Jahre laufen: Die Kasse verteilt den Auftrag auf mehrere Anbieter, oder sie schließt mit einem einzigen Hersteller einen Exklusivvertrag. Ein Versicherter dieser Kasse bekommt dann in der Apotheke stets das Produkt dieses Unternehmens. Durch diese Rabattverträge sparen die Kassen jährlich rund fünf Milliarden Euro.
Sind die Rabattverträge tatsächlich mitverantwortlich für die Lieferengpässe?
Die Hersteller sagen: Ja. Durch den Preisdruck sei die Produktion zunehmend unrentabel, weshalb Produzenten aufgäben. „Immer mehr Hersteller müssen aus der Versorgung aussteigen, weil die Produktion zum Verlustgeschäft wird. Engpässe sind die Folge“, argumentiert der Geschäftsführer des Branchenverbandes Progenerika, Bork Bretthauer, in einer Mitteilung. Tatsache ist, dass die Zahl der Anbieter, die bestimmte Generika herstellen, sinkt: Vor zwölf Jahren gab es noch elf Anbieter flüssiger Paracetamol-Zubereitungen.
Auch bei vielen Vorprodukten gibt es nur noch wenige Hersteller in China oder Indien - betroffen sind unter anderem Antibiotika. Produktionsstörungen und Transportprobleme schon bei einem Hersteller führen dann schnell zu massiven Versorgungsproblemen. Die Kassen weisen die Darstellung der Pharmaindustrie allerdings zurück. Der Preisdruck entstehe allein durch das Profitstreben der Konzerne und nicht durch Rabattverträge, wird argumentiert. Die Wahrheit dürfte - wie so oft – irgendwo in der Mitte liegen.
Warum ist die Marktlage insbesondere bei Kinderarzneimitteln so kritisch?
Nach Darstellung des Branchenverbandes Progenerika ist der Kostendruck bei Medikamenten für Kinder besonders groß - auch unabhängig von eventuellen Rabattverträgen. Denn es gibt bei vielen Medikamenten ein weiteres Instrument der Kostenregulierung: die sogenannten Festbeträge. Das sind die Höchstpreise, die die Kassen den Herstellern erstatten. Sie richten sich weitgehend nach der Menge des Wirkstoffes. Der ist bei Medikamenten für Jüngere vergleichsweise gering. Gleichzeitig sind Säfte und Zäpfchen jedoch laut Progenerika teurer in der Herstellung als zum Beispiel Tabletten für Erwachsene.
Pro Flasche Paracetamol-Saft erhält ein Hersteller gerade einmal 1,36 Euro. Gleichzeitig verweisen die Produzenten auf deutlich steigende Kosten für den Einkauf des Wirkstoffs. Von katastrophalen Zuständen spricht der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte. „Die Arzneimittelknappheit ist eine Katastrophe für Kinder im Alter von eins bis zwölf Jahren“, sagt Bundespressesprecher Jakob Maske dem RND. Gegen Fieber und Schmerzen könnten Ärzte statt den Säften nicht einfach Tabletten geben, weil die richtige Dosierung nötig sei.
Haben auch die Corona-Pandemie und der russische Krieg in der Ukraine etwas mit der Mangellage zu tun?
Ja. So weist die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) darauf hin, dass die Corona-Pandemie ab März 2020 und der russische Krieg in der Ukraine zu einer erhöhten Nachfrage bei Medikamenten geführt habe. Betroffen seien Schmerz-, Fieber- und Narkosemittel sowie Jod-Tabletten, die seither vermehrt benötigt würden. Gleichzeitig würden die globalen Lieferketten durch die Krisen beeinträchtigt.
Was plant Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) zur Lösung des Problems - und wie reagieren Opp?
Lauterbach räumte kürzlich ein: „Wir haben bei der Arzneimittelversorgung mit Generika ähnlich wie im Krankenhaus die Ökonomie zu weit getrieben.“ Denn die Kassen müssten bei einer Ausschreibung für Rabattverträge immer dem billigsten Anbieter den Zuschlag geben, selbst wenn dann später Lieferengpässe zu befürchten seien. Konkret will er kurzfristig durch eine gesetzliche Neuregelung erreichen, dass nicht mehr allein der Preis, sondern auch die Liefersicherheit ein Kriterium bei Rabattverträgen wird. Zudem sollen die Exklusivverträge auf den Prüfstand kommen.
Mittelfristig will er sich zusammen mit Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) für eine Änderung des europäischen Vergaberechtes einsetzen, um eine Diversifizierung der Lieferketten und eine Arzneimittelproduktion in Europa zu fördern. Eckpunkte der Reform sollen noch vor Weihnachten vorgelegt werden. Auch die Unionsbundestagsfraktion pocht darauf, Produktionsstätten vermehrt in den europäischen Staaten anzusiedeln. „Wir brauchen eine Renaissance der Arzneimittelproduktion in Europa“, sagt deren gesundheitspolitischer Sprecher Tino Sorge (CDU) dem RND.
Welche Ideen gibt es noch?
Die Kinder- und Jugendärzte brachte eine vom Bund organisierte Beschaffungsaktion ins Spiel, um schnell an Fiebersaft, bestimmte Antibiotika und andere selten gewordene Präparate für kleine Kinder zu kommen. Verbandspräsident Thomas Fischbach sagte der „Rheinischen Post“, die von Lauterbach vorgestellten Pläne für Gesetzesänderungen kämen zu spät.
Die Union schlägt darüber hinaus einen Dialog zwischen der Bundesregierung und den Herstellern vor. „In der letzten Legislatur gab es mit dem Pharmadialog der Bundesregierung ein etabliertes Forum zwischen Politik und Herstellern, um auch über akute Lieferengpässe zu sprechen“, sagte CDU-Politiker Sorge. „Dieses Forum muss dringend wieder aktiviert werden.“