Demonstrationen im Iran„Der Antrieb dieser Protestwelle ist der Mut der Frauen“
Teheran – Es sind historische Proteste, die seit mehr als einer Woche den Iran und seine rigide Geschlechterordnung erschüttern. Videos zeigen junge Frauen, die vor den Augen der Sittenpolizei ihre Hidschabs verbrennen, während die umstehende Menge jubelt. Wütende Demonstrantinnen und Demonstranten skandieren Parolen wie „Frauen, Leben, Freiheit“. Auf den Straßen riskieren Tausende ihr Leben, um sich gegen das iranische Regime zu stellen.
Auslöser dieser Protestwelle ist die mutmaßliche Tötung der Kurdin Zhina Amini, die international unter ihrem persischen Namen Mahsa bekannt ist. Die 22-Jährige starb in einem Teheraner Krankenhaus, nachdem sie zuvor wegen ihres angeblich zu locker sitzenden Kopftuchs inhaftiert worden war. Es wird vermutet, dass sie zu Tode geprügelt wurde.
Der Iran-Experte Hamidreza Azizi von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) glaubt, dass die Proteste auf lange Sicht zu einem Wandel in Iran führen. „Die Menschen haben keine Angst mehr“, sagt er im Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Der Antrieb der Bewegung sei der Mut der Frauen. Doch die historischen Wurzeln ihres Widerstands gehen bis zur Revolution von 1979 zurück.
In den vergangenen Jahren, 2009, 2018 und auch 2019, sind die Menschen im Iran immer wieder auf die Straße gegangen. Welche Unterschiede gibt es zur aktuellen Protestwelle?
Hamidreza Azizi: Die Studentenaufstände von 1999 markieren den Beginn massiver Proteste, die das politische Establishment im Iran herausfordern. Seitdem beobachte ich zwei Trends: Zum einen kam es zunächst nur ungefähr alle zehn Jahre zu einem landesweiten Protest, seit etwa drei Jahren haben wir alle paar Monate größere Demonstrationen. Und während es Ende der 1990er-Jahre vor allem um Reformen ging, forderten die Menschen 2009 erstmals in der Geschichte der Islamischen Republik einen grundsätzlichen Systemwandel. Diesmal ist die größte Neuheit die führende Rolle der Frauen. Das ist etwas, was wir uns vor einigen Jahren noch nicht einmal vorstellen konnten.
„Die Regierung kann auf lange Sicht nicht dagegen ankommen“
Könnte der Protest der Frauen die Regierung auf lange Sicht zu Fall bringen?
Wir sollten realistisch bleiben, denn die Regierung hat eine Menge Mittel zur Unterdrückung, die sie noch nicht vollständig ausgeschöpft hat. Trotzdem hat sich etwas grundsätzlich verändert: Die Menschen haben keine Angst mehr. Wir sehen Videos von sehr jungen Frauen, 16 oder 17 Jahre alt, die vor Sicherheitskräften stehen und weiter ihre Parolen rufen, obwohl die auf sie geschossen haben. Die Regierung kann vielleicht für kurze Zeit die Kontrolle zurückerlangen, aber jede einzelne Frau, die ihren Hidschab abnimmt, vollzieht einen Protestakt gegen das politische System. Das ist etwas, wogegen die Regierung auf lange Sicht nicht ankommen kann. Der Antrieb dieser Protestwelle ist der Mut der Frauen.
Schon nach der Revolution von 1979 haben Frauen gegen die Einführung der Hidschabpflicht protestiert. Was hat sich nun verändert?
Vor der Islamischen Revolution war der Islam etwas Persönliches. Die Frauen haben entschieden, ob sie einen Hidschab tragen wollen oder nicht. Es war die Islamische Republik selbst, die den Hidschab politisiert hat. So wurde das Nichttragen des Hidschab ein Akt des politischen Protests. Nun kommt es zu einem Backlash, da sich die islamische Gesellschaft säkularisiert. Wir haben eine sich sehr schnell entwickelnde Gesellschaft und ein politisches Regime, das bei seinen Narrativen von vor 40 Jahren bleibt. Das ist die Wurzel der aktuellen Protestwelle. Eigentlich hat dieser Prozess direkt nach der Islamischen Revolution begonnen.
„Fast jede Familie im Iran hat eine Erfahrung mit den sogenannten Sittenwächtern“
Diesmal unterstützen auch mehr Männer die feministischen Anliegen der Protestierenden.
Heute hat sich geändert, dass mehr Männer den Protest der Frauen unterstützen. Aber es geht auch darum, dass Frauen sich gegenseitig unterstützen. Nach der Revolution von 1979 hat ein großer Teil in der Gesellschaft an die islamischen Ideen geglaubt. Auch der Krieg gegen den Irak zwei Jahre später hat die Republik gestützt. Nach dem Krieg wurde ab den 1990er-Jahren mehr über politische und soziale Freiheit geredet. Hinzu kommt, dass Frauen aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten protestieren. Denn fast jede Familie im Iran hat eine Erfahrung mit den sogenannten Sittenwächtern gemacht.
Dass sich verschiedene Teile der Gesellschaft verbinden, verleiht den Protesten also zusätzliche Kraft?
Die aktuellen Proteste haben eine höhere Schlagkraft, weil sie durch eine breitere soziale Basis gestützt werden. Die Proteste 2019 waren auch sehr wichtig, aber da ging es um ein spezifisches ökonomisches Anliegen, sodass sich vor allem die arme Klasse beteiligt hatte. Nun kämpfen verschiedene Klassen Seite an Seite. Auch die großen Städte sind beteiligt. Es gibt einen größeren intellektuellen Hintergrund. Der Anteil von Frauen in den staatlichen Universitäten ist kontinuierlich angestiegen. Die gebildeten Frauen, die gebildete Gesellschaft, kommen mit neuen Forderungen. Sie kennen ihre Rechte und sehen im Netz, wie andere Menschen auf der Welt leben. Der Tod von Mahsa Amini hat den aktuellen Protest ausgelöst, der feministische Widerstand begann aber schon mindestens zwei bis drei Jahre zuvor.
„Der Ärger über die islamischen Regeln steht im Fokus“
Welche Rolle spielt, dass Zhina, bekannt als Mahsa, Amini Kurdin war?
Das ist eine auch eine sehr interessante Facette des Protests. Nach dem Tod von Mahsa Amini und als bekannt wurde, dass sie Kurdin war, gab es Befürchtungen, dass es zu einem rein kurdischen Widerstand werden könnte. Aber es ist trotzdem eine landesweite Bewegung geworden. Es gibt dieses Gemeinschaftsgefühl im Land. Der Ärger über die islamischen Regeln steht im Fokus der Proteste.
Wurde das Regime von den Protesten überrascht?
Ich denke nicht, dass es überrascht ist. Es gab bereits Studien, die derartige Entwicklungen vorhergesagt haben, aber das Regime hat entschieden, sie zu ignorieren. Auch, weil es das Eingehen auf die Forderungen als Schwäche sieht. Nachdem es das System im Zuge der Reformbewegungen in den 1990er-Jahren ein wenig geöffnet hatte, erlebte es, wie schnell sich die Bewegung zu einer Gefahr für die konservative Führung entwickelte. Daher verschloss es lieber die Tür vor jeder Art von Wandel. In Wahrheit sieht die Islamische Republik keine Alternative: Entweder erlaubt sie Reformen und sieht ihre Macht langsam schwinden, oder sie versucht, alles zu unterdrücken, und dann wird ihr die Macht vielleicht plötzlich genommen. Im zweiten Fall hofft sie noch, das verhindern zu können.
Könnte der Protest im Iran auch Auswirkungen auf weitere Gebiete in der Region haben?
Ich denke, dass die Protestwellen in der Region sich gegenseitig verstärken. Die grüne Bewegung 2009 im Iran hatte auch Einfluss auf die Entwicklungen beim Arabischen Frühling ab 2011.
„Im Iran gibt es aktuell keine zentrale Führungsfigur“
Sehen Sie auch Parallelen zum sogenannten Arabischen Frühling?
Die Art, wie sich die Menschen 2011 mobilisiert haben, beeinflusst jetzt auch die iranische Gesellschaft, etwa in der Form der Mobilisierung durch die sozialen Medien. Und auch die Art der Organisation. Die meisten Proteste im Arabischen Frühling hatten keine zentrale Führung. Auch im Iran gibt es aktuell keine zentrale Führungsfigur wie beispielsweise 1979 bei der Iranischen Revolution mit Khomeini.
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Wie geht das Regime in den nächsten Tagen vor?
In den ersten Tagen war Präsident Raisi noch bei der UN-Vollversammlung in New York. Jetzt ist er zurück und das Regime hat bereits mit härteren Maßnahmen begonnen. Es ist bereit zu eskalieren, und es gibt keine Schranken. Das sind die gleichen Voraussetzungen, die Assad in Syrien geholfen haben, ein Blutbad in seinem Land anzurichten. Sie haben kein Problem damit, das Gleiche zu tun. In den nächsten Tagen könnten daher weniger Menschen auf die Straße gehen. Aber es wird den Protest nur verzögern, nicht aufhalten. Die Veränderungen werden schrittweise kommen. Auf lange Sicht ist ein Wandel unerlässlich. Die Frage ist, ob er auf einem friedlichen oder einem revolutionären Weg kommt.