Alfred Grosser ist mit 99 Jahren verstorben. Er galt als einer der Wegbereiter des Élysée-Vertrags, der die deutsch-französische Freundschaft begründete.
Wegbereiter der deutsch-französischen FreundschaftAlfred Grosser ist tot
Wenn Alfred Grosser in seiner Wohnung im ruhigen Südwesten von Paris zum Gespräch empfing, nahm er sich viel Zeit. Dann hatte der Historiker und Politikwissenschaftler bereits einen Stoß an tagesaktuellen Zeitungen gelesen, sich auf den neuesten Stand gebracht, um nicht nur über die Geschichte Deutschlands und Frankreichs zu sprechen. Hellwach auch im hohen Alter wollte er stets aktuelle Fragen behandeln, die die Gesellschaften gerade umtrieben, ob es der Aufstieg der Populisten oder der nationale Egoismus in der Wirtschaftspolitik war. Er kannte die Details der Debatten, hatte seine eigene, oft zugespitzte Meinung dazu. Gerne provozierte er auch mal, stets mit dem für ihn so typischen verschmitzten Lächeln.
In den vergangenen Jahren war es ruhiger um ihn geworden. Interview-Anfragen blieben unbeantwortet. Kurz nach seinem 99. Geburtstag ist Alfred Grosser am Mittwoch in Paris gestorben, „auf den Tag genau 90 Jahre nach seinem Vater“, wie sein Sohn Pierre, auch er ein renommierter französischer Historiker, am Donnerstag bekanntgab. „Die deutsch-französische Gemeinschaft trägt heute Trauer“, reagierte der Botschafter Frankreichs in Deutschland, François Delattre, auf den Verlust dieses „treibenden Pioniers“ verweisend.
Alfred Grosser mit 99 Jahren verstorben
Alfred Grosser war ein Grenzgänger par excellence, ein Wandler zwischen den und Erklärer der Welten, die er gleichermaßen verstand und kritisch beäugte. Geboren im Jahr 1925 in Frankfurt am Main floh er mit seiner jüdischen Familie Ende 1933 nach Frankreich. Kurz nach der Ankunft in Saint-Germain-en-Laye bei Paris starb der Vater, der Kinderarzt und Wissenschaftler Paul Grosser. Mit der Mutter Lily Grosser erhielten auch die Kinder Margarethe und Alfred 1937 die französische Staatsbürgerschaft. Die Bezeichnung als Deutsch-Franzose lehnte er selbst lebhaft ab: „Nein, ich bin ein Franzose, der Deutschland gut kennt!“
Als junger Mann studierte er Politikwissenschaft und Germanistik, hatte verschiedene Lehrtätigkeiten inne. Er galt als einer der intellektuellen Wegbereiter des Élysée-Vertrags, den Kanzler Konrad Adenauer und Präsident Charles de Gaulle im Januar 1963 als Grundlage für eine vertiefte Partnerschaft unterschrieben. Die Vereinbarung sah Grosser als „Höhepunkt einer Entwicklung, nicht als Beginn“. Eine wichtige Rolle hätten zuvor schon andere Staatsmänner wie Jean Monnet und Robert Schuman gespielt, die ersten Austausche ab 1946 stattgefunden. Die Begegnung zwischen den Menschen hatten für ihn unermesslichen Wert. Grosser war nicht nur Gesprächspartner für die hohen Politiker, sondern gab unermüdlich Konferenzen und Seminare, am liebsten vor jungen Leuten.
Wie der Publizist den Fall der Berliner Mauer kommentierte
Als Inhaber eines Lehrstuhl an der Elitehochschule Institut d’Études Politiques de Paris („Sciences Po Paris“) prägte er Generationen von späteren Führungspersönlichkeiten beider Länder, darunter Frankreichs Ex-Premierminister Édouard Philippe. Dieser erzählte, wie er als 18-Jähriger am Abend des 9. November 1989 mit deutschen und französischen Kommilitonen in einem Kurs von Grosser saß, als der Direktor der Uni hereinplatzte, um eine außerordentliche Nachricht zu verkünden: Die Berliner Mauer sei gefallen. Nach einem Moment der verblüfften Stille sprangen alle von ihren Sitzen auf, um zu jubeln und einander zu umarmen, so Philippe. Als wieder etwas Ruhe einkehrte, folgte Grossers Kommentar: „Ich weiß nicht, was mich mehr berührt: Die Tatsache, dass die Mauer gefallen ist oder die Tatsache, dass Sie so darauf reagieren.“
Sich selbst definierte der Sohn jüdischer Eltern als Atheist von „entspannter Ungläubigkeit“, der dem Christentum nahestehe, auch aufgrund seiner katholischen Ehefrau Anne-Marie, der Mutter seiner vier Söhne. Zur Freiheit seines Denkens gehörte auch die Kritik an der israelischen Politik sowie an der für ihn zu nachsichtigen deutschen Haltung gegenüber Israel, unter anderem in seinem Buch „Von Auschwitz nach Jerusalem“. An die Regierung Israels, argumentierte er, gelte es dieselben Kriterien anzulegen wie an die eines jedes anderen Staates.
Grosser erhielt zahlreiche Auszeichnungen, etwa das Große Verdienstkreuz
In seinen Vorträgen vor deutschen Schülern versicherte er diesen, sie trügen keinerlei persönliche Schuld am Holocaust. Aber sie seien verpflichtet zu Erinnerung und dazu, „aufzumucken, wenn irgendwo in der Welt Menschenrechte verletzt werden“, sagte er einmal im Gespräch mit dieser Zeitung. „Unter anderem in Palästina.“ Zum aktuellen Krieg in Nahost äußerte er sich nicht mehr öffentlich, hatte aber stets um die „Anerkennung des Leidens der anderen“ geworben.
1993 wurde in den Universitäten Sciences Po Paris und Nancy ein „Lehrstuhl Alfred Grosser“ eingerichtet, im Jahr 2009 eine nach ihm benannte Gastprofessur an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main. Auch war er Mitarbeiter von zahlreichen Zeitungen in Deutschland und Frankreich, veröffentlichte Bücher und erhielt im Laufe seines Lebens etliche Auszeichnungen, vom Großen Verdienstkreuz über die Französische Ehrenlegion bis zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (1975), dem Theodor-Heuss-Preis (2013) und dem Henri-Nannen-Preis (2014).