Eine Branche in der KriseIst die Windenergie noch zu retten?
Hannover – Hinter dem Gelingen der Energiewende stehen wieder viele Fragezeichen. Beim Ausbau der erneuerbaren Energieträger fällt die Windkraft für die nächsten zwei bis drei Jahre weitgehend aus. Die Politik sucht nach Lösungen. Höchst umstritten ist der geplante pauschale 1000-Meter-Mindestabstand der Windräder zu Wohnsiedlungen. Wir erläutern, welche Lösungen denkbar sind.
Warum kocht jetzt die Diskussion über den Mindestabstand so hoch?
Der Ausbau der Windenergie an Land hängt entscheidend davon ab, dass die Standorte genutzt werden, an denen es am stärksten bläst. Dort lassen sich Windräder am effizientesten einsetzen. Das Bundeswirtschaftsministerium hat eine sehr strenge Regelung vorgeschlagen. Die 1000 Meter sollen auch als Abstand zu Siedlungen gelten, die nur aus fünf Häusern bestehen. Zudem soll der Abstand für Flächen gelten, auf denen Wohngebäude erst noch gebaut werden sollen. Wird diese Regelung durchgesetzt, würden zahlreiche wertvolle Windstandorte wegfallen - in manchen Regionen bis zu 80 Prozent. Unternehmensverbände, Gewerkschaften, Umweltschützer, die Grünen, aber auch Umweltministerin Svenja Schulze (SPD) lehnen die Vorschläge ab.
Wie wird die Abstandsregel begründet?
Sowohl Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) als auch der Wirtschaftsflügel der CDU argumentieren, dass durch die größeren Abstände die Akzeptanz der Windräder steigen werde. Der Vorsitzende der Mittelstandsunion und Vize-Chef der Bundestagsfraktion, Carsten Linnemann, sagte dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND): Die fehlende Akzeptanz bei der betroffenen Bevölkerung gefährde die Energiewende. Mindestabstände könnten helfen, Konflikte vor Ort zu befrieden. Beobachter glauben indes eher, dass Altmaier mit seinen Vorschlägen auf Energiewendeskeptiker in den eigenen Reihen Rücksicht nimmt. Auch die Angst vor einem weiteren Erstarken der AfD, die erneuerbare Energieträger und den Klimaschutz ablehnt, soll eine Rolle spielen.
Fehlt es tatsächlich an Akzeptanz?
Es gibt zahlreiche seriöse Befragungen, die eine sehr hohe Zustimmung zum Ausbau der Windenergie in der Bevölkerung nachweisen - auch dort, wo bereits solche Anlagen stehen. Die Ablehnung wächst aber mit der Nähe zu geplanten Windrädern. Vor allem die Angst vor hörbarem und nicht hörbarem Lärm (Infraschall) ist groß. Dabei spielt es auch eine Rolle, dass Eigenheimbesitzer die Entwertung ihrer Immobilie befürchten. Deshalb haben sich bundesweit mehr als 1000 Bürgerinitiativen gegen die Errichtung von Windrädern gebildet. In den meisten Fällen gehen diese aber mit dem Naturschutzrecht und der Bedrohung seltener Arten gegen die Projekte vor. Deshalb spricht einiges dafür, dass sich daran auch mit der 1000-Meter-Regel wenig ändern wird.
Wie könnte ein Kompromiss aussehen?
Altmaier hat am Dienstag zwar den Mindestabstand verteidigt, aber zugleich machte er im Deutschlandfunk deutlich, dass er mit Schulze darüber rede, ob der Abstand schon bei fünf oder bei zehn, bei sieben oder zwölf Wohnhäusern eingehalten werden müsse. Dort deutet sich als Kompromiss eine leichte Lockerung der Vorgaben an. Doch selbst das dürfte die Probleme beim Ausbau bestenfalls etwas lindern.
Welche Dimension haben die Klagen und die langen Genehmigungszeiten?
Der größte Teil der Projekte wird mittlerweile beklagt. Der Bundesverband Windenergie (BWE) schätzt, dass Anlagen mit einer Kapazität von mehr als 15.000 Megawatt in Genehmigungs- und Klageverfahren festhängen. Zum Vergleich: Der BWE erwartet, dass in diesem Jahr maximal neue Anlagen mit 1000 Megawatt hinzukommen. In den vergangenen Jahren hat sich die Gesamtlänge der Verfahren deutlich erhöht. Wer heute die Idee für ein Projekt hat, muss mit mehr als fünf Jahren kalkulieren, bis gebaut werden kann.
Wie lässt sich diese unbefriedigende Situation beheben?
Die Bundesregierung will die naturschutzrechtlichen Bestimmungen, die sich von Bundesland zu Bundesland unterscheiden, vereinheitlichen und vereinfachen. Unter anderem sollen auch klarere Standards für die Naturschutzgutachten definiert werden, auf die sich viele Klagen stützen. Außerdem will Altmaier die möglichen Instanzen bei Klagen verkürzen und die aufschiebende Wirkung von Klagen und Widersprüchen einschränken.
Wie schnell lässt sich das umsetzen?
Nach Einschätzung von Experten muss mit mindestens zwei Jahren gerechnet werden, eher mit mehr. Stephan Weil (SPD), Ministerpräsident von Niedersachsen, rechnet damit, dass es 2020 und 2021 keine nennenswerten Aufträge für die hiesigen Windanlagenbauer geben werde.
Was wären die Konsequenzen?
Die Klimaziele für 2030 sind aus Sicht vieler Experten kaum noch zu erreichen. Zudem droht ein weiterer Stellenabbau in der Windbranche - kürzlich erst hat Marktführer Enercon die Streichung von 3000 Arbeitsplätzen hierzulande angekündigt. Laut BWE sind seit 2016 schon mehr als 40.000 Jobs in der Branche verloren gegangen, die noch immer als weltweit führend gilt.
Wie könnten Rettungsprogramme aussehen?
Zahlreiche Vorschläge liegen auf dem Tisch. Unter anderem Grüne und SPD schlagen vor, dass kurzfristig finanzielle Anreize für Nachbarn von Windrädern geschaffen werden müssen. Das könnten mehr Einnahmen für die Kommunen über zusätzliche Abgaben oder Steuern sein. Weil hat vorgeschlagen, dass Bürger direkt mit günstigen Stromtarifen belohnt werden. Auch Genehmigungen für das Ersetzen alter Anlagen durch moderne und leistungsfähigere an bestehenden Standorten soll beschleunigt werden. Weil, Grüne und die Branche fordern ferner, die Ausbauziele zu erhöhen. 5000 Megawatt pro Jahr sind im Gespräch - anstelle von bisher 2800 Megawatt. (RND)