„Eine Gefahr für die Welt“Krankenhäuser in Brasilien stehen vor dem Kollaps
- Eine Reportage aus dem Land, das derzeit weltweit am schlimmsten betroffen ist von der Pandemie.
Osterruhe in Rio de Janeiro: Für zehn Tage wird die Stadt des Karnevals und des Sambas wieder einmal alle Lebensgeister aus den Clubs, Restaurants und vom Strand verbannen. Diese Maßnahme soll helfen die nächste und bislang schlimmste Pandemie-Welle zu brechen, denn fast jeder Tag endet in dieser Woche mit neuen Hiobsbotschaften. Wieder 2700 Tote und ein noch ein neuer Negativ-Rekord: Fast 100.000 Neu-Infektionen meldete das Konsortium der brasilianischen Medien am Donnerstagabend.
Wichtige Zeitungen haben sich zusammengeschlossen und recherchieren die Zahlen selbst, weil sie dem Gesundheitsministerium in Brasilia misstrauen. Dort hat es vor wenigen Tagen den insgesamt den dritten Personalwechsel an der Spitze gegeben. Immerhin ist es mit Marcelo Queiroga jetzt wieder ein Mediziner, der den Kampf gegen die Pandemie führen soll. Es ist der vierte Minister seit Pandemiebeginn vor einem Jahr. Stabilität sieht anders aus. Vor allem die zweite Zahl vom Donnerstagabend beunruhigt die Wissenschaftler.
Die schiere Maße an frischen Infektionen in so kurzer Zeit ist ein idealer Nährboden für immer neue Mutationen, die schneller sein könnten als die zur Verfügung stehenden Impfmittel. Zusammengerechnet infizierten sich in den letzten sieben Tagen rund 500.000 Brasilianer und die Tendenz ist weiter steigend. Mehr als 16.000 Tote in einer Woche sorgen für Schichtbetriebe an den ersten Friedhöfen.
Ethel Maciel von der Universität UFES in Espirito Santo sieht schwere Wochen auf Brasilien zukommen: „Leider ist die Gefahr real, dass sich durch die vielen Neuinfektionen neue Mutationen bilden können“, sagt die Wissenschaftlerin im Gespräch mit dieser Zeitung. Ihre Kritik: In Brasilien wurden die Infektionen zu wenig sequenziert. Es gäbe Länder, in denen bis zu 10.000 Test täglich genauestens untersucht würden, in Brasilien beschränkte sich dies allerdings lange Zeit nur auf wenige tausend Infektionen. „Wir müssen wissen, was passiert. Die Menschen, die krank sind, mit welcher Variante sind sie krank? Wir brauchen diese Antworten“, sagt Maciel. Inzwischen sehen internationale Medien Brasilien als eine Art Zeitbombe für die Welt.
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Tatsächlich ist die Lage in Brasilien aber ähnlich der in Europa. Vergleicht man die Zahlen, dann waren die bestätigten Neu-Infektionen am Donnerstag dieser Woche nahezu identisch. Brasilien meldete 362 neue Fälle pro eine Millionen Einwohner, in der EU gab es 358 (Quelle: Our World in Data). Deutlich unterschiedlicher sind allerdings die Todeszahlen: In Brasilien gab es zehn Tote pro eine Mio Einwohner, in der EU waren es fast sechs. Nun spekulieren die brasilianischen Medien, dass die brasilianische Variante P1 deutlich gefährlicher und aggressiver sein könnte. Eine Erfahrung, die Krankenschwester Polyena Silveira aus persönlicher Erfahrung teilt: „Dieses Virus ist viel stärker als das, das wir vor einem Jahr hatten.“ Silvereira wurde in diesen Tagen bekannt, weil ein Foto von ihr durch die brasilianischen Medien ging. Es zeigt die Krankenschwester aus einer Erst-Aufnahme-Station in Teresina aus dem nordöstlichen Bundesstaates Piaui auf dem Boden sitzend. Neben ihr ein sterbender Patient, dem niemand mehr helfen kann, weil alle Betten belegt sind. Das Problem, berichtet Silveira, sei nicht, dass es keine Medikamente oder Betten gäbe.
Der Andrang von Patienten sei inzwischen nur so groß, dass die Kapazitäten längst nicht mehr ausreichen. Es sind einfach viel zu viele Menschen krank.
In den großen Ballungsräumen Sao Paulo und Rio de Janeiro stehen die Hospitäler vor dem Kollaps, weil es inzwischen an allem fehlt. Und die zeitlich verzögerten Erkrankungen der Patienten der jüngsten massiven Infektionswelle der letzten Tage sind noch gar nicht alle eingepreist. Einer der das alles vorgesagt hatte, ist Manaus Bürgermeister David Almeida, weil er diese dritte Welle schon hinter sich hat. Die mutmaßlich aus dem Bundesstaat Amazonas stammende Mutation brach über die Metropole Manaus herein. Weil zu früh gelockert wurde, ignorierten die Menschen die Empfehlungen. Und prompt schossen die Infektionen in die Höhe. „Erwarten Sie das Schlimmste, erwarten Sie was Sie noch nie gesehen haben“, sagte Bürgermeister Almeide vor gut zwei Wochen. „Ein Patient, der früher zehn Tage im Krankenhaus war, bleibt jetzt 30 Tage. Die Variante ist viel ansteckender, viel stärker. Die Patienten bleiben viel länger auf der Intensivstation und brauchen die gesamte Aufmerksamkeit des Personals.“ Genauso ist es gekommen.
Die Patienten sind nun jünger und bleiben deutlich länger.Eine weitere Parallele zwischen Brasilien und der EU ist das durchwachsene Impfmanagement. Nur im Bundesstaat Amazonas gingen inzwischen die Neuinfektionen spürbar zurück. Dort wurde bereits 14,2 Prozent der Bevölkerung mindestens einmal geimpft. Ein Spitzenwert für Brasilien, ansonsten hängt das Land ähnlich durch wie Europa. Brasilia hat wie Brüssel bei der Impfstoffbesorgung zu lange gezögert, obwohl das Land sogar Schauplatz zahlreicher Testreihen war.
„Schreckliche Situation“
„Die Situation in Brasilien ist schrecklich. Die Krankenhäuser sind überfüllt, die Intensivbetten reichen nicht und einige Krankenhäuser sind schon ohne Sauerstoff“, sagt Yale-Wissenschaftlerin Akiko Iwasaki dem Sender „BBC Brasil“. Sie appellierte deswegen an den US-Präsidenten Joe Biden, Impfmittel des Typs BioNTech Pfizer oder Moderna zur Verfügung zu stellen. Ihre Befürchtung: In Bundesstaat Amazonas sei darüber spekuliert davon ausgegangen, dass nach den ersten Wellen schon eine Herdenimmunität bestehe, doch dann habe die nächste Wille noch einmal mit voller Wucht zugeschlagen.
Offenbar seien die Impfmittel, die auf Basis des alten Virus hergestellt worden, nicht so wirksam wie die der in Deutschland produzierte Impfstoff oder Moderna.Natürlich hat die aktuelle Lage auch eine politische Dimension. Brasiliens rechtspopulistischer Präsident Jair Bolsonaro wird mehr und mehr für das Chaos verantwortlich gemacht, seine Umfragewerte sind im Steilflug. Inzwischen scheint Bolsonaro seinen Kurs ändern zu wollen, berief eine Krisenkommission ein. Das war ein Vorschlag von Ex-Präsident Lula da Silva, der seit gut einer Woche nach der Annullierung eines umstrittenen Korruptionsprozesses gegen ihn, praktisch wieder auf der politischen Bühne zurück ist. Lula brachte auch einen G20-Impfgipfel ins Spiel. Die reichen Industrieländer müssten die armen Länder des Südens unterstützen. Das ist eine Forderung, die auch aus der Wissenschaft kommt. Weil nur gleichzeitig durchgeimpfte Bevölkerungen weltweit das Risiko minimieren würden, dass weitere gefährliche Mutationen entstehen könnten, dürften die reichsten Länder nicht nur an sich denken. Bislang exportieren die USA nichts in andere Länder, dies ermöglicht es der Administration von Joe Biden, ein beeindruckend hohes Impftempo zu veranschlagen. Allerdings auf Kosten des Restes der Welt.
Isolierte Regierung
In Brasilien sehen das die Bolsonaro-Kritiker anders. Sie machen ihn für die inzwischen über 300.000 Toten verantwortlich, weil Bolsonaro für das Ignorieren von Hygiene-Regeln warb, bei der Impfmittelbeschaffung viel zu langsam war und die meisten Toten aus den armen Bevölkerungsschichten stammen. Bolsonaros Ansicht: „Ein Lockdown macht die Armen nur noch ärmer.“ Indigene Vertreter berichteten jüngst vor den Vereinten Nationen von der dramatischen Situation und werfen Bolsonaro einen gezielten Völkermord vor. Roberto Gulart Menezes (49) vom Institut für Internationale Beziehungen der Universität Brasilia sieht im Gespräch mit dieser Zeitung tatsächlich Konsequenzen: „Durch ihre Corona-Politik steht die Regierung Bolsonaro international tatsächlich isoliert da“, sagt der Politikwissenschaftler. Inzwischen fordern einflussreiche Kreise in Brasilia die Entlassung von Außenminister Ernesto Araujo. Er wäre das nächste politische Corona-Opfer und ganz sicher nicht das letzte.