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Erdogan gegen KilicdarogluDie Türkei vor der Schicksalswahl

Lesezeit 6 Minuten
03.05.2023, Türkei, Istanbul: Zwei Wahlplakate zeigen den oppositionellen Republikanischen Volkspartei, CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu (r) und den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan.

Zwei Wahlplakate zeigen den oppositionellen Republikanischen Volkspartei, CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu (r) und den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Am 14. Mai finden in der Türkei die Parlaments- und Präsidentenwahlen statt.

Noch nie hat der türkische Staatschef Erdogan eine Wahl verloren. Heraus­forderer Kemal Kilicdaroglu hat echte Chancen auf einen Sieg. Doch der Präsident zieht im Wahlkampf alle Register.

Kämpfen kann er. Das hat Recep Tayyip Erdogan schon früh bewiesen. Aufgewachsen ist er als Sohn eines Seemanns im Istanbuler Hafenviertel Kasimpasa. Um sich hier durchzusetzen, braucht man Ellenbogen und Fäuste. Als Amateur­fußballer bewies er taktisches Geschick und Ausdauer – Eigenschaften, die er jetzt mehr denn je braucht. Bei den Parlaments- und Präsidenten­wahlen am 14. Mai kämpft Erdogan nicht nur um eine weitere Amtszeit als Staatschef. An der Wahlurne entscheidet sich auch sein persönliches Schicksal. Unterliegt er, verliert er seine strafrechtliche Immunität. Die Opposition will ihn wegen Korruption und Macht­missbrauch zur Rechenschaft ziehen. Für den 69-jährigen Erdogan geht es also diesmal um alles.

„Ich bin Kemal, ich komme“

Sein Gegenspieler ist Kemal Kilicdaroglu, der Chef der größten Oppositionspartei CHP. Als gemeinsamer Kandidat von sechs Parteien tritt der 74-Jährige gegen Erdogan an. „Ich bin Kemal, ich komme“ ist sein Slogan – ein Zitat aus dem 1976 gedrehten türkischen Filmklassiker „Hinc“. In dem Streifen verkörpert der beliebte Schauspieler Cüneyt Arkin den Polizisten Kemal, der unerschrocken für die Gerechtigkeit kämpft. Kilicdaroglus Wahlspruch ist aber zugleich eine Reverenz an den Republik­gründer Mustafa Kemal (1881–1938), den späteren Atatürk, auf den die CHP zurückgeht. Atatürks Erbe, die Trennung von Staat und Religion sowie die Westbindung der Türkei, will Kilicdaroglu verteidigen.

Das 2017 eingeführte Präsidial­system, mit dem Erdogan seine Einmann­herrschaft zementierte, wollen die sechs Oppositions­parteien abschaffen und zur parlamentarischen Demokratie zurück­kehren. Das macht diese Wahl zu der vielleicht wichtigsten Richtungsentscheidung in der 100-jährigen Geschichte der türkischen Republik.

Erstmals muss Erdogan ernsthaft um seine Wiederwahl zittern

Noch Mitte März lag Kilicdaroglu in einer Umfrage des Instituts ORC mit 53,1 Prozent klar vor Erdogan, der auf 42,3 Prozent kam. Inzwischen zeigen die Zahlen vieler Institute ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Der Grund heißt Muharrem Ince. Der abtrünnige CHP-Politiker kandidierte schon 2018 gegen Erdogan, scheiterte aber klar. Jetzt will er es noch einmal wissen. Damit ist aus dem Duell um die Macht in der Türkei ein Dreikampf geworden. Aussichten auf einen Sieg hat der 58-jährige Ince zwar nicht, Meinungs­forschende sehen ihn nur bei etwa 5 Prozent. Aber diese Prozent­punkte könnten Kilicdaroglu für die erforderliche absolute Mehrheit im ersten Wahlgang fehlen. Dann käme es zwei Wochen später zu einer Stichwahl.

Erstmals seit 20 Jahren muss Erdogan um seine Wiederwahl zittern. Immer mehr junge Türkinnen und Türken wenden sich von ihm ab. Sie können mit seiner islamisch-konservativen, anti-westlichen Agenda nichts anfangen. Einer Umfrage zufolge wollen von den 18- bis 25-jährigen Erstwählenden nur 20 Prozent für Erdogan stimmen. Die Inflation treibt viele Mittelstands­familien in die Armut. Die Erdbeben­katastrophe, bei der Anfang Februar in der Osttürkei über 50.800 Menschen starben, offenbarte die Schwächen des Systems Erdogan. Hilfs­organisationen und Armee warteten auf Weisungen des allmächtigen Staatschefs. Doch aus dessen Palast in Ankara kam lange gar nichts – entweder unterschätzte Erdogan die Katastrophe, oder seine Mitarbeiter verheimlichten ihm das wahre Ausmaß.

Erdogan verspricht im Wahlkampf: ein Jahr Erdgas für alle privaten Haushalte

Jetzt zieht der Staatschef im Wahlkampf alle Register. Auf seinen Wahlplakaten verspricht er in großen Lettern „KONUTLARA 1 YIL DOGAL GAZ BEDAVA“, ein Jahr lang kostenloses Erdgas für alle privaten Haushalte. Bei seinen Kundgebungen hetzt Erdogan gegen Schwule, Lesben und Transgender­menschen. Diesen „Perversen“, wie er sie nennt, werde man nach der Wahl „eine Lektion erteilen“. Bei diesen Tiraden weiß Erdogan seine konservativ-islamischen Anhänger hinter sich. Trotz der horrenden Inflation und des chaotischen Katastrophen­managements nach dem schweren Erdbeben stehen sie zu ihrem Idol. Für viele ist er ein Heilsbringer. Wenn Erdogan Minderheiten verflucht, gegen Europa wettert, sich mit den mächtigen USA anlegt und den Nachbarn Griechenland mit Kriegsdrohungen überzieht, dann stärkt er damit das Selbstwert­gefühl vieler Menschen, die ihr Land gerne als Großmacht sehen möchten.

Das gefällt auch vielen türkisch­stämmigen Menschen in Deutschland. 1,5 Millionen von ihnen sind in der Türkei wahlberechtigt. Unter ihnen hat Erdogan besonders viele Anhänger. Der Deutschtürke und ehemalige Erdogan-Vertraute Mustafa Yeneroglu gehört zu jenen, die sich von Erdogan abgewandt haben. Er appellierte jetzt an seine Landsleute in Deutschland, „für Rechtsstaat und Demokratie“ zu stimmen. Sollte Erdogan das Land weiter regieren, werde es „in die Autokratie abgleiten“, so Yeneroglu.

Seit 2016: mehr als acht Millionen Ermittlungsverfahren wegen angeblicher Terrordelikte

Es ist ein Trend, der seit dem Putschversuch gegen Erdogan vom Juli 2016 immer deutlicher wird. Erdogan bezeichnete den versuchten Staatsstreich als „Geschenk Allahs“ und verfolgt seither seine Gegner besonders unnachsichtig. Nach Recherchen des Stockholmer Zentrums für Freiheit leitete die türkische Justiz seit 2016 Ermittlungs­verfahren gegen rund acht Millionen Menschen wegen angeblicher Terrordelikte ein. Allein im vergangenen Jahr wurde gegen 7600 Personen wegen Präsidenten­beleidigung ermittelt, 1872 Angeklagte wurden verurteilt. Es trifft auch Kinder: Ende April leitete die Staats­anwaltschaft Istanbul ein Strafverfahren gegen einen 13-Jährigen ein. Ihm wird vorgeworfen, „die Ehre und Würde des Staats­präsidenten angegriffen“ zu haben.

Im Regierungs­lager wächst die Nervosität. Ein Indiz sind die Massen­verhaftungen, mit denen die Sicherheits­kräfte seit einigen Tagen gegen Kurden­politiker und kurdische Aktivisten vorgehen. Die prokurdische Partei HDP hat eine Wahlempfehlung für Kilicdaroglu ausgesprochen. Ihr Stimmen­potenzial liegt bei gut 10 Prozent. Das könnte den Ausschlag für Kilicdaroglu geben. Er führt seinen Wahlkampf vor allem auf Kundgebungen und zieht dabei mehr Zuhörende an als ein Oppositions­kandidat jemals zuvor mobilisieren konnte.

In der westtürkischen Hafenstadt Izmir, einer traditionellen Hochburg der Oppositions­partei CHP, rief er dem Publikum zu: „Bei diesen Wahlen geht es um Aussöhnung, nicht um Konflikt. Es geht darum, die Demokratie in die Türkei zurück­zubringen.“ Ein wichtiges Medium sind auch die Internetvideos. Viele nimmt Kilicdaroglu in seiner bescheidenen Küche auf. In den Zeitungen und Massenmedien, die zu über 90 Prozent von Erdogan-nahen Unternehmern kontrolliert werden, kommt der Oppositions­kandidat kaum zu Wort. Das Staatsfernsehen TRT übertrug im April 32 Stunden lang Erdogan-Kundgebungen. Dem Kandidaten Kilicdaroglu widmete der Staatskanal dagegen nur 32 Minuten Sendezeit.

Erdogans Innenminister sagt: Die Wahlen seien ein „politischer Putschversuch des Westens“

Sollte es am ersten Wahlsonntag bei der Präsidentenwahl keinen klaren Sieger geben, der über 50 Prozent der Stimmen erreicht, und eine Stichwahl nötig werden, wird es sehr auf die Kräfte­verhältnisse im künftigen Parlament ankommen, das ebenfalls am 14. Mai gewählt wird. Gelingt es der regierenden AKP mit ihren Verbündeten, die absolute Mehrheit der Sitze zu verteidigen, könnte das eine Weichenstellung für Erdogans Wiederwahl sein. Gewinnen die Oppositions­parteien eine Mehrheit, wäre Kilicdaroglu im Vorteil.

Ein Machtwechsel hätte nicht nur für Erdogan und seine Familie massive Folgen, sondern auch für die mit ihm verbandelten Unternehmer und Medienbarone. Kilicdaroglu spricht von „Banden“, die man nach einer gewonnenen Wahl zur Rechenschaft ziehen werde. Manche im Regierungslager würden wohl den Urnengang am liebsten absagen. Innenminister Süleyman Soylu, einer der Scharf­macher in Erdogans Kabinett, sagte jetzt, bei den Wahlen am 14. Mai handele es sich um einen „politischen Putschversuch des Westens“. Oppositions­politiker und westliche Diplomaten sehen darin einen Hinweis, dass die Regierung eine Wahlniederlage möglicherweise nicht anerkennen wird.

Seit Monaten gibt es unter Regierungs­kritikern Befürchtungen, Erdogan könnte sich weigern, nach einer Niederlage die Macht abzugeben und möglicherweise einen Putsch inszenieren. Diese Sorge erhielt jetzt neue Nahrung, als Erdogan in einer Rede vor Anhängern den Oppositions­kandidaten Kilicdaroglu beschuldigte, er unterhalte Kontakte mit der verbotenen kurdischen Terror­organisation PKK. Erdogan orakelte: „Meine Nation wird dieses Land nicht jemandem aushändigen, der mit der Unterstützung von Terroristen Präsident wird.“