Es existieren viele EU-Projekte zur Verteidigung. Zudem unterstützt Brüssel seit Kriegsbeginn den Rüstungssektor. Doch statt Kooperation gibt es oft Konkurrenz.
Europa rüstet aufKrieg wird zum Wettbewerb zwischen europäischer und russischer Rüstungsindustrie
Einen Anti-Torpedo-Torpedo will Deutschland zusammen mit Frankreich entwickeln, Italien arbeitet mit vier weiteren Staaten an einem neuen Kriegsschiff, und Litauen plant mit sieben EU-Mitgliedern eine schnelle Cybereingreiftruppe. Mehr als 60 dieser europäischen Verteidigungsprojekte gibt es im Rahmen der 2017 beschlossenen PESCO-Vereinbarung in der Europäischen Union. Das Vorhaben gilt als ihr Flaggschiff im Bereich Verteidigung.
Zusammen ist man stärker, lautet das Credo, unter dem die EU in den vergangenen Jahren die vielen Projekte angestoßen hat. „Die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedsstaaten ist der Schlüssel zur Stärkung der EU-Verteidigung und der Verteidigungsindustrie“, sagte Josep Borrell, Hoher Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik, Mitte des Monats auf einer PESCO-Konferenz. Doch bisher ist die Bilanz verheerend: „In der Vergangenheit konnten die Rüstungsprojekte, an denen mehrere Länder beteiligt waren, keine Synergien oder einen strategischen Mehrwert bringen“, stellt Sidonie Wetzig aus dem Brüssel-Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) klar. „Es fehlte an politischer Führung und an Druck von außen, effektive Resultate zu erzielen.“
Diesen Druck gibt es erst seit Februar 2022 durch den Krieg – und je länger die Kämpfe dauern, umso mehr wird der Krieg zum Wettbewerb der Produktionsfähigkeit zwischen der westlichen und russischen Rüstungsindustrie. Aus diesem Grund unterstützt die EU nicht nur die Ukraine, sondern auch die Rüstungsunternehmen der Mitgliedsstaaten.
Die 2012 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete EU rüstet auf
Die 2012 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete EU rüstet auf. Mehr und mehr Milliarden stellt Brüssel bereit, um Europas Verteidigung fit für die Zukunft zu machen: Der Europäische Verteidigungsfonds soll Kooperationsprojekte finanzieren, aus dem Topf der Europäischen Friedensfazilität können sich EU-Länder ihre Waffenlieferungen an die Ukraine erstatten lassen, und in der vergangenen Woche wurde ein EU-Waffenbeschaffungsfonds verabschiedet, um die erschöpften Lagerbestände der Mitgliedsstaaten aufzufüllen. Das sind nur einige der Finanztöpfe. Doch auch Geld auszugeben, kann schwer sein.
„Die EU-Staaten stehen vor der Frage, ob sie Rüstungsaufträge innerhalb Europas, in die USA oder nach Asien vergeben“, sagt Michelangelo Freyrie, der am Institut für Internationale Beziehungen (IAI) in Rom zur europäischen Verteidigungspolitik forscht. „Diese Entscheidungen werden die Verteidigung der nächsten 20 bis 30 Jahre prägen.“ So hat sich Polen für Panzer aus Südkorea entschieden und wird diese jahrzehntelang nutzen.
Die EU-Staaten stehen laut Freyrie vor einem weiteren Dilemma. „Entweder sie kaufen jetzt Waffen, die bereits auf dem Markt sind und womöglich nicht die besten sind oder nicht aus Europa kommen, oder sie warten zwei bis drei Jahre, bis sie gemeinsam europäische Systeme entwickelt haben“, erklärt er. Wenn die EU-Staaten keine europäischen Waffen kaufen, bedeute dies aber, dass europäische Firmen zukünftig weniger Gelder für gemeinsame Entwicklungen haben. „Wenn man aber noch ein paar Jahre wartet, büßt man erst einmal kurzfristig Wehrhaftigkeit ein.“
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wirbt für eine europäische Lösung. „Die Zeit für Europa ist gekommen, wieder im großen Maßstab zu denken und das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen“, sagte sie vor Kurzem mit viel Pathos in ihrer Rede zur Lage der Union. Sie lobte, dass die EU zu einer „Verteidigungsunion“ werde.
Verteidigungsunion? „Das ist ein bisschen schöngefärbt“, sagt Wetzig. „Die Wirklichkeit sieht ganz anders aus.“ Einer der Gründe: Nach wie vor spielt die nationale Rüstungsindustrie in den EU-Staaten die maßgebliche Rolle. „Das ist ein großes Problem, denn die Rüstungskonzerne machen sich nur unnötig auf Kosten der Wirtschaftlichkeit Konkurrenz“, so die Brüsseler Expertin. „Wir brauchen mehr Kooperation statt Konkurrenz.“ Vom Idealbild einer europäischen Rüstungsindustrie sei die EU weit entfernt.
Es geht nicht nur um die gemeinsame Bestellung von Waffen und Munition, sondern auch um die gemeinsame Produktion: Der Flugzeugbauer Airbus mit einer Lieferkette durch mehrere europäische Länder ist für Wetzig ein gutes Beispiel, wie ein europäisches Projekt funktionieren kann. Übertragen auf die Verteidigung bedeutet das: Bei einem Panzer kommt das Rohr aus Frankreich, die Elektronik aus Deutschland, und Polen baut alles zusammen.
„Im Idealfall ist das nicht nur günstiger, sondern man kann auch mehrere Länder in Europa beliefern“, sagt sie. „Eine Fragmentierung der europäischen Rüstungsindustrie können wir uns einfach nicht mehr leisten.“ Gemeinsam sei alles ein bisschen komplizierter, räumt sie ein. Aber bei Milliardeninvestitionen in Verteidigung ließen sich Synergieeffekte nutzen, wenn Staaten bei Rüstungsprojekten zusammenarbeiten.
Großaufträge für Panzer und Munition haben dafür gesorgt, dass sich die europäische Rüstungsindustrie in einem tiefgreifenden Umbruch befindet. Ob jedes Land diesen Umbruch einzeln vollzieht oder man die Chance nutzt und sich zusammenschließt, ist die nun anstehende Richtungsentscheidung. Der Europäische Rechnungshof hatte bereits in der Vergangenheit bemängelt, dass EU-Gelder nicht zu einer größeren Zusammenarbeit der Staaten geführt haben. Es habe nur eine Zusammenarbeit zwischen Partnern gegeben, die vorher auch schon zusammengearbeitet hätten, sagt Wetzig. „Solange es kein Vertrauen unter den Mitgliedsstaaten und keine politische Entschlossenheit gibt, haben wir noch keine Verteidigungsunion.“
Deutschland wähnte sich lange in Sicherheit
Bisher haben Italien und Frankreich die europäische Verteidigungspolitik vorangetrieben. Deutschland wähnte sich lange in Sicherheit und ging nicht davon aus, eines Tages Europa verteidigen zu müssen. Doch der Krieg hat der Berliner Politik schmerzhaft vor Augen geführt, wie schlecht es um die deutschen Fähigkeiten bestellt ist: Die Munition reicht nur für zwei Tage Kriegseinsatz, es fehlen viele Waffensysteme, und selbst an abhörsicheren Funkgeräten mangelt es in Teilen der Truppe. Doch nun holt Deutschland auf. Verteidigungsexperte Freyrie in Rom beobachtet „eine echte Zeitenwende“ in Berlin. „Die hohen Auszahlungen aus dem europäischen Verteidigungsfonds zeigen, dass Deutschland zu einem immer wichtigeren Akteur in der Rüstungspolitik wird.“
Einige EU-Staaten haben ihre Verteidigungsausgaben auf 3 bis 4 Prozent erhöht, wie Polen, und europäische Rüstungsprojekte werden mit Nachdruck vorangetrieben. Doch bisher fehlt es an einer strategischen Vision, wo die europäische Verteidigungspolitik außerhalb der Ukraine zum Einsatz kommen soll. Erfahrungen gibt es bisher nur mit Operationen zu Konfliktprävention und Konfliktmanagement, etwa bei Einsätzen unter EU-Mandat in Westafrika. Zudem ist es fraglich, ob die politische Entschlossenheit der EU-Regierungschefs auch nach dem Krieg bleiben wird, sagt Wetzig. „Die Gefahr ist groß, dass Europa wieder in alte Gewohnheiten und verteidigungspolitische Kleinstaaterei zurückfällt.“ (RND)