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Forscher über Hitze„Unsere Lebens­verhältnisse werden sich dramatisch verschlechtern“

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Klimaforscher Mojib Latif

Schon 2009 hat Klimaforscher Mojib Latif öffentlich davor gewarnt, dass unser Leben mit dem Klimawandel in einigen Jahrzehnten dramatisch wird. Dass wärmere Temperaturen nicht nur bedeuten, dass man länger im Straßencafé sitzen kann, sondern dass man es im Extremfall mit Temperaturen bis zu 40 und 50 Grad zu tun hat. 2022 ist das Realität geworden. Hitze trifft Europa. Im ausführlichen Interview erklärt der Wissenschaftler: Wir betreiben nur noch Schadens­begrenzung, das 1,5‑Grad-Ziel sei verwirkt.

Herr Latif, eine extreme Hitzewelle trifft Europa und auch Deutschland in diesem Sommer. Ist das nun das neue Normal im Klimawandel, vor dem Sie schon seit Jahrzehnten warnen?

Wir stecken mittendrin im Klimawandel. Der wird sich jetzt immer dramatischer zeigen. In Deutschland hat sich die Zahl der heißen Tage mit mehr als 30 Grad Celsius bereits massiv erhöht. Im Südwesten, im Osten, selbst im Norden. Auch die 40‑Grad-Grenze wurde in den vergangenen Jahren bereits immer wieder geknackt. So etwas gab es früher nicht. Der Mittel­meer­raum ist noch stärker betroffen, weil es dort ohnehin schon warm war. Man muss also ganz ehrlich sagen: Es ist nicht fünf vor zwölf, sondern fünf nach. Menschen sterben durch Hitze und Überschwemmungen. Und gleichzeitig ist das erst der Anfang.

Wie meinen Sie das?

Eine reine Wüsten­land­schaft werden wir hierzulande zwar nicht bekommen. Aber wir werden immer häufiger extremes Klima in beide Richtungen erleben – Hitze, Dürre und Starkregen. Dann steigt auch noch der Meeres­spiegel. Der bedroht jetzt schon viele Küsten. Man wird nie genau sagen können, wann sich wo eine konkrete Extrem­wetter­lage einstellt und dass die eine direkte Folge der Klima­erwärmung ist. Da wird teilweise sehr viel spekuliert. Es kann auch niemand die Zukunft exakt vorhersagen. Aber wir wissen auf jeden Fall, dass solche Extrem­ereignisse in dem Maße wahrscheinlicher werden, wie es wärmer wird. Momentan sind wir mindestens auf dem Weg in eine um drei Grad erwärmte Welt. Gleichzeitig wächst der weltweite Ausstoß von Treibhausgasen – seit 1990 um circa 60 Prozent.

Das heißt, das Leben wird auf jeden Fall ungemütlicher, die Best-Case-Szenarien des Klimawandels sind nicht mehr zu erreichen?

Die Frage ist, wie wir das jetzt noch gestoppt bekommen. Ich denke, dass das 1,5‑Grad-Ziel des Pariser Klima­abkommens nicht mehr zu erreichen ist. Der Zug ist abgefahren. Wir betreiben also nur noch Schadens­begrenzung. Wir können es vielleicht noch schaffen, dass die globale Durch­schnitts­temperatur um rund zwei Grad steigt.

Wie ist das zu erreichen?

Das hängt davon ab, wie wir uns jetzt verhalten. Stoßen wir viele Treib­haus­gase aus – oder wenig bis gar keine? Wir gehen immer noch in die falsche Richtung. Es gibt zwar seit knapp 30 Jahren Welt­klima­konferenzen und schöne Worte. Aber die Zahlen zeigen eine andere Wirklichkeit. Die Welt hat sich bereits über ein Grad erwärmt. Momentan sind wir mindestens auf dem Weg in eine um drei Grad erwärmte Welt. Gleichzeitig wächst der weltweite Ausstoß von Treibhausgasen – seit 1990 um circa 60 Prozent.

Nehmen Regierende den Klimawandel ernster, wenn er direkt vor der eigenen Haustür spürbar wird?

Ja, trotzdem passiert wenig. Wir leben in einer Welt, in der sich Länder bekämpfen, statt zu kooperieren. Und Xi Jinping, Putin, Bolsonaro – interessieren die sich für die Umwelt? Die großen Verursacher von CO₂ sind hauptsächlich autokratische Systeme. Aber es gibt natürlich immer die Hoffnung, dass man wenigstens durch Schaden klug wird.

Wie schneidet Deutschland ab, wenn es um den Klimaschutz geht?

Man muss sagen: In Deutschland hat sich seit Anfang der 90er der CO₂‑Ausstoß immerhin um fast 40 Prozent reduziert. Dem Klima ist das zwar egal, da zählt nur die globale Bilanz. Alle Länder müssten eigentlich an einem Strang ziehen. Aber das Beispiel Deutschland zeigt immerhin, dass Veränderung grundsätzlich möglich ist. Wohlstand und Klimaschutz sind keine Gegensätze. Das gibt mir irgendwo noch Hoffnung. Es geht, wenn man nur will. Wenn Probleme zu groß sind, verdrängen die Menschen sie tendenziell. Beim Klima glauben manche offensichtlich immer noch, dass es vielleicht gar nicht so schlimm kommt.

Deutschland hat also alles richtig gemacht?

Nein, Deutschland ist auch nicht der Musterknabe schlechthin. Auch wir müssten natürlich viel mehr für den Klimaschutz tun und uns auf die Folgen des Klimawandels vorbereiten. Die globale Erwärmung ist die größte Gesundheits­gefahr für die Welt­bevölkerung. Das betont die Welt­gesundheits­organisation WHO und das wissen wir schon seit vielen Jahren. Wir haben uns aber nicht darauf eingestellt.

Selbst wenn wir uns jetzt besser vorbereiten würden als vorher – gibt es auch Grenzen der Anpassung?

Auf jeden Fall. Zum einen ist der Klimawandel so komplex, dass es immer wieder Überraschungen geben wird. Man kann sich auch nicht an jedes Extremwetter anpassen. Beispiel Ahrtal: Wie will man sich auf solche Wassermassen vorbereiten, damit kein Schaden entsteht? Oder an Temperaturen bei uns von deutlich über 40 Grad. Das geht gar nicht. Irgendwann ist auch eine Grenze erreicht, was die Finanzierung angeht. Man kann nicht jedes Jahr komplett zerstörte Landstriche wieder aufbauen.

Seit der Krieg in der Ukraine ausgebrochen ist, reden wir in Deutschland plötzlich über Gas. Ist das eine Chance, zumindest was den Klimaschutz angeht?

Bei Corona habe ich auch erst gedacht, dass ein Umdenken einsetzt. 2020 ist der weltweite CO₂‑Ausstoß tatsächlich einmal kurzfristig gesunken – so stark wie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr. 2021 ging er dann aber wieder dramatisch nach oben. In der Gaskrise wird jetzt viel über erneuerbare Energien gesprochen. Aber auch Fracking wird wieder zum Thema. Das wäre so ziemlich das Schlimmste, was man machen kann, eine gigantische Umwelt­zerstörung. Was ich damit sagen will: Kurzfristige Lösungen im wirtschaftlichen Interesse sind in Krisen offensichtlich immer wichtiger. Es fehlen langfristige Strategien für die ganz großen Probleme – Klimawandel, Artensterben, Verschmutzung der Meere.

Wie erklären Sie sich, dass der Klimawandel nicht ernst genug genommen wird?

Die Physik sagt ganz klar: Noch mehr Treibhausgase in der Luft bedeuten eine noch stärkere Erwärmung. Seit Jahrzehnten gibt es technologische Lösungen und Anpassungs­strategien. Es gäbe Geld, das man nur anders verteilen müsste. Trotzdem kommen wir nicht vom Wissen zum Handeln. Denn Politiker und Politikerinnen, Wirtschafts­vertreter und ‑vertreterinnen sind es gewohnt, ständig zu verhandeln. Mit der Natur kann man aber nicht verhandeln. Und die Zeit läuft wirklich ab. Unsere Lebens­verhältnisse werden sich weltweit dramatisch verschlechtern. Es hilft auf jeden Fall, sich zu fragen, was Wohlstand für das eigene Leben heute bedeuten kann.

Wo sehen Sie momentan noch die größten Stellschrauben, um Klimawandel-Schadens­begrenzung zu betreiben?

Ein Hebel ist mehr Gerechtigkeit. Wegweisend ist da beispielsweise das Urteil des Bundes­verfassungs­gerichts, dass man nicht alles den nachfolgenden Generationen aufbürden kann, weil man sonst die Freiheitsrechte der Jüngeren einschränken würde. Da wird es sicherlich noch mehr Urteile geben. Wir leben in einem Wirtschafts­system, das Umwelt­zerstörungen belohnt. Das ist falsch. Es muss mehr Geld dahin gehen, wo es wirklich gebraucht wird: in die Energiewende und neue Technologien. Dafür muss die Politik die Rahmen­bedingungen schaffen. Atomkraft als nachhaltig zu bezeichnen, geht da beispielsweise in die falsche Richtung. Und die Menschen sollten im Alltag spüren, dass sie vom Klimaschutz profitieren. Damit also ein Pendler vom Auto auf den Zug wechselt, muss der pünktlich sein, günstig, mit gutem Internet.

Hilft es, wenn jeder und jede Einzelne den Alltag auf mehr Klimaschutz ausrichtet?

Der Klimawandel wird dadurch nicht gestoppt. Aber es hilft auf jeden Fall, sich zu fragen, was Wohlstand für das eigene Leben heute bedeuten kann. Heißt das, dreimal im Jahr eine Fernreise zu machen? Täglich eine kurze Strecke mit dem Auto zur Arbeit zu fahren statt mit dem Rad? Ein Recht auf Fleisch zu haben? Wir leben in einer konsum­orientierten Welt. Aber ist es das, was am Ende wirklich glücklich macht? Weniger ist oft mehr. Da geht es dann nicht nur um das Klima, sondern auch das eigene Wohlbefinden.