„Schwelender Bürgerkrieg“Wird Marine Le Pen die neue Präsidentin Frankreichs?
„Papa, bekommen wir bald einen Bürgerkrieg?“ Die Frage trifft Lucas“ Vater Philippe unvermittelt, eines Abends, per SMS. Sein Sohn, der bei der Mutter in einem Pariser Vorort lebt, hat gerade eine der Fernsehdebatten gesehen, in denen dieses Thema seit Wochen diskutiert wird: Steht Frankreich derart vor einer Zerreißprobe, dass sich angestaute Aggressionen in Gewalt entladen könnten?
Lucas ist kein kleines Kind mehr, einem 14-Jährigen kann man die Dinge erklären, sagt sich Philippe. Beruhigen will er ihn trotzdem. „Aber nein, es kommt bei uns nicht zum Krieg. Es wird manchmal gestritten, aber mit Worten. Mach dir keine Sorgen.“ Ob es eine gute Antwort ist? Von seinen Zweifeln darüber erzählt Philippe später bei einem Videotreffen mit Pariser Freunden.
Provoziert hatte die verstörende Debatte ein offener Brief von ehemaligen Generälen und anderen teilweise noch aktiven Mitgliedern des französischen Militärs im Rechtsaußen-Magazin „Valeurs Actuelles“ („Aktuelle Werte“). Sie zeichneten darin das Drohszenario eines zivilen Aufstands, warnten vor einem „schwelenden Bürgerkrieg“, vor „Islamismus und Horden aus den Vorstädten“.
Die Regierenden sollten endlich handeln, sonst werde ein militärisches Eingreifen notwendig. Der Brandbrief erschien am 21. April – exakt 60 Jahre nach einem gescheiterten Putschversuch französischer Generäle in Algerien gegen Präsident Charles de Gaulle. Einen weiteren konkreten Anlass gab es nicht; sie stützten sich lediglich auf ein diffuses Gefühl, im Land verrohten die Sitten und steige allerorts die Gefahr. Seit den Terroranschlägen von 2015 hat es stetig zugenommen.
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Die Regierung brauchte ein paar Tage, um zu reagieren. Dann nannte Verteidigungsministerin Florence Parly die Initiative „inakzeptabel“ und kündigte Sanktionen an. Laut Verfassung haben Angehörige der französischen Armee lediglich Befehle auszuführen, ihre eigenen politischen Ansichten aber zurückzustellen. Erst 1945 erhielten Soldaten das Wahlrecht. Ihr oberster Befehlshaber ist der Präsident.
Das Schreiben war ein Affront gegen Emmanuel Macron – zumal ein zweites Manifest von Soldaten folgte, die die Verfasser des ersten verteidigten. Diesmal blieben die Unterzeichner anonym. Macrons Autorität war beschädigt, doch er äußerte sich nicht dazu. Er ist vielmehr auf der internationalen Bühne unterwegs – mal organisiert er mit der neuseeländischen Premierministerin Jacinda Adern einen Videogipfel gegen Hassreden im Internet, mal lädt er zu Gesprächen über die Finanzierung afrikanischer Volkswirtschaften ein.
Applaus für rebellierende Generäle von Le Pen
Applaus bekamen die rebellierenden Generäle aber von Marine Le Pen. Die Rechtspopulistin ließ wissen, sie teile deren Furcht vor einem drohenden Chaos in Frankreich. Deshalb lade sie diese ein, „sich uns anzuschließen, um Teil der beginnenden Schlacht zu werden“. Welche Schlacht sie meinte, sagte sie auch: die Präsidentschaftswahl in genau einem Jahr.
Sie tritt zum dritten Mal an und hat gute Chancen, erneut die Stichwahl zu erreichen. Prognosen zufolge ist eine Wiederauflage des Duells Macron – Le Pen wie 2017 am wahrscheinlichsten, wobei der Abstand zwischen den beiden schmilzt: Inzwischen könnte Le Pen laut Umfragen mit 43 Prozent rechnen. Vor vier Jahren waren es noch 34 Prozent. Viele Wähler stimmten damals in der zweiten Runde vor allem für Macron, um Le Pen zu verhindern. Doch etliche von ihnen, vor allem Anhänger der Linken, vergraulte er seither mit seiner unternehmerfreundlichen Reformpolitik.
Auch der Pariser Philippe ist einer von ihnen. Bei der Wahl 2017 machte er in der ersten Runde sein Kreuzchen beim Sozialisten Benoît Hamon, in der zweiten zähneknirschend bei Macron. „Dabei mochte ich ihn nie, er ist ein typisches Produkt der französischen Elite: arrogant und abgehoben“, sagt Lucas“ Vater. Kommt es erneut zu einer Entscheidung zwischen dem Staatschef und Le Pen, werde er sich wahrscheinlich enthalten – wie viele andere. Könnte es dann knapp werden?
Le Pen arbeitet an Imagewandel
Le Pen jedenfalls arbeitet weiter an ihrem Imagewandel. 2018 änderte sie den Parteinamen von Front National in Rassemblement National (RN) und setzte ihre Strategie der „Entteufelung“ fort. So versucht sie, den RN vom Erbe ihres allzu offen rechtsextremen und antisemitischen Vaters Jean-Marie Le Pen zu lösen. Es bleibt der ideologische Kern mit dem Eintreten für einen Einwanderungsstop. Von einigen umstrittenen Positionen wie der Forderung nach einem Ausstieg Frankreichs aus der EU und dem Euro hat sie jedoch Abstand genommen und neuerdings befürwortet sie sogar eine Rückzahlung von Staatsschulden. Sonst, so sagt sie, drohe „der Vertrauensverlust in Frankreichs Wort“.
Die 52-Jährige tritt inzwischen so moderat auf, dass Innenminister Gérald Darmanin – ein Gewächs der Republikaner und innenpolitischer Hardliner – sie in einer Fernsehsendung als „lax“ bezeichnete. Gegenüber dem radikalen Islam sei sie „nicht hart genug“, so Darmanin, und riet ihr spöttisch: „Sie sollten Vitamine einnehmen.“ Le Pen, in einen eleganten schwarzen Hosenanzug gekleidet, verzichtete auf das hämische Grinsen, das sie früher in solchen Situationen gerne zeigte. Mit ernster Mine erwiderte sie, sie bekämpfe den Islamismus, doch den Islam als Religion greife sie nicht an. Das sind neue Töne.Tatsächlich sehen 42 Prozent der Franzosen den RN nicht mehr als Gefahr für die Demokratie. „Le Pen ist wirklich Teil der politischen Landschaft des Landes geworden“, sagt der Meinungsforscher Emmanuel Rivière. Bei den 25- bis 34-Jährigen stehe der RN sogar an erster Stelle. „Allerdings bleibt ihre Fähigkeit, über die eigenen Parteigrenzen hinaus Partner zu finden, relativ begrenzt“, so Rivière.
Mehrheit der Franzosen lehnt Rechtsextreme ab
Genau das ist Macrons Chance: Dass immer noch eine Mehrheit der Franzosen eine Rechtsextreme an der Staatsspitze ablehnt, die zwar stark ist, aber isoliert. So könnte er die Wahl 2022 erneut zur Entscheidung zwischen einer progressiven, proeuropäischen Vision einerseits und einer rückwärtsgewandten, nationalistischen Weltsicht andererseits stilisieren. Ab Januar hat er die EU-Ratspräsidentschaft inne und kann sich als Führungsfigur der Europäischen Union präsentieren.
Denn zu Hause steht Frankreichs Präsident schon länger unter Druck. Bei den monatelangen Demonstrationen der „Gelbwesten“ ab Herbst 2018 machte sich die Wut vieler Menschen über soziale Ungerechtigkeiten teilweise gewaltsam Luft. Es folgten zähe Proteste gegen eine geplante Rentenreform. In der Coronavirus-Pandemie hagelte es Kritik an Macrons Soloentscheidungen. Trotz eines großzügigen Kurzarbeitergeldes und Milliardenhilfen für besonders betroffene Branchen, Unternehmen, Künstler oder einkommensschwache Familien, ist die Stimmung angsterfüllt. Die Geburtenrate war zuletzt so niedrig wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr.
Auch droht die Pandemie, Macrons Bilanz zunichtezumachen: Befand sich die französische Wirtschaft Anfang 2020 noch im Aufschwung, steht Frankreich nun stark verschuldet und mit hoher Arbeitslosigkeit da. Frankreichs Haushaltsdefizit – so wurde am Wochenende bekannt – wird 2021 mit rund 220 Milliarden Euro einen Rekord erreichen. Damit sei der Fehlbetrag um etwa 47 Milliarden Euro höher ausgefallen als erwartet, sagte der französische Minister für öffentliche Finanzen, Olivier Dussopt, am Samstag. Dies sei die Folge der Corona-Unterstützungsmaßnahmen.
Linke können nicht profitieren
Trotzdem profitieren die einstmals großen Volksparteien, die Sozialisten und die Republikaner, kaum davon. Bei den Kommunalwahlen im vergangenen Jahr erzielten sie und vor allem die französischen Grünen zwar gute Ergebnisse, und das ist auch bei den Regionalwahlen im Juni zu erwarten. Doch bei der Präsidentschaftswahl dürften sich die Stimmen der Linkswähler mangels eines gemeinsamen Kandidaten auf jene der Sozialisten, Grünen und radikalen Linken verteilen.
Deshalb zielt Macron in erster Linie darauf ab, die Republikaner zu schwächen. So versprach er zuletzt, die Sicherheitskräfte zu verstärken und den Drogenhandel verschärft zu bekämpfen. Auch unter ihnen konkurrieren bereits mehrere Bewerber um die Kandidatur. Soeben ließ der frühere EU-Kommissar und Brexit-Chefunterhändler der EU, Michel Barnier, wissen, dass er „riesigen Ehrgeiz für mein Land“ habe und schlug einen drei- bis fünfjährigen Einwanderungsstopp für Menschen von außerhalb der EU vor.
Das klingt nach Wahlkampf, doch wird der 70-Jährige bislang wenig als Innenpolitiker wahrgenommen. Anders als Edouard Philippe, der bis 2020 Macrons beliebter Premierminister war. Der Konservative trat der Regierungspartei nie bei. Philippe stünde für eine ähnliche Politik wie der Präsident, aber einen anderen Stil – sachlicher, nüchterner. Vielleicht könnte das Frankreich beruhigen. Damit 14-Jährige sich nicht mehr ernsthaft Sorgen vor einem Bürgerkrieg machen müssen.