Gerhart Baum wird 90Unermüdliche Leidenschaft hält ihn jung
- Gerhart Baum, einstiger Innenminister sowie großer und streitbarer Liberaler, wird 90 Jahre alt.
- Ein Hausbesuch in Köln.
Köln – Bevor wir das Gespräch beginnen können, steigt Gerhart Baum aufs Dach. Vom vierten Stock seiner Altbauwohnung in der Kölner Südstadt laufen wir die Treppe hinauf in den fünften. Von dort sind es nur noch ein paar Stufen in den sechsten, auf die Terrasse. Der 89-Jährige erklimmt sie altersgemäß mit Mühe, aber problemlos. Der Rhein, der in diesem Jahr so wenig Wasser führt wie selten zuvor, liegt in Sichtweite. Links davon präsentiert sich in größerer Entfernung der Kölner Dom bis zum Sockel in seiner ganzen majestätischen Pracht.
Zurück in der vierten Etage, nehmen wir an einem Holztisch Platz. Baum trägt ein graues Poloshirt, eine blaue Hose und weißbesohlte Sneakers. An den Wänden hängen Kunstwerke, eines von Sigmar Polke. Auf den Tischen liegen Bücher, viele Bücher. Dazu Zeitungsstapel mit Artikeln, die er schon seit längerem lesen will, aber noch immer nicht gelesen hat.
Baums Frau Renate Liesmann-Baum, die früher Musikreferentin der Stadt Köln war, ist in der Küche beschäftigt. Nur einmal wird sie sich in den nächsten zwei Stunden zu Wort melden. Auf die Frage hin, ob es eigentlich einen Zeitpunkt gab, an dem Gerhart Baum in den Ruhestand ging, streckt sie kurz den Kopf ins Wohnzimmer und fragt: „Wie bitte?!“ Damit ist die Frage beantwortet.
Beinahe lässig
Die Atmosphäre in diesem Bildungsbürgerhaushalt ist luftig und frei, beinahe lässig. Selbst im Badezimmer sind Fotos angebracht. Eines zeigt den Hausherrn als Innenminister auf der Kabinettsbank des Bonner Bundestages. Neben ihm sitzt Genscher, der Außenminister, rechts davon Helmut Schmidt, der strenge SPD-Kanzler. Burkhard Hirsch ist mehrfach zu sehen, der FDP-Partei- und Lebensfreund. Während andere Rentner nach Mallorca flogen, fuhren Baum und Hirsch lieber zum Bundesverfassungsgericht nach Karlsruhe, um gegen staatliche Zumutungen und für die Verteidigung von Bürgerrechten zu klagen. Das war ihr Leben.
Worum es denn eigentlich gehen solle, will Baum wissen. Als er hört, dass bevorzugter Gesprächsgegenstand die „politische Leidenschaft“ von Menschen sei, ist der Jurist rasch entzündet. Denn es ist ja vermutlich nicht übertrieben zu sagen, dass er die Leidenschaft IST – und zwar offenbar schon seit Jahrzehnten. Das Gespräch jedenfalls liefert den letzten Beweis dafür.
Von Zerstörung Dresdens geprägt
Die Leidenschaft des Gerhart Baum, der mit zweitem Vornamen Rudolf heißt, hat ihre Wurzel im Nationalsozialismus, der den Zweiten Weltkrieg auslöste. „Das Prägende war die Zerstörung Dresdens“, sagt er, die Stadt, in der er 1932 zur Welt kam. „Feuer, Bomben, von denen man nicht wusste, ob sie einen töten würden oder nicht, die brennende Stadt.“ Die Mauern waren heiß. Und die Toten lagen zu Bergen aufgeschichtet. Dazu Hunger. Der Junge wurde als 10- oder 11-Jähriger sogar noch gemustert, so genau weiß der Pensionär das Alter nicht mehr. „Das hat sich mir eingeprägt“, sagt er bald acht Jahrzehnte später. „Du musst möglicherweise an die Front.“
Dazu kam es nicht. Doch die Kriegs- und Nachkriegserfahrung blieb grundlegend. „Man entwickelt Kräfte, die im normalen Leben gar nicht nötig sind“, sagt Baum. Das habe geholfen: „auszuhalten, zuzupacken, Gelegenheiten zu nutzen“. Einerseits. Andererseits sollte es nie wieder so werden, wie es war. Ein Lehrer am Tegernsee in Bayern, an den die bildungsbürgerliche Familie nach dem Krieg übersiedelte, war in einer Widerstandsgruppe. Er motivierte die Schüler, politisch wachsam und aktiv zu sein. Baum schrieb an Thomas Mann, den exilierten Romancier und Autor des Buches „Deutschland und die Deutschen“. Der bestärkte ihn ebenfalls.
„Überall stieß man auf die alten Strukturen, das hat uns junge Leute unheimlich zum Widerspruch gereizt“, sagt Baum. Die nordrhein-westfälische FDP, in die er nach einem neuerlichen Umzug gen Köln 1954 eintrat, sei „naziverseucht“ gewesen. Und der 20. Juli, der Jahrestag des gescheiterten Attentats auf Adolf Hitler, wurde verschwiegen.
Mit Mitte 30 in den Rat der Stadt Köln eingezogen
Es folgte die zweite Etappe des Baum’schen Lebens – jene, die bis heute seinen Ruf begründet. Der Rechtsanwalt zog 1969 mit Mitte 30 in den Rat der Stadt Köln ein, 1972 weiter in den nahegelegenen Bonner Bundestag, wo er noch im selben Jahr zum Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesinnenministerium aufstieg und nach sechs Jahren selbst Innenminister wurde. Es war die Zeit des Bündnisses mit der SPD.
Baum war Repräsentant des linksliberalen Flügels seiner Partei. Er wollte Aufbruch und Reformen – und damit jene gesellschaftlichen Verkrustungen aufbrechen, die das Land seit Konrad Adenauer fesselten. Der Kampf um die Ostverträge, in dessen Verlauf Baum auf der Straße Prügel angedroht wurden, fällt in diese Jahre, aber auch der Terror der Roten Armee Fraktion. Der Minister sorgte dabei für besonderes Aufsehen. Denn er debattierte öffentlich mit einem RAF-Mitglied, dem Anwalt-Kollegen Horst Mahler. Das brachte ihm einen Misstrauensantrag der Opposition ein.
Gerhart Baum: „Eine andere Partei kam für mich nicht infrage“
1982 zerbrach das Bündnis mit der SPD. Bundeswirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff, dessen Neffe Alexander heute im Parlament sitzt, betrieb den Wechsel zur Union unter Führung Helmut Kohls. Außenminister Hans-Dietrich Genscher unterstützte das – zum Verdruss Baums und seiner Freunde. Die Wirtschaftsliberalen gewannen gegenüber den Linksliberalen die Oberhand. Manche der Unterlegenen traten aus der Partei aus.
Sie hatten tiefe Überzeugungen, die sie in einer schwarz-gelben Koalition verraten sahen. Andere machten weiter, allen voran Baum. „Eine andere Partei kam für mich nicht infrage“, sagt er. „Dann kam der Trotz: Du kannst denen die liberale Partei nicht überlassen, Du musst dabeibleiben. Und dann eben: sich wehren! Ich hatte Spaß am Widerstand.“
In Karlsruhe gegen Gesetze geklagt
Gerhart Baum war damals gerade 50 alt geworden. Andere hätten vielleicht schon ihren Ruhm verwaltet oder ihre Bitternis gepflegt. Er nicht. Baum war bis 1994 Bundestagsabgeordneter, hat die FDP geärgert, in Karlsruhe gegen Gesetze geklagt, die ihm freiheitsbeschränkend erschienen, sich bald in Kulturthemen gestürzt. Wenn man ihm heute gegenübersitzt, dann scheint es, als werde Baum jünger statt älter. Die Leidenschaft brennt einfach weiter.
Das hat mit seiner Partei zu tun, der FDP, und der Idee, die sie verkörpert oder verkörpern sollte. „Bei uns ist das Leitmotiv Freiheit – allerdings: Freiheit in Verantwortung, was ich jetzt nicht immer sehe“, sagt er, um diese drei Worte ein wenig gedehnt zu wiederholen und mit einem akustischen Ausrufezeichen zu versehen: „Freiheit in Verantwortung!“ Baum fährt fort: „Die FDP muss sagen, was Liberalismus im 21. Jahrhundert bedeutet – verdammt nochmal.“ Dann schlägt er mit der Hand auf die Lehne seines Sessels.
Der Liberale schimpft weiter: „Die FDP wird als Status quo-Partei wahrgenommen; das liegt an den alten Ladenhütern, die sie immer bringt. Was will sie denn mit dem Verbrennungsmotor? Das ist doch furchtbar.“ Und dann das Nein zum Tempolimit. Er wisse nicht, was ein Ja nutzen würde. Aber in jedem Fall wäre es eine Symbolentscheidung, nämlich dafür, dass es nicht mehr so weiter gehe wie bisher. Baum hebt die Stimme: „Kommt raus aus Eurer brüchigen Normalität. Ihr habt die Realität beiseitegeschoben, um bequem leben zu können. Das ist zu Ende.“ Auch das Wort von der „Gratismentalität“ im Kontext der Debatte um das Neun-Euro-Ticket fuchst ihn. „Das ist doch vermeidbar, verdammt nochmal!“
Kein Kontakt zu Christian Lindner
Der Appell richtet sich an und zugleich gegen den Vorsitzenden der Partei, Christian Lindner, zu dem Baum, wie er sagt, seit zwei Jahren keinen Kontakt mehr hat. Bei der Gelegenheit erinnert er an ein Treffen, an dem einst neben Genscher und dessen Außenminister-Nachfolger Klaus Kinkel der heutige Parteichef teilgenommen habe. Frau Baum habe gefragt: „Wofür brennen Sie eigentlich?“ Lindner habe geantwortet: „Frau Baum, was meinen Sie damit? Wofür brennt denn Ihr Mann?“ Frau Baum habe wiederum entgegnet: „Wissen Sie das nicht?“
Wenn man Gerhart Baum so reden hört, dann denkt man, niemand liebe die FDP so wie er – und als sei die Frucht dieser Liebe Verzweiflung. „Im Grunde steckt mein ganzes Leben in dieser Partei und dieser Politik“, sagt er.
Freundschaften halte ihn jung
Das andere, das Baum lebendig hält, sind, wenn man es recht versteht, Menschen – genauer: Freundschaften. Alte und neue.
Unter den alten ragte sechs Jahrzehnte der besagte Burkhard Hirsch heraus, der vor zweieinhalb Jahren in jenem Alter starb, in dem Baum jetzt ist: mit 89. Der einstige Innenminister von Nordrhein-Westfalen und Bundestagsvizepräsident war in Magdeburg zur Welt gekommen und damit gebürtiger Ostdeutscher wie Baum, als Düsseldorfer Wahl-Rheinländer wie Baum, Rechtsanwalt wie Baum, Parlamentarier wie Baum, leidenschaftlich wie Baum – nur: konservativer als Baum. So stimmte Hirsch 1997 beispielsweise dagegen, Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe zu stellen. „Ich war der Radikalere“, sagt der Überlebende. „Aber wir waren unglaublich nahe beieinander. Er war geradlinig, unglaublich, bis zur Sturheit. Oft ertappe ich mich, dass ich zum Hörer greife und ihn anrufen will.“
Wie er dessen Tod empfunden habe. „Schwierig“, sagt Baum, der Hirsch in den 1960er-Jahren das erste Mal traf und bis zum Schluss siezte, und ist erstmals einsilbig. Schließlich erzählt er doch, vom letzten Abend, einer Diskussionsveranstaltung im Benrather Schloss zu Düsseldorf. „Er sah da schon ziemlich mitgenommen und schlecht aus. Dann zog er den Mantel an. Wir standen zusammen im Gang. Und ich habe zum ersten Mal in meinem Leben den Impuls gehabt, ihn zu umarmen. Er hat es akzeptiert. Das hätte er vorher nie getan. Das ist merkwürdig. Abschied.“ Hier klingt etwas Weiches an, das man bei Männern dieses Alters nicht so oft findet.
Langjährige Gefährten
Weitere Gefährten waren oder sind es noch: die ehemalige Bundestagsvizepräsidentin Hildegard Hamm-Brücher, der langjährige EU-Kommissar Günter Verheugen, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, kämpferische Bundesjustizministerin – und ein paar Junge in der FDP, auf die Baum mit Sympathie blickt: die Bundestagsabgeordneten Johannes Vogel zum Beispiel oder Konstantin Kuhle. „Meine Freunde und ich“, diese Formulierung taucht häufiger auf, wenn Baum spricht.
Neben der Politik habe er sein „Leben geöffnet für andere Freundschaften“, sagt Baum, vornehmlich in die Kulturszene hinein. Da ist er nicht ohne Anspruch. „Dann werde ich auch wählerisch.“ Warum solle er sich mit Menschen treffen, mit denen er sich nichts mehr zu sagen habe. Bisweilen sei der andere „weg, zurückgeblieben“. Bloß nicht stehen bleiben. Nein, das will er nicht.
Gerhart Baum sucht den Dialog
Baum sucht den Dialog und das Unbekannte. Und: Er will gehört werden, nach wie vor. Das wird seiner Frau manchmal „zu heftig“. Sie findet, dass er „Torschlusspanik“ habe. Baum berichtet: „Um 18.05 Uhr ruft der Deutschlandfunk an. Das bereite ich jedes Mal vor. Und von dem, was ich vorbereite, kommt vielleicht 20 Prozent in der Sendung an. Aber ich hab’s da.“ Oder er schreibt an andere – an die Kolumnistin Carolin Emcke und deren „Zeit“-Kollegen Thomas Assheuer oder an Claus Leggewie, den Politologen. „Ich versuche, in einen Dialog einzutreten mit Leuten, die mir auffallen“, sagt Baum. Andere schalten irgendwann mehrere Gänge zurück. Er nicht. „Die Leidenschaft, dabei zu sein, aktiv zu sein, etwas zu bewirken, hat eigentlich nie nachgelassen“, sagt Baum.
So nimmt die Aufzählung seiner Aktivitäten kein Ende: Er sitzt dem Kulturrat des Landes Nordrhein-Westfalen vor, kümmert sich um internationale Menschenrechtsfragen, besucht die Biennale in Venedig oder die Musiktage in Donaueschingen, zwischendurch ist immer mal wieder Berlin an der Reihe, wo Baum eine Zweitwohnung hat. Nicht zuletzt veröffentlicht er Bücher. Etwa 2021. Der Titel: „Freiheit“. Was sonst? Ein anderer Titel lautet: „Meine Wut ist jung.“
Die Zeitung auf dem Smartphone
Während des Gesprächs springt mehrmals Baum auf, läuft ins Nachbarzimmer, um irgendetwas zu suchen, und kommt dann mit Büchern zurück, in denen er zu finden ist.
Das Interesse lässt im Urlaub nicht nach. Früher sei er mit dem Auto in der Bretagne zum nächsten Kiosk gefahren, um bisweilen gesagt zu bekommen, dass die zwei Exemplare der „Süddeutschen Zeitung“ leider schon ausverkauft seien. Jetzt hält Baum am Wohnzimmertisch das Smartphone mit der roten Hülle in die Luft. Da sei heute alles drauf. Toll.
Zwischendurch darf Baum noch erleben, dass über die Verlängerung von Laufzeiten für Atomkraftwerke debattiert wird, an deren Genehmigung er als Innenminister teilweise selbst beteiligt war. Einen Umweltminister gab es noch nicht. „Jede Schraube wurde da gesondert beurteilt und kriegte eine Aktennotiz“, sagt Baum. „Irre.“
Mehrere Herzoperationen
Und das Alter? „Ich merke das Alter natürlich.“ Baum hat mehrere Herzoperationen hinter sich, dabei eine Herzklappe bekommen und berichtet von dem Eingriff mit beinahe technischer Faszination. Er setzt hinzu: „Ich muss sehr aufpassen, dass ich nicht hinfalle.“ Beim Gang auf irgendeine Bühne sage er manchmal: „Bitte geben Sie mir Ihren Arm!“Doch dann liest er Johann Wolfgang von Goethe oder Thomas Mann und wie die sich zum Alter einstellten. Der Dichter aus Weimar habe gepredigt: „Tätig bleiben!“
Zudem habe er das schöne Wort geprägt von der „vorschwebenden Zeit“, die man nicht mehr strukturieren könne. Baum fällt dazu ein Beispiel ein. So hat er zugesagt, im Oktober in einer Talkshow zu erscheinen. Die Redaktion habe gebeten, dass er in den Tagen zuvor nicht in eine andere Talkshow gehe. „Warum verlangen die eigentlich nicht eine Zusicherung, dass ich noch am Leben bin?“, ruft Baum über den Tisch – und freut sich. Schelmisch wird der bald 90-Jährige schließlich bei der Feststellung, dass er „jetzt die Deutungshoheit hat. Leute, die mir widersprechen können, sind nicht mehr da.“
„Wieder ein Tag. Was kann ich machen?“
Nein, er wird nicht müde. „Ich stehe jeden Morgen auf und sage: Wieder ein Tag. Was kann ich machen?“
Nach zwei Stunden nimmt Gerhart Baum zwei Bücher zum Signieren in die Hand. „Ihr Vorname!“ Dann legt er los und sagt beim Hinausgehen: „Auch wenn Sie nichts schreiben sollten: Es hat mich gefreut.“