Gespräch mit Alan Kurdis Vater„Ich sehe ihn jedes Mal wieder untergehen“
- Sein Foto ging um die Welt: Vor vier Jahren wurde der kleine Alan Kurdi an der Mittelmeerküste angespült – ertrunken auf der Flucht nach Europa.
- Seinen Vater hat der Anblick bis heute nicht losgelassen.
- Ein Gespräch über die tragische Flucht aus Syrien.
Erst am Morgen hat er in den Schlaf gefunden. Zuvor, am Abend, so erzählt es seine Schwester, seien sie erst spät zurückgekehrt. Dann lag er lange da, ruhelos, wachgehalten von Erinnerungen, in dieser Nacht noch stärker als sonst. Jetzt, am Nachmittag, sitzen Tima und Abdullah Kurdi nebeneinander da, in dem Haus in Erbil im Nordirak, in dem er lebt, bereit für ein Gespräch.
Es ist der Tag nach dem Jahrestag. Vier Jahre zuvor, am 2. September 2015, ertranken seine Frau und seine beiden Söhne, die 35-jährige Rehanna, der fünfjährige Ghalib und der zweijährige Alan, als die Familie zusammen mit weiteren Flüchtlingen vom türkischen Bodrum auf die griechische Insel Kos übersetzen wollte. Nur Abdullah Kurdi überlebte.
Alans Leichnam wurde am selben Tag auf der türkischen Seite an den Strand gespült, wo eine türkische Fotografin ein Bild von ihm machte: ein kleiner Junge, auf dem Bauch liegend, den Kopf zur Seite gedreht, als würde er schlafen, erschöpft, an einem unpassenden Ort, in den auslaufenden Wellen. Das Foto wurde zu einem Symbol des Flüchtlingsjahres 2015, zu einer Ikone, in vielerlei Hinsicht. Es ging, so muss man es sagen, um die Welt. Abdullah Kurdi, 43 Jahre ist er inzwischen alt, wirkt in sich gekehrt, still, wie benommen.
Das Gespräch findet via Skype statt. Tima Kurdi, die seit 20 Jahren in Kanada lebt, übersetzt.
Herr Kurdi, wie geht es Ihnen?
Abdullah Kurdi: Es war ein sehr schwerer Tag für mich.
Wie haben Sie ihn verbracht?
Abdullah Kurdi: Wir sind in ein Flüchtlingslager gefahren und haben dort Schuluniformen verteilt. Wenn ich sehe, wie die Kinder sich freuen, dann ist das ein großer Trost für mich.
Tima Kurdi: Wir machen das seit drei Jahren. Ich komme jedes Jahr zum Jahrestag nach Erbil, um bei Abdullah zu sein. Die Stiftung ist sehr klein, nur ich und mein Bruder, und wir haben nicht viel Geld, nur einige Spenden, aber damit decken wir die Auslagen. Das Lager liegt gut zwei Stunden von hier, in der Nähe von Dohuk, 1400 Familien leben dort.
Wie kam es zu der Stiftung und den Hilfsaktionen?
Tima Kurdi: Der Ursprung war, dass wir herumgefahren sind und die Flüchtlingscamps im Nordirak angesehen haben. Wir sahen, wie die Kinder spielten, ganz unschuldig. Und Abdullah sagte: „Wenn es irgendeinen Grund gibt, der mich am Leben hält, dann wäre es, diesen Kindern zu helfen.“
***In der Geschichte des Fotos des toten Jungen am Strand gibt es mehrere Phasen. In der ersten ist die Welt geschockt – und reagiert, sehr überwiegend, mit Mitgefühl. Der kleine Alan symbolisiert in all seiner Unschuld das Leiden des syrischen Volkes. Unzählige Male wird das Bild in den sozialen Netzen geteilt. Großbritannien verspricht, 20.000 syrische Flüchtlinge aufzunehmen, Frankreich 24.000. In Deutschland werden die Syrer, die hier ankommen, zum Teil begeistert begrüßt.
Aber bald kamen auch die Vorwürfe. Erst leise, dann lauter. War es nicht verantwortungslos, sich mit seiner Familie auf ein flattriges Schlauchboot zu setzen und aufs Meer zu wagen? Und hatte er nicht selbst am Steuer des Bootes gesessen? Dass er selbst beteuerte, nur zeitweise das Steuer übernommen zu haben, als Schleuser das Boot ihrem Schicksal überließen, dass Recherchen belegten, wie üblich dieses Vorgehen der Menschenschmuggler ist, das kam dann längst nicht mehr bei allen an.
Abdullah Kurdi hat es gutgeheißen, dass das Bild seines Kindes gezeigt wird, um auf das Leid der Flüchtlinge aufmerksam zu machen. Aber nun fühlte sich jeder frei, die Geschichte des toten Alan in seinem Sinne zu nutzen. Auszuschlachten, könnte man auch sagen.
Herr Kurdi, mit welchem Ziel sind Sie damals in der Türkei aufgebrochen?
Abdullah Kurdi: Wir wollten irgendwohin nach Europa, wo es sicher ist. Ich habe Deutschland bevorzugt. Aber ich habe gesagt, lasst uns erst nach Griechenland kommen, dann sehen wir weiter.
Es gab immer widersprüchliche Schilderungen über die Gründe für Ihre Flucht. Gab es einen bestimmten Auslöser?
Tima Kurdi: 2014 arbeitete mein Bruder in der Türkei und unterstützte seine Familie in Kobane. Aber als der IS 2014 Kobane überfiel, kamen alle in die Türkei. Ein Jahr lang war die Situation wirklich schlecht. Manchmal hat er sieben Tage die Woche gearbeitet, manchmal hatte er wochenlang keine Arbeit. Die Kinder aßen trockenen Reis und Joghurt. Den Vermieter wiederum kümmert es nicht, ob du Geld hast oder nicht, er will seine Miete. Deshalb waren da Tausende Flüchtlinge, deren einzige Hoffnung es war, nach Europa zu kommen.
Wie hat er die Flucht dann finanziert?
Tima Kurdi: Ich habe dann, nach einem Jahr, gesagt: Okay, ich bezahle euch die Reise. Und ich bereue das für den Rest meines Lebens. Ich bezahlte die Reise, und ich fühle mich schuldig, weil sie starben und weil ich dafür zahlte.
***Tima Kurdi hatte damals einen Friseursalon in Kanada. Sie erzählt, wie sie zuvor versucht hatte, Einreisegenehmigungen für die Familie eines weiteren Bruders und Abdullahs zu bekommen, und scheiterte – an Kosten und an Regelungen. „Faktisch“, sagt sie, „war es damals unmöglich für syrische Flüchtlinge, nach Kanada zu kommen.“
Das änderte sich erst nach Alans Tod. Da bot Präsident Erdogan ihm an, in die Türkei zu kommen. Aber nach dem Tod seiner Familie, nimmt Abdullah Kurdi das Angebot von Masud Barzani an, des Präsidenten der Autonomen Region Kurdistan, in den Nordirak zu kommen. „Weil es eine kurdische Region ist und weil es nah an den Gräbern ist, an Kobane.“ Der Vater ist dennoch ein gebrochener Mann. „Jedes Mal, wenn jemand meine Familie erwähnt, sehe ich ihn wieder untergehen“, sagt er.
Haben Sie psychologische Hilfe bekommen?
Tima Kurdi: Ich habe so oft versucht, ihn dazu zu überreden, aber er hat immer abgelehnt. Ich möchte ihn fast zwingen, Hilfe anzunehmen. In Erbil gibt es diese Hilfe aber nicht. Seine Stimmung ändert sich jeden Tag. Und wenn er davon hört, wie immer wieder Menschen auf dem Mittelmeer ertrinken, dann bringt ihm dies den Schmerz umso stärker zurück.
Die deutsche Organisation Sea-Eye hat ihr Schiff „Alan Kurdi“ getauft ...
Abdullah Kurdi: Ich bin sehr froh darüber, dass dieser Geist mit dem Namen meines Kindes verbunden ist. Und ich kann nur an Italien und alle anderen Länder appellieren, die Häfen für die Schiffe zu öffnen.
***Er würde, sagt er noch, am liebsten auf dem Flüchtlingsschiff mitfahren und Menschen retten. Was ein Wunsch bleiben wird, weil er seit einer Herzoperation nicht mehr belastbar sei. „Denkt an die Menschen“, hatte Abdullah Kurdi in dem Gespräch noch gesagt. Es ist der fast naiv wirkende Appell eines Mannes, mit dessen Namen in den vergangenen Jahren eine Menge Politik gemacht wurde.
Abdullah und Tima Kurdi
Abdullah Kurdi, ein aus Kobane stammender Syrer kurdischer Abstammung, gelangte im September 2015 zu unfreiwilliger Berühmtheit: als Vater des ertrunkenen zweijährigen Jungen, dessen Bild damals um die Welt ging. Bei dem Versuch, von der Türkei über das Mittelmeer nach Griechenland zu fliehen, starben damals auch seine Frau und sein älterer Sohn. Er lebt heute in Erbil im Nordirak. Seine Schwester Tima, die in Kanada lebt, engagiert sich seit dem Tod ihrer Neffen und ihrer Schwägerin für die Belange von Flüchtlingen. Sie hat auch ein bislang nur auf Englisch erschienenes Buch über die Familie geschrieben. Dem Wunsch, ihre Geschichte zu verfilmen, haben die Kurdis (hier im Skype-Gespräch) vehement widersprochen. Zuletzt haben sie einen Produzenten, der das Veto ignorierte, heftig kritisiert.