Berlin – Die große Koalition in Berlin steckt in der Krise. Sowohl CDU als auch SPD fahren eine Wahlniederlage nach der anderen ein. Die Sozialdemokraten suchen seit Monaten nach neuen Parteivorsitzenden, und die Union ist in der Frage gespalten, wer die Nachfolge von Angela Merkel im Kanzleramt antreten soll beziehungsweise könnte.
Und dann ist da ja auch noch der Dauerstreit über die Grundrente. Die Zukunft der Koalition: unklar. Anne Will will von ihren Gästen am Sonntagabend daher wissen: „Die Führungsfrage – wissen CDU und SPD noch, wo sie hinwollen?“
Die Gäste
Einer, der es wissen müsste, ist Paul Zimiak. Als CDU-Generalsekretär ist er maßgeblich für die inhaltliche Strategie seiner Partei zuständig. „Wir müssen eine Zukunftsvision entwickeln“, sagt er.
Eine große Zukunft in der Politik schreiben viele dem Chef der Jusos, Kevin Kühnert, zu. Der bekennende Groko-Kritiker sagt mit Blick auf die immer weniger in Erscheinung tretende Kanzlerin: „Wir können uns eine Orientierungslosigkeit nicht mehr leisten.“
Zu Gast ist auch die ehemalige Vorsitzende der Piratenpartei, Marina Weisband. Mittlerweile ist sie Mitglied der Grünen. Warum ausgerechnet sie die Lage bei den Christdemokraten und den Sozialdemokraten analysieren soll, ist auf den ersten Blick nicht ersichtlich.
Für den journalistischen Blick von außen hat Anne Will gleich zwei Gäste eingeladen. Kristina Dunz ist Parlamentskorrespondentin der Rheinischen Post und hat zudem ein Buch über die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer geschrieben. Ihr Eindruck: AKK komme aus dem derzeitigen „Tal nicht mehr heraus“. Ihr Kollege Gabor Steingart stellt fest: In der Koalition fehle die Vertrauensbasis.
Groko-Streit auf offener Bühne
Zunächst geht es um das Machtvakuum in der CDU und im Kanzleramt. Friedrich Merz hatte nach der Landtagswahl in Thüringen das Erscheinungsbild der großen Koalition und damit das der Bundeskanzlerin als „grottenschlecht“ bezeichnet. Klar, da muss Generalsekretär Ziemiak widersprechen. Schließlich hätte die Koalition in den vergangenen zwei Jahren einige Projekte umgesetzt.
Das öffentliche Bild der Regierung sei allerdings in der Tat nicht das beste. Dafür macht Ziemiak allerdings vor allem die SPD-Vertreter in der Regierung verantwortlich, allen voran Außenminister Heiko Maas. Dieser hatte Kramp-Karrenbauers Vorschlag einer international kontrollierten Sicherheitszone in Nordsyrien im Rahmen einer Pressekonferenz mit seinem türkischen Amtskollegen kurzerhand als unrealistisch abgetan. „Das ist eine Schande“, sagt Ziemiak.
Juso-Chef Kühnert dreht den Spieß um. Er verweist darauf, dass AKK den Außenminister lediglich per SMS über ihre Pläne informiert hatte. Wenn so die Form der Zusammenarbeit aussehe, sei ein Auftritt wie der von Maas „folgerichtig und zeigt den Zustand der GroKo“.
Die Neu-Grüne Weisband richtet den Blick vor allem auf die CDU. Bei der Union sei keine Vision erkennbar, sagt sie und setzt damit ein neues Thema in der Debatte. Dass es diese Visionen in der Politik brauche, bestreitet in der Runde niemand. Würde Altkanzler Helmut Schmidt noch leben, hätte wenigstens er widersprochen. Schmidt sagte einst: Wer Visionen hat, solle zum Arzt gehen.
Vorstellungen, wie die Politik der nächsten Jahre auszusehen hat, ist die eine Sache. Ob diese dann auch umsetzbar sind, die andere. „Ich habe wenig Hoffnung, dass eine Zukunftsvision in der restlichen Zeit der GroKo entsteht“, sagt CDU-General Ziemiak. Lust auf die Zukunft sieht anders aus.
Zwischen „Mottenkiste“ und „Hartz-IV-Blödsinn“
Das sieht auch Kühnert so. Als Beispiel kommt er noch einmal auf den Syrien-Vorstoß von Kramp-Karrenbauer zurück. „Wir ergötzen uns daran, dass es mal einen Vorschlag gab“, sagt er. Dies sei bezeichnend für den Zustand der Koalition. Kühnert geht nun in den Wahlkampfmodus über und zählt auf, was alles nicht mit der Union umsetzbar sei: Vermögenssteuer, höhere Transferleistungen und die Abschaffung des „Hartz-IV-Blödsinns“. Ziemiak reagiert sofort und antwortet prompt mit ähnlichen Parolen. Der Juso-Chef zeige: „Die Visionen der SPD sind Ideen aus der Mottenkiste.“
Anne Will lenkt die Diskussion nun auf einen aktuellen Streit, der die große Koalition seit Monaten beschäftigt: die Grundrente. Entscheidender Teilaspekt ist dabei die Bedürftigkeitsprüfung. Die SPD will sie verhindern, die Union besteht darauf – zumal sie auch im Koalitionsvertrag so vereinbart ist. Kostenunterschied: rund 2,8 Milliarden Euro jährlich.
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Für Kühnert ist der Koalitionsvertrag unerheblich. Innerhalb von vier Jahren könne sich Vieles verändern, sagt er. Dabei sind doch noch nicht einmal zwei Jahre um. Ziemiak richtet den Blick auf die kommenden Jahrzehnte. Denn die jüngere Generation müsste letztlich alle sozialen Wohltaten bezahlen. Ein Hauch von Visionen fliegt durchs TV-Studio.
Die entscheidende Frage
Anne Will stellt nun die entscheidende Frage: Ist das Thema Grundrente so wichtig, dass am Ende die Koalition daran scheitern könnte? Steingart verneint das. „Der Bruch wird dadurch nicht kommen“, sagt er. Auch Kristina Dunz hält das eher für unwahrscheinlich. „Wahrscheinlich gibt es einen gesichtswahrenden Kompromiss.“ Einen Koalitionsbruch will sie dennoch nicht ausschließen. Sowohl bei der CDU als auch bei der SPD stünden zwei richtungsweisende Parteitage in den kommenden Wochen an. Wenn die Regierung den Winter übersteht, hält sie bis zum Ende durch“, meint die Journalistin. Gleichzeitig sagt sie: Wenn allen Ernstes die GroKo an der Grundrente scheitert, dann hat sie es nicht anders verdient.“
Fazit
Ziemiak und Kühnert zeigen durch ihren Streit auf offener Bühne, dass die Zukunft der Regierung in der Tat unsicher ist. Je nachdem, wer zukünftig die SPD führt und ob auf dem CDU-Parteitag Friedrich Merz offen die Kanzlerkandidatenfrage ausspricht, dürfte auf die Koalition ein heißer Winter zukommen.