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Impfkampagne in DeutschlandGefährden nicht abgesagte Impftermine die Herdenimmunität?

Lesezeit 7 Minuten
Impfzentrum Köln

Menschen warten vor dem Impfzentrum in Köln. (Archivbild)

Köln/Berlin – Für Mario Czaja, Chef des Deutschen Roten Kreuzes in Berlin, liegen die Konsequenzen klar auf der Hand: In den Impfzentren wurde festgestellt, dass die Hauptstädter immer mehr Impftermine sausen lassen – ohne sie abzusagen. Deshalb fordert der CDU-Politiker und frühere Gesundheitssenator eine „Impfterminschwänzer-Abgabe“ in Höhe von 25 bis 30 Euro. Czaja hat damit bundesweit eine kontrovers geführte Debatte ausgelöst. Wie ist diese Forderung einzuschätzen? Wie ist die Lage tatsächlich? Wir beantworten die wichtigsten Fragen rund um dieses Thema:Handelt es sich bei den nicht abgesagten Impfterminen tatsächlich um ein Problem für die Impfkampagne?

Czaja spricht davon, dass in den Berliner Impfzentren die „No-Show-Rate“ – also die Quote der nicht wahrgenommenen, aber auch nicht abgesagten Termine - zwischen fünf und zehn Prozent beträgt. Berichte einer wachsenden Zahl von „Impfschwänzern“ gibt es auch aus anderen Bundesländern und aus den Arztpraxen. Rechnet man die Berliner Zahlen auf die rund 700.000 täglichen Impfungen bundesweit hoch, kommt man immerhin auf bis zu 70.000 Termine, die eigentlich andere Impfwillige wahrnehmen könnten. Das behindert somit die Impfkampagne.

Impfstoff muss allerdings in der Regel nicht weggeworfen werden: Czaja berichtete, dass der Impfstoff erst aus dem Kühlschrank genommen und in Spitzen aufgezogen wird, wenn klar ist, dass der Impfwillige tatsächlich anwesend ist. Kommt niemand, kann die nicht benötigte Dosis noch einige Tage später verimpft werden.

Wäre eine Strafgebühr überhaupt rechtlich möglich?

Arztpraxen greifen vereinzelt zu diesem Mittel, um die Termintreue ihrer Patienten zu sichern. Gerichte haben die Zulässigkeit der oft als Ausfallhonorar bezeichneten Gebühr allerdings unterschiedlich gesehen. Sie verlangen aber zumindest, dass auch der Arzt verpflichtet ist, den Schaden gering zu halten, etwa durch die Behandlung anderer Patienten. Da derzeit Impftermine in der Regel wieder schnell vergeben werden können, entsteht also kein echter materieller Schaden - weder in einem Impfzentrum noch in impfenden Praxen. Gleichwohl könnte die Politik zumindest in den Impfzentren ein „No-Show“ als Ordnungswidrigkeit einstufen und mit einem Bußgeld belegen.

Warum werden überhaupt so viele Termine nicht wahrgenommen?

Nach Beobachtung von Kassenarzt-Chef Andreas Gassen haben viele Impfwillige in den vergangenen Wochen erlebt, dass es trotz der Aufhebung der Priorisierung oftmals noch immer keine schnellen Impftermine gibt. Zudem mussten in den Arztpraxen immer wieder Termine gestrichen werden, weil Impfstoffe nicht zuverlässig geliefert wurden. Um dennoch eine Impfung zu bekommen, haben deshalb Impfwillige mehrere Termine vereinbart– in Praxen und/oder Impfzentren. Eine Absage nach erfolgter Impfung wird dann vergessen oder für überflüssig gehalten. Gassen berichtete aber auch von Fällen, bei denen Impfzentren nicht erreichbar waren, um Termine wieder abzusagen.

Was spricht für eine Strafgebühr?

Bei einer Strafe von bis zu 30 Euro dürften es sich die meisten Impfwilligen sehr stark überlegen, ob sie Termine einfach ohne Absage sausen lassen.

Was spricht dagegen?

Es muss jetzt darum gehen, dass sich möglichst viele Menschen schnell impfen lassen. Alles, was zu Unsicherheiten in der Bevölkerung führt, sollte daher vermieden werden. Denn nur durch einen schnellen Impffortschritt lässt sich erreichen, dass die Zahl der schweren Verläufe dauerhaft niedrig bleibt und keine Überlastung des Gesundheitswesens mehr droht. Diese Gefahr ist längst nicht gebannt: Die Delta-Variante ist gerade dabei, sich rasant in Deutschland auszubreiten. Delta ist deutlich ansteckender und gilt auch als gefährlicher, wobei das konkrete Ausmaß noch unklar ist.

Wie reagiert die Bundesregierung öffentlich auf die Forderung?

Regierungssprecher Steffen Seibert und eine Sprecherin von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) stellten am Montag eindeutig klar: Die Bundesregierung habe keine Planungen für Strafzahlungen für nicht abgesagte Termine. Seibert richtete aber den „dringenden Appell“ an jene, die einen Termin nicht einhalten: „Sagen Sie ab!“ Und er rief die Bevölkerung dazu auf, sich impfen zu lassen: „Nehmen Sie diese Angebote wahr – Sie schützen sich nicht nur selbst vor einer potenziell schweren Krankheit (…), Sie schützen auch uns alle“, sagte Seibert.

Wie ist überhaupt der Stand der Impfkampagne?

vollständigen Impfschutz haben gegenwärtig weniger als die Hälfte der Bevölkerung. 38,9 Prozent der Deutschen sind vollständig geimpft. 56,5 Prozent haben mindestens eine Impfdosis erhalten. Zur Impfbereitschaft, also wie viele Menschen sich voraussichtlich gegen Covid-19 impfen lassen wollen, geben repräsentative Umfragen unterschiedliche Hinweise.

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Das sogenannte Cosmo-Monitoring, das Ende Juni rund 1000 Menschen befragt hat, zeigt, dass die Impfbereitschaft unter den Ungeimpften zu diesem Zeitpunkt bei 41 Prozent lag - und bereits in den Vorwochen weiter gesunken war. Von „einem hohen Niveau“ spricht das am vergangenen Mittwoch veröffentlichte Covimo-Impfquoten-Monitoring des Robert Koch-Instituts (RKI), das sich auf den Zeitraum vom 17. Mai bis 9. Juni bezieht. Von den befragten ungeimpften Erwachsenen gaben immerhin 67 Prozent an, sich „auf jeden Fall“ beziehungsweise „eher“ impfen lassen zu wollen.

Die Gründe fürs Zögern? Laut Cosmo-Umfrage gaben die Befragten an, ein höheres Bedürfnis nach einer Nutzen-Risiko Abwägung zu haben. Berichtet wurde auch, dass das Vertrauen in die Impfung niedrig ausfalle. Es sei auch die Wahrnehmung verbreitet, dass man sich nicht impfen lassen muss, wenn es viele andere tun – und dass die Impfung überflüssig sei, da Covid-19 keine Bedrohung darstelle.

Wieso sind möglichst viele Geimpfte nötig?

Zunächst einmal steht der individuelle Schutz im Vordergrund: Alle in Deutschland zugelassenen Impfstoffe bewahren nach vollständiger Impfung vor einem schweren Krankheitsverlauf, Klinikeinweisung oder Tod durch Covid-19. Das gilt für alle hierzulande zirkulierenden Virusvarianten. Ein weiterer Grund ist aber auch der Schutz der Gemeinschaft durch die sogenannte „Herdenimmunität“.

Ist eine bestimmte Impfrate erreicht, kann sich das Virus nicht mehr stark verbreiten, sondern nur noch vereinzelt zu Ansteckungen führen. Mit der Ausbreitung der Delta-Variante sind jedoch noch mehr Geimpfte als zunächst angenommen nötig, um die akute Pandemie zu beenden. Nach aktuellen Schätzungen muss nunmehr eine Rate von über 80 Prozent erreicht werden. Die Herdenimmunität würde insbesondere den Kindern bis 12 Jahre helfen, für die es bisher keinen zugelassenen Impfstoff gibt.

Wie lassen sich Impfanreize schaffen - ohne Bußgelder?

Um für Impfungen zu werben, zahlen manche Länder Prämien: In Griechenland bekommen 18- bis 25-Jährige ein elektronisches Guthaben von 150 Euro, wenn sie sich impfen lassen. Das Geld kann für Reisen im Inland und den Besuch von kulturellen Veranstaltungen ausgegeben werden. Der Anreiz wirkt: Die Zahl der Impf-Anmeldungen aus der begünstigten Altersgruppe ist deutlich angestiegen.

Das Beispiel USA zeigt allerdings, dass solch ein Vorgehen nicht immer von Erfolg gekrönt ist. Auch dort bieten viele Bundesstaaten Anreize wie die Verlosung hoher Geldpreise an. Trotzdem wurde das von Präsident Joe Biden anvisierte Impfziel verfehlt. Die Regierung wollte erreichen, dass 70 Prozent aller Erwachsenen bis zum Nationalfeiertag am 4. Juli mindestens eine Impfdosis erhalten haben. Bisher beträgt der Anteil aber erst 67 Prozent.

Was kann getan werden, um in Deutschland die Impfkampagne zu beschleunigen?

Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Zahl der wirklich harten und nicht mehr überzeugbaren Impfgegner vergleichsweise klein ist. Als Problem wird eher gesehen, dass bestimmte, zahlenmäßig große Milieus – hier vor allem bildungsferne Schichten und Migranten – bisher nicht durch die Politik erreicht werden. So kritisiert zum Beispiel die Vorsitzende der Ärztevereinigung Marburger Bund, Susanne Johna, die bisherige Informationskampagne der Bundesregierung gehe „an Millionen Menschen komplett vorbei“.

Nötig seien zum Beispiel mehrsprachigen Video-Testimonials mit einflussreichen Prominenten, die sich direkt an nichtdeutsche Mitbürgerinnen und Mitbürger richten müssten. Die Autoren der Cosmo-Studie plädieren zudem dafür, alle Barrieren für eine Impfung abzubauen. Als solche Barriere gilt schon die Notwendigkeit, einen Impftermin übers Telefon oder das Internet vereinbaren zu müssen.Deshalb gilt das Impfen ohne individuelle Termine in sozialen Brennpunkten, direkt am Arbeitsplatz oder in Bildungseinrichtungen als Schlüssel.

„Man sollte im Zweifel nicht warten, bis Menschen zum Impfen kommen“, sagte der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Man sollte stattdessen zu ihnen hingehen, wie es in Berlin oder Köln ja auch schon geschehen ist“, betonte er. Gerade in migrantischen Milieus sollte man außerdem mit bekannten Vorbildern zusammenarbeiten. „Das wird funktionieren, davon bin ich überzeugt.“ Schneider fügte hinzu: „Zwang in Form von Bußgeldern hilft nicht. Was ist denn, wenn Betroffene nicht zahlen? Man muss die Dinge vom Ende her denken.“

Auch der Wegfall von Corona-Schutzmaßnahmen für Geimpfte wird gefordert, etwa der Wegfall der Masken-Pflicht. Das sei ein Instrument, um „die Impfmoral der Bundesbürger“ hochzuhalten, sagt etwa KBV-Chef Gassen. Virologen und Virologinnen sprechen sich hingegen weiterhin für Hygieneregeln wie das Masken-Tragen und Abstand-Halten aus, auch um die bisher noch nicht Geimpften weiterhin zu schützen. Das sieht auch die Bundesregierung so und verweist auf Vorteile, die vollständig Geimpfte schon heute zum Beispiel beim Reisen hätten.