Kampf gegen KunststoffWie die Wissenschaft die Plastikflut eindämmen will
Bremerhaven – Die Vereinten Nationen wollen Ernst machen im Kampf gegen den überbordenden Kunststoffabfall, vor allem in den Meeren: Am 30. Mai hat sich in Dakar (Senegal) eine Arbeitsgruppe des UN-Umweltprogramms (UNEP) getroffen, um den Fahrplan für ein weltweites Abkommen zur Eindämmung des Plastikmülls zu verhandeln. Dass ein weltweit verbindlicher Vertrag bis 2024 ausgearbeitet werden soll, war bereits im März bei einer Konferenz in Nairobi beschlossen worden.
Plastik in allen Größenordnungen ist ein Problem
Ein viel zitiertes Beispiel für die Verschmutzung der Meere durch Kunststoffe ist der große Müllstrudel im Nordpazifik: Zwischen Nordamerika und Hawaii haben Meeresströmungen Kunststoffabfälle zusammengetrieben und stark angereichert. Weniger bekannt ist, dass es weltweit fünf solche Müllstrudel gibt, nämlich auch im Südpazifik, im Nord- und Südatlantik und im Indischen Ozean.
Aber nicht nur große Kunststoffstücke, sondern auch kleine bis winzige Stücke machen Wissenschaftlern und Umweltorganisationen Sorgen. Das maximal fünf Millimeter große Mikroplastik ist oft nur unter dem Mikroskop zu sehen. Inzwischen ist es in allen Meeresregionen, in sehr vielen Böden, einer großen Anzahl von Lebewesen und auch in Blut, Lunge und Plazenta von Menschen nachweisbar.
„Die UN-Resolution ist sehr wichtig, wir haben mehrere Jahre intensiv darauf hingearbeitet“, sagt Bernhard Bauske von der Umweltorganisation WWF. Eine Anfang 2022 erschienene WWF-Studie macht das weltweite Kunststoffproblem mit drastischen Zahlen deutlich: Das bislang produzierte Plastik bringt es demnach auf eine Masse, die doppelt so groß ist wie die Gesamtmasse aller Land- und Meerestiere. Allein in den Jahren 2003 bis 2016 wurde so viel Kunststoff hergestellt wie in allen Jahren zuvor – die Plastikmenge wächst also schnell. Und jedes Jahr landen Schätzungen zufolge 19 bis 23 Millionen Tonnen Kunststoff weltweit in Binnengewässern und Meeren.
„Globales Problem besorgniserregenden Ausmaßes“
Die Leiterin der WWF-Studie, die Meeresbiologin Melanie Bergmann vom Alfred-Wegener-Institut (AWI) in Bremerhaven, veröffentlichte erst kürzlich mit Kollegen im Fachmagazin „Nature Reviews Earth & Environment“ eine weitere Untersuchung zu Kunststoff in der Arktis. In der Nordpolregion leben zwar nur wenige Menschen, aber Plastik wird durch Meeresströmungen, Flüsse und – im Fall von Mikroplastik – auch durch die Luft ins Polargebiet getragen.
Aufgrund des Eisrückgangs haben zudem Schifffahrt und Fischerei in der Region stark zugenommen und tragen zur Vermüllung bei. „Wenn schon diese weitgehend unberührte Natur betroffen ist, dann kann man sich sicher vorstellen, dass der Plastikmüll ein globales Problem besorgniserregenden Ausmaßes ist“, betont Bergmann.
Ab einem Schwellenwert von 121 000 Partikeln Mikroplastik pro Kubikmeter Wasser gingen Wissenschaftler von erheblichen ökologischen Risiken aus, heißt es in der WWF-Studie. Dieser Wert wurde an einigen Stellen im arktischen Meereis überschritten. Denn dieses Eis bildet sich teilweise in Küstenregionen, in die Meeresströmungen und Flüsse Plastik tragen, und gelangt dann durch die transpolare Eisdrift in küstenferne Gebiete des Arktischen Ozeans. Im Übrigen wird der Schwellenwert vor allem in bestimmten Meeresregionen mit dicht besiedelten Küsten überschritten: Mittelmeer, Ostchinesisches Meer und dem nördlich davon liegenden Gelben Meer westlich der Koreanischen Halbinsel.
Plastik in der Ostsee
Auch die Küsten der Ostsee sind dicht besiedelt, doch sorgen in den Anrainerstaaten meist gut funktionierende Abfall-Management-Systeme dafür, dass die Mengen an eingetragenem Kunststoff geringer sind als in den „Hotspots“. Bei Untersuchungen dort stellte Sonja Oberbeckmann vom Leibniz-Institut für Ostseeforschung in Rostock fest, dass Mikroplastik vor allem an Flussmündungen und Küsten und weit weniger im offenen Meer zu finden ist. Auch die Ostseestrände führen die Auswirkungen des hohen Kunststoffverbrauchs vor Augen, etwa durch Einwegverpackungen in Form von zahlreichen Plastikteilen im Sand.
In einer anderen Untersuchung fanden Oberbeckmann und Kollegen keinen Hinweis darauf, dass Mikroorganismen, die Plastikteile besiedeln, den Kunststoff auch abbauen. „Kunststoff ist zwar theoretisch eine geeignete Nahrungsquelle für Bakterien, aber chemisch sehr stabil“, erklärt Oberbeckmann. „Deshalb wäre der Energieaufwand, der mit seinem Abbau verbunden ist, für die Mikroorganismen sehr hoch.“
Wenige Bakterien ernähren sich von Plastik
Zwar gibt es vereinzelt Beispiele, dass Bakterien Plastik als Nahrungsquelle nutzen und dadurch abbauen. Fast immer aber sind Plastikteile auch nach Jahrzehnten im Meer noch gut erhalten. Denn für den Abbau der vom Menschen hergestellten Substanzen haben sich in der Evolution der Mikroorganismen überwiegend noch keine biochemischen Wege entwickelt. Stattdessen werden Plastikstücke durch Naturkräfte wie Verwitterung oder Brandung zerkleinert.
Dennoch kursieren im Internet Behauptungen, Plastik könne biologisch schnell zersetzt werden – zwar nicht nur jenes, das als „biologisch abbaubar“ angepriesen wird. Als Reaktion darauf bildeten Forschende zu dem Thema eine Twittergruppe, um mit wissenschaftlichen Fakten zu argumentieren. Ein Teil dieser Gruppe veröffentlichte kürzlich einen Brief in der Fachzeitschrift „Science“. Darin verweisen die Wissenschaftler auf eine Studie von 2020, nach der sich die Menge des produzierten Plastiks bis zum Jahr 2045 verdoppeln könnte. Ein Grund für diese Annahme sind das bisherige Wachstum und die dreistelligen Milliardenbeträge, die die chemische Industrie in den vergangenen Jahren in Produktionsstätten investiert hat.
Neues Plastik ist billiger als recyceltes
„Die Produktion von neuem Kunststoff ist noch immer deutlich günstiger als die Verwendung von recyceltem Plastik“, beklagt Bergmann. Das müsse sich ändern, stattdessen müsse eine echte Kreislaufwirtschaft entstehen. Denn nach einer Studie waren 2015 weltweit nur 9 Prozent des bis dahin entstandenen Kunststoffabfalls recycelt und 12 Prozent verbrannt worden. Die übrigen 79 Prozent lagerten auf Deponien oder gelangten in die Umwelt.
Auch in Deutschland ist die Recyclingquote laut der WWF-Studie „Verpackungswende jetzt!“ nicht besonders hoch: Beim für Verpackungen anfallenden Plastikmüll wird etwa die Hälfte verbrannt, weitere 18 Prozent werden in andere Länder exportiert. Und nur etwa 10 Prozent der neuen Kunststoffverpackungen bestehen aus recyceltem Material. Bei der Verbrennung entstehen zudem CO₂ und hochgiftige Stoffe, die endgelagert werden müssen.
Plastikproduktion senken
Bergmann und Kollegen verweisen in ihrem „Science“-Brief auf eine Studie von 2020: Selbst wenn alle heute verfügbaren Lösungen angewendet würden, einschließlich Ersatz von Kunststoff durch andere Materialien, verbessertes Recycling, Abfallmanagement und Kreislaufwirtschaft, könnten die jährlichen Kunststoffeinträge in die Umwelt in 20 Jahren nur um 78 Prozent im Vergleich zu einem Weiter-so-Ansatz gesenkt werden. Demnach würden – angesichts der deutlich steigenden Kunststoffproduktion – nach 2040 jedes Jahr noch immer 17,3 Millionen Tonnen Plastikabfälle in die Umwelt gelangen.
Diese Gefahr vor Augen, plädieren die Wissenschaftler dafür, die Kunststoffherstellung in den kommenden Jahrzehnten nach und nach zu senken und gleichzeitig da, wo Plastik unverzichtbar ist, immer mehr recyceltes Plastik zu verwenden. Eine Verknappung neuer Kunststoffe würde den Preis und die Verwendung von recyceltem Material hochtreiben.
Verbesserte Abfallwirtschaft müsste weltweit umgesetzt werden
Auch WWF-Experte Bauske will erreichen, dass weniger Kunststoff produziert wird. Er hält aber die vorgeschlagene Maßnahme für politisch schwer durchsetzbar. Es könne ein weltweites Gerangel um Herstellungsquoten entstehen, das eine politische Einigung verhindere, befürchtet er. Auch könnte die Überwachung der Quoten schwierig werden. Um die Neuproduktion zu senken und die Umwelt zu entlasten, will Bauske stattdessen gesetzliche Rahmenbedingungen erreichen, die Vermeidung, Mehrfachnutzung und Kreislaufführung von Kunststoffen fördern.
Gleichzeitig setzt er auf eine weltweit flächendeckend verbesserte Abfallwirtschaft. Der WWF zeige über regionale Modellprojekte, beispielsweise im Mekong-Delta in Vietnam, was in großem Stil möglich wäre. „Solche Projekte können eine Sogwirkung über die Region hinaus entfalten“, erklärt Bauske. In Vietnam interessierten sich andere Städte und Regionen für das Abfallkonzept im Mekong-Delta.
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Begleitet werden müssten solche Projekte durch nationale Gesetzgebung und internationale Verträge wie das nun angestrebte UN-Abkommen, betont Bauske. Das sei alles sinnvoll, entgegnet Bergmann, „aber solange immer mehr Kunststoff in die Welt gebracht wird, wird sich auch nicht vollständig verhindern lassen, dass er in die Umwelt gelangt“. Eine gute Kläranlage halte 97 bis 99 Prozent des Mikroplastiks zurück, aber was übrig bleibe, sei eben dennoch eine gewaltige Menge, besonders in großen Städten.
Insgesamt, da sind sich alle Fachleute einig, gebe es noch immer zu wenig belastbare Informationen über das Ausmaß von Plastikmüll in der Umwelt und die Auswirkungen auf die Ökosysteme. Dennoch betont Bergmann: „Es ist jedoch bereits klar, dass eine wirksame Minderung der Produktion dringend erforderlich ist, um eine weitere Verschlechterung der Ökosysteme und Auswirkungen auf den Menschen zu verhindern – und nicht zuletzt auch, um die Klimawirkung von Plastik zu mindern.“ Denn demnach sorgt die Kunststoffproduktion für 4,5 Prozent des jährlichen globalen Ausstoßes des Treibhausgases CO2. (dpa/fwt)