Kommentar zu Andrea NahlesAufstieg und Fall einer cleveren Taktikerin
Die Noch-SPD-Chefin hatte sich gnadenlos verschätzt, als sie entschied, die Wahl um den Fraktionsvorsitz auf die kommende Woche vorzuziehen. Damit wollte sie ihre Kritiker überrumpeln, die sonst auch weiter an ihrem Stuhl gesägt hätten – um nach verlorenen Landtagswahlen im September zuzuschlagen.
Nahles Ankündigung, die Wahl zum Fraktionsvorsitz vorzuziehen, war also einer aus dem Lehrbuch des innerparteilichen Machtkampfs. Gerade das hat sie aber die letzten Sympathien in der Fraktion gekostet.
Die 48-Jährige zieht den Schlussstrich also deshalb, weil es nicht mehr anders ging. Zu groß ist der Unmut bei vielen in der Fraktion über sie, zu gering das Vertrauen in der Partei, dass Nahles die SPD noch einmal aus dem katastrophalen Tief holen könnte.
Licht und Schatten
Eine faire Bilanz ihrer Zeit an der Spitze der Partei muss Licht und Schatten enthalten. Nahles hat einen kapitalen Fehler gemacht, als sie im vergangenen Jahr in einer Runde der Parteichefs mit Angela Merkel und Horst Seehofer einer Beförderung des umstrittenen Verfassungsschutz-Chefs Hans-Georg Maaßen zustimmte. Das ist Politik, wie sie kein Mensch im Land versteht – und der Image-Schaden bleibt, auch wenn man den Fehler hinterher korrigiert.
Andererseits hat Nahles die Partei – anders als ihr Vorgänger Martin Schulz – tatsächlich geführt. Und sie hat – anders als der Langzeit-Vorsitzende Sigmar Gabriel – inhaltliche Konflikte in der Partei unter Einbindung aller Parteiflügel geklärt. Es war überfällig, dass die SPD ein Konzept erarbeitet, wie sie sich die Weiterentwicklung des Sozialstaats jenseits von Hartz IV vorstellt. Doch erst die Vorsitzende Nahles hat es geschafft. Das war ihr Glanzstück.
Es gehört zur Tragik der Vorsitzenden Nahles, dass sie es auch nach diesem Erfolg nicht geschafft, ihre persönlichen Umfragewerte zu verbessern. Und dass es ihr so auch nicht gelingen konnte, die SPD aus dem Umfragetief zu holen. Die fröhliche Frau aus der Vulkan-Eifel, sie wurde von den Menschen immer nur als Apparatschik wahrgenommen. Es gab wenig gelungene öffentliche Auftritte. Und es bleibt der Eindruck, dass solche Auftritte bei ihr immer noch etwas hämischer aufgenommen wurden, als dies bei einem Mann der Fall gewesen wäre.
Arbeiterklientel und Bildungsaufsteiger nicht zusammengebracht
Dem einen oder anderen in der SPD-Fraktion und auch in der Partei mag Nahles„ Rückzug jetzt wie eine Befreiung vorkommen. Die Wirklichkeit aber ist: Die Probleme der SPD sind grundlegend – und lösen sich durch einen Wechsel an der Spitze von Fraktion und Partei auch nicht einfach so in Luft auf. Es fällt der Partei immer schwerer, ihre ursprüngliche Arbeiterklientel und die Bildungsaufsteiger, die sie mit ihrer eigenen Politik geschaffen hat, zusammenzubringen.
Die SPD braucht aber den Stahlarbeiter genauso wie den Studienrat, für den es zurzeit schicker scheint, die Grünen zu wählen. Schaffen die Sozialdemokraten es doch noch, ein attraktives Angebot für breite Schichten der Gesellschaft zu machen? Oder stirbt die Partei wie in anderen europäischen Ländern?
SPD in der Pflicht
Diejenigen, die an Andrea Nahles Stuhl gesägt haben, und auch alle anderen in der SPD haben jetzt viel zu tun. Sie müssen die Partei so erneuern und aufstellen, dass sie in einem immer kleinteiligeren Parteiensystem noch eine Chance hat. Das ist eine riesige Aufgabe, über der auch noch weitere Vorsitzende stürzen könnten.
Das gilt erst Recht, als in der SPD ein grundlegender Konflikt jetzt wieder aufbrechen dürfte: Bleibt die Partei in der großen Koalition, die alle Beteiligten zwar schlechte Umfragewerte beschert, die aber doch recht passabel regiert? Oder sucht sie den Befreiungsschlag, in dem sie das Bündnis bald platzen lässt?Andrea Nahles hat ihr Kapital als Vorsitzende aufgebraucht. Aber sie hat die SPD – zumindest bis vor kurzem – als Vorsitzende nach innen noch einigermaßen stabilisiert. Jetzt sind in der SPD alle, wirklich alle Fragen offen.