Kommentar zu GroßbritannienEin schlimmer Vorgeschmack auf das Brexit-Chaos
Wahrscheinlich hat es das gebraucht. Die nicht enden wollenden LKW-Schlagen vor dem Hafen von Dover. Die Tumulte an den Flughäfen und Bahnhöfen Londons, weil Zehntausende versuchten, die Insel auf den letzten Drücker noch zu verlassen. Und die leeren Regale in den britischen Supermärkten, wo kurz vor Weihnachten plötzlich Salat, Gemüse und Zitrusfrüchte knapp werden. Die Corona-Pandemie, genauer, die mutierte Virus-Variante VUI-2020/12/01, hat den Briten einen bitteren Vorgeschmack auf das gegeben, was sie im Falle eines ungeregelten Austritts aus dem EU-Binnenmarkt in genau acht Tagen erwartet: Chaos allerorten.
Und plötzlich kommt Bewegung in die seit Monat festgefahren Gespräche über ein Folgeabkommen zwischen Großbritannien und der EU, auch wenn die Unterhändler in der Zwischenzeit die letzte, die allerletzte und auch die aller-allerletzte Frist ungenutzt verstreichen lassen haben. Beim Dauerstreit über den Zugang zu britischen Fanggründen für europäische Fischer deutet sich eine Kompromisslinie an. Von Übergangsfristen und sukzessiv reduzierten Fangrechten ist nun die Rede. Ideen wie diese gibt es freilich seit Jahren, und geeint ist sowieso noch nichts. Aber die Nachricht zeigt immerhin, dass es einen Deal geben könnte – wenn alle Beteiligten einen solchen denn überhaupt noch wollen.
Berechtigte Zweifel
Daran kann man nach den zurückliegenden Wochen und Monaten berechtigte Zweifel hegen. Vor allem der Regierung des gleichzeitig plan-, glück- und anstandslos agierenden Premierministers Boris Johnson schien zeitweise jedes Mittel recht, um einen harten Ausstieg aus der EU zu bekommen. Einen No-Deal-Brexit. Hauptsache, die Schuld für ein Scheitern der Verhandlungen ließe sich irgendwie den Europäern in die Schuhe schieben.
Die Sturrköpfe und Hasardeure der Tories waren bereit, die wirtschaftliche Entwicklung ihres Landes und die des europäischen Kontinentes zu riskieren – wegen Fischen im Wert von ein paar hundert Millionen Euro. Das ist eine fast schon lächerlich kleine Summe im Verhältnis zum britisch-europäischen Handelsvolumen, das mehrere hundert Milliarden Euro umfasst. Dass sich der Fischereistreit nicht lösen ließe, ist ein Witz. Nur Nationalisten und Ideologen werden über ihn lachen können.
Die EU-Kommission war klug beraten, trotz all der gerissenen Deadlines den Gesprächsfaden aufrecht zu erhalten. Europa hat damit eine Botschaft an das britische Volk gesendet: Seht her, wir wollen mit Euch weiterhin in Partnerschaft und Freundschaft verbunden sein. Wenn das nicht klappt, liegt die Verantwortung einzig und allein bei eurer Regierung.
Der Druck auf Johnson ist nun maximal. Die chaotischen Zustände, die ihm ohne Deal in den kommenden Monaten drohen, kann er sich nun schon einmal ganz genau ansehen.
Vielleicht geht noch was
Wer weiß, womöglich geht deshalb am Ende doch noch etwas. Die Brexit-Übergangsphase, die eigentlich am 31. Dezember endet, ließe sich natürlich um ein paar Tage oder Wochen verlängern, auch wenn die britische Regierung das mehrfach ausgeschlossen hat. Auch an mangelnder Bereitschaft des EU-Parlamentes, einen wie auch immer gearteten Vertrag in einer Nacht- und Nebelaktion zu ratifizieren, wird ein Deal nicht scheitern.
Die Zukunft der anglo-europäischen Beziehungen liegt nun allein in den Händen der britischen Regierung. Will sie einen Deal, wird sie ihn bekommen. Will sie ihn nicht, wird das Vereinigte Königreich am 1. Januar 2021 zum Drittstaat. Für die Europäer wäre das schmerzhaft. Für die Briten wäre es – zumal in der Pandemie – eine Katastrophe. Die Verantwortlichen dafür dürften sie nicht in Brüssel suchen. Die säßen dann in London, in der Downing Street Number 10.