Kommentar zu Macrons WahlsiegFrankreich: Ein Land, zwei Welten
- Frankreich hat sich entschieden: für eine offene Gesellschaft in einem einigen Europa, gegen ein nationalistisches Frankreich in einer aufgeweichten EU.
- Emmanuel Macron darf weiter regieren. Aber leicht werden die nächsten fünf Jahre nicht.
- Ein Kommentar.
Paris – Kurz nach 20 Uhr atmet Europa auf. Die Wahllokale sind gerade erst 14 Minuten geschlossen, da tritt Marine Le Pen vor ihre Anhänger und gesteht ihre Niederlage ein. Es reicht an diesem Sonntag für eine zweite Amtszeit von Emmanuel Macron.
Frankreich, oft kritische, aber zuverlässige Kraft in der EU, hat sich damit auch dafür entschieden, sein Schicksal nicht einem Staatsoberhaupt anzuvertrauen, das lieber auf mehr Nationalismus und Abgrenzung setzt als auf mehr Gemeinsamkeit. Der Rechtspopulismus nach Art Le Pens hat deutlich mehr Zulauf als noch 2017 – aber er findet eben auch keine Mehrheit bei Franzosen und Französinnen.
Stimmenthaltungen so hoch wie lange nicht mehr
Nicht wenige haben gezittert vor diesem Tag der Stichwahl um die Präsidentschaft im Élysée-Palast. Ein echter Wahlkampf sei das nicht, hieß es lange. Präsident Emmanuel Macron war als derzeitiger EU-Ratspräsident mehr beschäftigt mit dem Krieg in der Ukraine als mit seiner Kampagne. Die Menschen interessierten sich nur wenig für das wichtigste politische Ereignis innerhalb von fünf Jahren.
Selbst für das siegreiche Macron-Lager war das ein Wermutstropfen in all der Freude: Die Zahl der Stimmenthaltungen war mit 28 Prozent so hoch wie seit 1969 nicht mehr. Dabei war diese Wahl richtungsweisend.
Hier der Kandidat der Mitte, der – nicht ohne Erfolg – in den vergangenen fünf Jahren versucht hat, das Land zu modernisieren, im Arbeitsrecht, im Rentenrecht, in der Schulpolitik, in der Wirtschaft. Der Kandidat, für den eine starke Rolle Frankreichs im europäischen Konzert eine Selbstverständlichkeit ist. Dort die Kandidatin der extremen Rechten, die eine restriktive Zuwanderungspolitik vorantreiben will, die die Rechte von Ausländern im Land einschränken will – und ihre Loyalitäten eher in Moskau als in Brüssel sieht.
„Keine einzige Stimme“ für Le Pen
Bis zuletzt war Macron Favorit mit mehreren Prozentpunkten Vorsprung, bis zuletzt aber auch galt die Wahl als offen. So leicht wie vor fünf Jahren, als er 66 Prozent gegen die Rechtspopulistin holte, wurde es dann auch tatsächlich nicht. Das Schicksal Macrons lag weitgehend in den Händen der Anhänger des Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon, der in der ersten Runde mit 22 Prozent knapp den dritten Platz hinter Le Pen erreicht hatte. Eine Empfehlung für Macron hatte Mélenchon nicht abgegeben, nur eindringlich dazu aufgerufen, Le Pen „keine einzige Stimme“ zu geben.
Ob die enttäuschten Anhänger Mélenchons mehrheitlich für den amtierenden Präsidenten stimmten, müssen die genauen Auswertungen aber erst noch zeigen.
Boxen für die linken Stimmen
Im Buhlen um ihre Stimmen hatte Macron bei einem seiner letzten großen Wahlkampfauftritte am Donnerstag noch das Jackett seines Maßanzugs abgelegt und dafür Boxhandschuhe angezogen – als müsste er seine Kampfbereitschaft physisch unter Beweis stellen. Sein Gegenüber war nicht Le Pen, sondern ein junger Sportler in Saint-Denis im Norden von Paris, der es nicht wagte, dem Präsidenten einen Schlag zu verpassen, sondern ihm nur flink auswich.
In der multikulturell geprägten Vorstadt, die als sozialer Brennpunkt gilt, waren in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen vor zwei Wochen 61 Prozent der Stimmen an Mélenchon gegangen. Seitdem buhlten Macron wie auch Le Pen, beide auf ihre Weise, um diese Linkswähler.
„Operation Verführung“ nannten die französischen Medien den Auftritt des boxenden Präsidenten, mit dem er sich cool und dynamisch präsentieren wollte. Auch verbal gab sich der 44-Jährige angriffslustig. Den Menschen in Saint-Denis, die überwiegend Migrationshintergrund haben, rief er zu, dass sie „eine Chance für die Republik“ seien. Scharf hatte er die Forderung seiner Herausforderin nach einem Kopftuchverbot im öffentlichen Raum kritisiert.
Wenn Le Pen massive Steuersenkungen auf Energie und Produkte des täglichen Bedarfs verspreche, mache sie keine sozialen Unterschiede und könne nicht einmal erklären, wie sie das finanzieren wolle, so Macron weiter. Er aber werde den Schwächsten mit gezielten Maßnahmen helfen, solange die Energie- und Benzinpreise so hoch seien.
„Macron ins Gefängnis!“
„Und eins – und zwei – und fünf Jahre mehr!“, skandierten seine Anhänger. „Macron ins Gefängnis!“, riefen seine Kritiker. In ihren Augen höhlte er mit seinen Reformen des Arbeitsmarktes oder der Arbeitslosenversicherung das französische Sozialmodell aus. Auf einem ähnlichen Kurs will er bleiben: Er hat schon angekündigt, das Renteneintrittsalter auf 65 Jahre erhöhen und die Grundsicherung RSA an die Bedingung einer geringfügigen Beschäftigung knüpfen zu wollen.
Rund 100 Kilometer nördlich war Marine Le Pen am selben Tag in Arras, einer ihrer Hochburgen, unterwegs. Le Pen wollte und musste versuchen, sich die Wut vieler Menschen auf Macron zunutze zu machen. Im TV-Duell am Abend zuvor habe er sich, so die 53-Jährige, „nonchalant, herablassend und von grenzenloser Arroganz“ gezeigt. Das ist genau, was etliche Franzosen dem Absolventen von Elitehochschulen und ehemaligen Privatbanker vorwerfen.
Le Pen gab sich in Arras weitaus aggressiver als in der Fernsehdebatte am Mittwochabend, wo sie erkennbar bemüht gewesen war, seriös und ruhig zu bleiben, um die Zuschauer von ihrer Professionalität zu überzeugen – und vielen daher allzu defensiv erschien.
Mäßigung fürs Image
Macron behaupte, sie wolle mit einer Volksabstimmung über ihr Gesetz einer „nationalen Priorität“, das Ausländern in Frankreich den Zugang zu Jobs, Sozialwohnungen und ‑leistungen erschweren solle, die Verfassung und das Prinzip der Gleichheit aller umgehen. „Ihr seid es, die er umgehen will!“ Macron wage sogar, sie in die rechte Ecke zu stellen, echauffierte sich die Rechtspopulistin – das sei ja, „als ob ihr, die ihr hier seid, oder die Millionen Franzosen, die ich vertrete, irgendetwas mit den Rechtsextremen zu tun hätten“.
Seit Jahren verwendet sie viel Energie auf einen Imagewandel der Partei, die sie 2018 von Front National in Rassemblement National („nationaler Zusammenschluss“) umbenannt hat. Dies war ein weiterer Schritt, um sich von ihrem Vater abzugrenzen, dem Parteigründer Jean-Marie Le Pen, der mehrmals wegen rassistischer oder den Holocaust verharmlosender Aussagen verurteilt worden ist. Diese bewusste Mäßigung ist eine der Erklärungen für Le Pens Erfolg.
Die Rolle des ultrarechten Zemmour
Im Wahlkampf nutzte ihr auch die Kandidatur des ultrarechten Meinungsjournalisten Éric Zemmour, der zwar erst eine gefährliche Konkurrenz für sie bedeutete, neben dessen extremen Thesen sie aber plötzlich weniger extrem erschien. Unter anderem warnte Zemmour vor einem fortschreitenden „Bevölkerungsaustausch“ der weißen, christlichen „Rasse“ durch Muslime und Afrikaner.
Am Programm änderte Le Pen dabei im Vergleich zu jenem des früheren Front National wenig. Es fußt weiterhin auf dem Ausschluss von Ausländern und dem Stopp der Zuwanderung und vermittelt eine Weltsicht, die dem Politologen Jean Guarrigues zufolge als rechtsextrem definiert werden kann. „Vor allem das Konzept der nationalen Priorität oder Änderungen der Verfassung, um Elemente des Ausschlusses bestimmter Gruppen einzufügen“, seien „Kennzeichen der Rechtsextremen“.
Ihre Versprechen, „den Franzosen ihr Land zurückzugeben“, kamen vor allem bei Menschen an, die einen niedrigen sozialen Status haben und in benachteiligten, ländlichen Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit leben. Dort inszenierte sich Le Pen als die Einzige, die das „Volk“ verstehe und dem Land seine „Souveränität“ zurückgebe. Und dort glaubten ihr viele.
Einen Austritt aus der Europäischen Union forderte sie anders als früher nicht mehr. Sie will diese aber ersetzen durch eine lose „Allianz souveräner Nationen“. Ungarn und Polen, die unter anderem aufgrund des Vorwurfs fehlender Rechtsstaatlichkeit im Konflikt mit der EU-Kommission und den meisten anderen Mitgliedsstaaten stehen, dienen ihr als Vorbilder, auch bei der Forderung, nationales Recht habe über europäischem zu stehen.
Angst vor der Isolation
Mit Blick auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin, den sie zuvor öffentlich bewundert hatte, distanzierte sich Le Pen zwar bei Beginn von dessen Angriffskrieg gegen die Ukraine – aber nur halbherzig. Sie bezeichnete ihn weiterhin als möglichen Alliierten in der Zukunft und blieb bei ihrer Forderung, Frankreich solle aus den militärischen Kommandostrukturen der Nato austreten und alle gemeinsamen Verteidigungsprojekte mit Deutschland auf Eis legen.
Allein Le Pens Qualifizierung für die zweite Runde bedeutet aber auch das Scheitern von einem wesentlichen Versprechen Macrons am Abend seiner Wahl im Jahr 2017. „Ich werde alles tun in den kommenden fünf Jahren, damit es keinen einzigen Grund mehr gibt, für die Extremen zu stimmen“, sagte er bei seiner ersten Rede vor dem Louvre. Er wollte diese eigentlich auf dem Platz unter dem Eiffelturm in Paris abhalten, doch das Rathaus hatte dies nicht erlaubt. Anders als in diesem Jahr, wo sein Team diesen symbolträchtigen Ort für den Sonntagabend reservierte – in der Hoffnung, er werde dort die Ansprache als Sieger abhalten. Sie wurden nicht enttäuscht.