Kommentar zum Lockdown in ShanghaiXi Jinpings dystopisches Paralleluniversum
Es ist ein ungeheuerlicher, ja unglaublicher Satz: In Chinas wohlhabendster Stadt ist der Hunger zurückgekehrt. Der nicht enden wollende Lockdown in Shanghai zwingt etliche der 26 Millionen Bewohnerinnen und Bewohner in existenzielle Notlagen: Die besonders Verzweifelten plündern Supermärkte oder schreien aus ihren Fenstern heraus nach ausbleibendem Nachschub.
Mindestens ebenso ungeheuerlich ist auch die Reaktion der Zentralregierung in Peking, die die unmenschlichen Ausgangssperren angewiesen hat: Xi Jinping hüllt sich in Schweigen. Er hat die Krise in Shanghai bislang mit keiner einzigen Silbe erwähnt.
Stattdessen schickt der 68-Jährige seine Militärstreitkräfte, um die „soziale Stabilität“ zu wahren. Doch Maschinengewehre und Panzer können nicht verschleiern, was Chinas Staatsführung seiner Bevölkerung derzeit antut: Sie pfercht sämtliche Infizierte in riesige Quarantäne-Zentren ein, wo sie zu Tausenden in Hangar-artigen Hallen vor sich hinvegetieren. Ihre zurückgelassenen Haustiere werden aus Angst vor dem Virus vom Nachbarschaftskomitee auf offener Straße niedergeknüppelt. Selbst Kleinkinder werden im Fall einer Ansteckung von ihren Eltern getrennt.
Das Chaos ruft dunkle Erinnerungen wach
Über allem steht ein unbeschreibliches Ohnmachtsgefühl, eingesperrt in der eigenen Wohnung vollkommen von staatlichen Essenslieferungen abhängig zu sein. Mehr als eine Tüte Gemüse für die gesamte Woche kommt bei den meisten Leuten jedoch nicht an. Wer seine Vorratskammer nicht vor dem Lockdown ordentlich gefüllt hat, muss seinen Gürtel nun enger schnallen: Selbst Unternehmensvorstände und Millionärssöhne versuchen derzeit verzweifelt, auf dem Schwarzmarkt etwas Reis oder Brot zu ergattern. Doch in einer solchen Situation ist auch ihr Geld nutzlos.
In der Volksrepublik China ruft das menschengemachte Chaos bei den Menschen dunkle Erinnerungen wach: Denn in den 60er Jahren löste Staatsgründer Mao Tsetung mit seiner fehlgeleiteten Industrialisierungspolitik die größte Hungersnot des 20. Jahrhunderts aus. Nun sorgen sich ausgerechnet die Bewohnerinnen und Bewohner in der reichsten, internationalsten Metropole des Landes erneut um ihre drei Mahlzeiten am Tag.
Keiner traut sich, das offensichtliche auszusprechen
Ohne Frage ist das blinde und dogmatische Festhalten an „Null Covid“ Xi Jinpings bisher größter innenpolitischer Fehler in seiner nunmehr zehnjährigen Amtszeit. Unter vielen urbanen Intellektuellen geht längst die Angst um, dass ein übermächtiger Staatsführer – umnebelt vom eigenen Persönlichkeitskult – auf seine alten Tage das Land in Unheil stürzen könnte. Denn Xi hat ein repressives Klima der Angst erschaffen, in dem offenbar niemand in seinem Führungszirkel sich traut, das offensichtliche auszusprechen: Dass die Lockdown-Politik angesichts der Omikron-Variante nicht mehr die Lösung ist, sondern Teil des Problems.
In einer Demokratie würde die radikale Entfremdung der Regierung von den Problemen der Bevölkerung zu Rücktrittsforderungen und Massendemonstrationen führen. Xi hat nichts davon zu befürchten, zumindest unmittelbar. Das liegt zum einen an den totalitären Unterdrückungsmaßnahmen der Staatsmacht, aber nicht nur.
Die Zensur schafft ein Paralleluniversum
Ein Teil der Wahrheit ist auch, dass die Parteiführung dank ihres technologisch hochversierten Zensurapparats ein regelrechtes Paralleluniversum für ihre 1,4 Milliarden Einwohnerinnen und Einwohner geschaffen hat. In den Fernsehnachrichten findet das Leid von Shanghai schlicht nicht statt, und selbst die verzweifelten Hilferufe der Bewohnerinnen und Bewohner auf den sozialen Medien werden umgehend gelöscht.
Stattdessen wird die Schuld wie immer beim Ausland abgeladen: Nach deutschen Schweinshaxen und norwegischem Lachs sind es diesmal südkoreanische Textillieferungen, die den Corona-Erreger nach Shanghai gebracht haben. Es ist erschreckend, wie sehr die systematische Desinformation der chinesischen Regierung bei den Leuten verfängt. Nur die Betroffenen aus Shanghai wissen um die Wahrheit. Diese Erinnerungen werden sie ihr Leben lang begleiten.