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Mit dem Spaten an die FrontWie groß ist der Materialmangel der Russen wirklich?

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Russische Soldaten in Mariupol.

Russische Soldaten in Mariupol.

Russische Reservisten sollen nur mit Gewehr und Spaten in den Angriff geschickt worden sein, Panzertruppen werden mit jahrzehntealten Sowjetpanzern aufgefüllt. Wie groß ist der Materialmangel?

Es war eine ungewöhnliche Meldung, die sich am Sonntag verbreitete: Die Russen kämpfen in der Ukraine angeblich schon mit Spaten, weil ihnen die Ausrüstung ausgeht. Hinter der Nachricht steckt eine Veröffentlichung des britischen Geheimdienstes, die in ihrem täglichen Briefing von Waffen- und Munitionsengpässen auf russischer Seite berichtete. Russische Reservisten sollen nur mit „Schusswaffen und Spaten“ zum Angriff geschickt worden sein.

Dabei handele es sich um den gängigen Klappspaten vom Typ MLP-50, der 1869 entwickelt wurde und sich seitdem kaum verändert hat. Dieser Spaten müsse nun auch für den Nahkampf eingesetzt werden. Doch was ist an dem Bericht des britischen Geheimdienstes wirklich dran? András Rácz, Experte für Russlands Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), hält die Darstellung des Geheimdienstes für realistisch.

„Als die Mobilisierung begann, mussten viele Soldaten ihre Ausrüstung selbst kaufen, sogar den Schlafsack und die kugelsichere Weste.“
András Rácz, Experte für Russlands Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik

„Dass einige mobilisierte Soldaten nur mit Gewehr und Späten an die Front geschickt wurden, kann ich mir gut vorstellen“, sagt er im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Als die Mobilisierung begann, mussten viele Soldaten ihre Ausrüstung selbst kaufen, sogar den Schlafsack und die kugelsichere Weste.“ Mobilisierte Soldaten erhalten in Russland oft nur eine schlechte, manchmal aber auch gar keine Ausrüstung. Doch Rácz geht nicht davon aus, dass alle mobilisierten Russen so schlecht für den Kriegseinsatz ausgerüstet werden.

„Die Qualität der Ausstattung hängt davon ab, aus welcher Region die jeweilige Einheit oder der Soldat kommt.“ Reichere Regionen würden ihre Soldaten mit besserer Ausrüstung ausstatten, ärmere Regionen mit schlechterer Ausrüstung. Es sei daher falsch zu glauben, dass alle mobilisierten Soldaten nur eine Schusswaffe und einen Spaten erhalten würden. Der Militärexperte stellt klar, dass der Spaten ohnehin zur Standardausrüstung für Infanteriesoldaten gehöre – „das ist also keine Überraschung“.

Die seit Herbst mobilisierten Russen, von denen etwa 80.000 direkt an die Front geschickt und die übrigen 220.000 auf russischen und belarussischen Übungsplätzen trainiert wurden, seien deutlich schlechter ausgestattet als die Soldaten der regulären Armee und die Söldner der Wagner-Privatarmee, erklärt Rácz. Der Grund: „Russland war auf diese Mobilisierung absolut nicht vorbereitet.“

In Russland mangelt es an Ausbildung und Ausrüstung für die zusätzlichen Soldaten

Das letzte Mal, dass Moskau eine Mobilisierung angeordnet hatte, sei 1945 während des Zweiten Weltkriegs gewesen. Heute mangele es noch immer an Ausbildung und Ausrüstung für die zusätzlichen Soldaten. Zwar gibt es offiziell riesige Reserven an Waffen und Schutzkleidung für die mobilisierten Russen. „Aber diese Bestände fehlen aufgrund von Korruption oder sind wegen schlechter Lagerung unbrauchbar“, erläutert Rácz.

Die reguläre Armee erhalte dagegen die standardisierte Ausstattung und Bewaffnung. Aber selbst dort gebe es Fälle, in denen Soldaten ihre eigene Ausrüstung gekauft haben, weil die Qualität so schlecht sei. „Es herrscht in ganz Russland ein chronischer Mangel an Ausrüstung und Waffen, und diese mobilisierten Soldaten leiden nun unter den Folgen.“ Doch es ist nicht nur die schlechte Ausstattung und das fehlende Training, das zu enormen Verlusten auf russischer Seite führt.

Munitionsknappheit macht es unmöglich, neue längere Angriffe zu beginnen

Den Russen geht auch langsam die Munition aus. Dies macht Militärexperte Rácz am deutlich gesunkenen Einsatz der Artillerie fest. „Im Sommer haben russische Soldaten noch bis zu 80.000 Schuss am Tag abgegeben, nun sind es etwa 20.000 bis 23.000 Schuss“, erklärt er. Einige Beobachter hielten es im Sommer sogar für möglich, dass bis zu 100.000 Schuss abgegeben wurden. Wegen des Mangels an Munition müsse die russische Armee ihre Artillerieschläge nun „drastisch reduzieren“, so Rácz.

Laut ISW ist Russland „weiterhin mit Munitionsknappheit konfrontiert“ und die sanktionierte russische Verteidigungsindustrie könne diese Engpässe „kurzfristig nicht beheben“. Die Einnahme von ganz Donezk dürfte Jahre dauern, schreiben sie in ihrem Lagebericht. „Die russischen Streitkräfte verfügen derzeit nicht über die erforderliche Arbeitskraft und Ausrüstung, um Offensivoperationen in großem Umfang für eine erneute Offensive gegen Kramatorsk und Slowjansk aufrechtzuerhalten, geschweige denn für einen jahrelangen Feldzug zur Eroberung des gesamten Gebiets Donezk.“

Nach den Kämpfen um Bachmut sei es wegen mangelnder Ausrüstung und fehlender Soldaten für die russischen Streitkräfte „in den kommenden Monaten“ nicht möglich, neue längere Angriffe zu beginnen. „Der Kreml wird eine weitere Mobilisierungswelle starten müssen, um die schweren russischen Verluste in der Region seit Mai 2022 auszugleichen“, so das ISW. (rnd)