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Lawrow zitiert SpenglerWarum der Kreml einen rechten deutschen Philosophen verehrt

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Segej Lawrow 100722

Sergej Lawrow 

Der Titel eines Buches, unter großem Aufsehen vor mehr als 100 Jahren veröffentlicht, ist längst zu einem geflügelten Wort geworden – nicht nur bei neurechten Sympathisanten von AfD und Pegida. „Der Untergang des Abendlandes“, so Oswald Spenglers über 1000 Seiten starkes Werk, galt in den Anfangsjahren der Weimarer Republik als Meilenstein – reaktionär, weil antidemokratisch, aber scheinbar geradezu prophetisch, beschrieb der aus dem Harz stammende Geschichtsphilosoph den offenbar gesetzmäßigen Niedergang der westlichen Zivilisation und ihre Ablösung durch eine Dominanz des asiatischen Kulturkreises.

Kein Wunder daher, dass Spengler bereits zu Zeiten der Flüchtlingskrise und des Aufstiegs neurechter Parteien eine Renaissance feierte. Noch weniger verwunderlich, dass Moskau in den Chor der Spengler-Apologeten einstimmte – weil hier offenbar jemand sehr früh schon eine Art „Drehbuch“ für ein imperiales, auf gewaltsame Ausbreitung setzendes Großreich der Neuzeit geschrieben zu haben schien.

Schwer vorstellbar, dass die belarussischen Studenten in Minsk bis dahin jemals von Oswald Spengler gehört haben. Jedenfalls taten sie es, als der russische Außenminister Sergej Lawrow vergangene Woche dort zu ihnen sprach. Spenglers Analyse vom „Untergang des Abendlandes“ sei „sehr weitsichtig“, gibt die kremlnahe Nachrichtenagentur Ria Nowosti Lawrows Worte wieder.

Oswald Spengler IMAGO

Oswald Spengler 

Zwar stehe Europa als Kontinent Russland kulturell sehr nahe, doch habe es seinen „Niedergang“ selbst verschuldet, so Lawrow, weil es sich selbst zu einem „Anhängsel der amerikanischen Politik“ degradiert hätte. Alle Entscheidungen würden mittlerweile in Washington getroffen.

Die USA seien in ihrer Sanktionspolitik auch „klüger“ als Europa, so der Außenminister, sie schadeten ihrer eigenen Wirtschaft nämlich „nicht zu viel“.

Es war nicht Lawrows erster Ausflug in Spenglers pessimistische Philosophie. Bereits 2013 hatte der Außenminister mit den armenischen Wurzeln, der im Unterschied zu den eher brachialen historischen Vereinfachungen seines Präsidenten gern philosophische Exkurse unternimmt, den deutschen Geschichtsphilosophen ausdrücklich gewürdigt.

Spengler beklagte bereits vor 100 Jahren zu Recht, dass die westliche Gesellschaft ihre moralische Haltung und ihren Wunsch verliere, die menschlichen Werte zu verteidigen, schrieb Lawrow damals – und berief sich auf das Nichthandeln des Westens in Syrien. Anders als Russland.

Putin – einer der neuen „Cäsaren“

Viele Passagen in Spenglers Monumentalwerk müssen dem heutigen Russland Putins gefallen: Da ist davon die Rede, dass die an Dekadenz, Werteverfall und Orientierungslosigkeit krankenden Demokratien des Westens allmählich von politischen „Cäsaren“ abgelöst werden, also von autokratischen Herrschern, die jenen Großreichen zu einer letzten Blüte verhelfen – klingt das nicht nach Trump, Putin, Erdogan?

Zudem schrieb Spengler in dem 1918 veröffentlichten ersten Teil, auf das Ende der Dominanz des Westens folge der Aufstieg Asiens – in Moskau sieht man das mit der vom Kreml inszenierten Eurasischen Wirtschaftsunion (einer Art Anti-EU) erfüllt, ohnehin sieht man dort in der Kooperation mit China die Zukunft.

Zudem lobte Spengler in seinem Buch auch die russische Kultur ganz direkt, in der – im Gegensatz zur „faustischen Kultur“ (Bezug auf Goethes Darama „Faust“, in dem sich ein überehrgeiziger Wissenschaftler mit dunklen Mächten verbündet) des Westens – christliche und traditionelle Werte noch eine wichtige Rolle spielten.

Alexander Dugin lobte Spengler bereits 2014

„Ich berufe mich auf Kulturtheoretiker wie Oswald Spengler“, sagte 2014 im Interview mit dem „Spiegel“ einer, der in Putins Russland in philosophischen Fragen eine Art Deutungsmonopol besitzt: Alexander Dugin, Professor für Philosophie und Putins ideologischer Munitionslieferant.

Dugin schrieb das Strategiehandbuch, das Putins Außenpolitik prägt, er berät politische Entscheidungsträger wie den Duma-Präsidenten und ist Anführer der Eurasischen Bewegung. „Ich liebe Europa, deswegen flößt mir das jetzige Europa einen solchen Schrecken ein. Ich sehe, dass es stirbt“, sagte Dugin im „Spiegel“-Gespräch.

Noch 2014 verlor Dugin seinen Lehrstuhl an der renommierten Moskauer Lomonossow-Universität, weil er zum Einmarsch in in Ostukraine und zum Töten von Ukrainern aufgerufen hatte. Heute ist dieses Denken längst russische Staatspolitik, auch wenn Putin Dinge, die Dugin sich nicht scheut auszusprechen, nie so sagen würde.

Spengler: Schwäche ist Zeichen des Niedergangs

Daher wird jede im Westen geführte Debatte über ukrainische Landabtretungen, über den Sinn oder Unsinn von Waffenlieferungen an Kiew, über Angebote an Putin, um diesen einen irgendwie gearteten Triumph zu ermöglichen, in Moskau als Zeichen des Niedergangs und der Schwäche des „Abendlandes“ ganz im spenglerschen Sinne gedeutet.

Weil der Westen, obwohl nicht einmal Kriegspartei, diesen Krieg selbst aus der Distanz nicht aushält. Während die Ukrainer, die Folgen einer Niederlage vor Augen, zu allen Opfern eines Kampfes entschlossen zu sein scheinen.

Der aus dem Harz stammende Spengler war zwar weder Antisemit noch Nazi-Sympathisant, jedoch entschiedener Demokratieverächter und reaktionärer Anhänger eines Elitegedankens, der vor allem im italienischen Faschismus ein Modell für die Zukunft sah. Das im Westen angestrebte Ideal von Freiheit, individueller Entfaltung und der Manifestation ethisch-moralischer Werte verachtete er als „Vermassung“, „Geldanbetung“, Entwurzelung.

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Als Geschichtsphilosoph ging Spengler nicht streng wissenschaftlich vor, sondern argumentierte morphologisch – analysierte historische Epochen anhand ihrer „äußeren Erscheinungsformen“, zum Beispiel Bauwerke, Kunst und andere Ausdrucksformen.

Dabei entstand bei ihm die Überzeugung, dass alle großen Kulturen – er zählte neben der Antike und dem „Abendland“ auch die früheren Kulturen Indiens, Mesopotamiens, Chinas, Ägyptens, Arabiens und Mittelamerikas dazu – nach einer Epoche des Aufstiegs und der Blüte später dem Untergang geweiht seien.

Riesiger Erfolg nach dem Ersten Weltkrieg

Der intellektuelle Schwarzseher, der zeitweise auch Autoren wie Thomas Mann in seinen Bann zog, schrieb seine berühmte, aber heute weitgehend vergessene Fortschrittskritik vom „Untergang des Abendlandes“ vor und während des Ersten Weltkriegs, als sich Europa in ein Schlachthaus verwandelte.

Den Zeitpunkt für den endgültigen „Untergang des Abendlandes“ datierte Spengler übrigens auf irgendwann im 22. Jahrhundert. Wladimir Putin, der ja nach eigenen Ambitionen mindestens bis 2035 regieren darf oder will, ist als neuer Cäsar vielleicht einfach ein bisschen zu früh erschienen.