MilitärexpertenRusslands große Mobilmachung geht im Verborgenen weiter
Entgegen Moskaus Behauptungen geht die Mobilmachung weiterer Soldaten für den brutalen Krieg gegen die Ukraine weiter – im Verborgenen. Das berichten Militärexperten auf Basis mehrerer Quellen in Russland und der Ukraine. Doch welche Folgen hat das für den Kriegsverlauf?
Mehr als 250 Tage nach Beginn von Russlands verheerendem Krieg gegen die Ukraine sind die russischen Streitkräfte stark ausgedünnt und am Ende ihrer Kräfte. „Die russischen Verbände sind einfach ausgeblutet und können nicht mehr“, sagte Oberst i. G. Andreas Schreiber vom German Institute for Defence and Strategic Studies, dem Thinktank der Bundeswehr. Mit der Mobilmachung von 300.000 Reservisten will Russland die Verbände wieder auffüllen. Diese Teilmobilmachung sei nun abgeschlossen, teilte der Kreml mit. Weitere Mobilmachungen seien nicht geplant.
Reservisten sollen Einrufungsbescheide bekommen haben
Doch die Militärexperten des US-Thinktanks Institute for the Study of War (ISW) haben zahlreiche Hinweise gesammelt, dass die verdeckte Mobilmachung weitergeht. „Zahlreiche russische Quellen berichteten, dass russische Rekrutenoffiziere weiterhin Männer mobilisieren“, heißt es im ISW-Lagebericht. Demnach sollen Reservisten Einberufungsbescheide in der westsibirischen Stadt Tjumen und St. Petersburg erhalten haben.
In mehreren ukrainischen Städten, die unter russischer Militärbesatzung stehen, sollen Ukrainer ebenfalls in Kampfverbände gezwungen werden. Dem ISW liegen unter anderem Berichte aus Melitopol und Mariupol vor. Unabhängig überprüfen ließ sich dies nicht.
Etwa 80.000 der Reservisten sind laut Kreml bereits in die Ukraine geschickt worden. Experten wie Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer gehen jedoch davon aus, dass erst im Dezember und Januar der Großteil der neu mobilisierten Soldaten in der Ukraine eintreffen wird. Sie sollen die Hauptdefizite der russischen Streitkräfte, den Mangel an Infanterie, ausgleichen.
„Darauf muss sich die Ukraine über den Winter vorbereiten“, so Reisner. Russlands Präsident Wladimir Putin hatte zuvor erklärt, die neuen Soldaten sollen die mehr als 1000 Kilometer lange Frontlinie sichern und die Rückeroberung durch die ukrainische Armee verhindern.
Zusammenbruch der russischen Moral noch nicht zu erkennen
„Es ist eindeutig erkennbar, dass Russland sich entlang des von ihm besetzten Gebiets zur Verteidigung eingräbt“, erklärt Oberst Reisner die Situation. Im Donbass und Cherson seien umfangreiche Schanzarbeiten erkennbar. „Die Russen sind offensichtlich gekommen, um zu bleiben.“ Ein Zusammenbruch der Moral sei entgegen aller im Westen gezeigten Videos noch nicht erkennbar.
Laut dem australischen Militärexperten Mick Ryan stellt die Mobilisierung neuer Soldaten eine von fünf Säulen der russischen Strategie dar. „Die Mobilmachung ersetzt ihre Personalverluste und baut die Armee für zukünftige Offensivoperationen wieder auf“, erklärt Ryan. Die Mobilmachung betreffe aber auch die Industrie und ziele darauf ab, zerstörte militärische Ausrüstung zu ersetzen und die Leistung der Militärindustrie zu erhöhen.
Russland-Experte Vladimir Frolov vom Moskauer Carnegie-Thinktank glaubt jedoch nicht, dass die Bemühungen des Kremls schnelle Erfolge haben werden. „Das schlechte Ausbildungs- und Ausrüstungsniveau der neu mobilisierten Truppen hat zur Folge, dass sie nicht für Offensivoperationen eingesetzt werden können.“
Soldaten bekommen 50 Jahre alte Sturmgewehre
Um das von Russland besetzte Territorium halten und kontrollieren zu können, drücke man den Soldaten sogar fünfzig Jahre alte AKM-Sturmgewehre in die Hand. „Moskau braucht eine längere Kampfpause, um kampfbereite Bodentruppen fast von Grund auf neu aufzubauen.“ Das Ziel sei nur noch, die bisherigen Gebietsgewinne zu halten. Zu mehr sei Russlands Militär im Moment nicht fähig.
Unterdessen hat Russland mit der halbjährlichen Einberufung der Wehrpflichtigen begonnen. Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums sollen 120.000 Männer für den Wehrdienst rekrutiert werden. Nach offiziellen Angaben sollen sie nicht in den von Russland besetzten Gebieten Luhansk, Donezk, Cherson oder Saporischschja eingesetzt werden. Die meisten Rekruten sollen in Ausbildungsverbänden und Militäreinheiten fünf Monate lang trainieren.
Experten halten es aber für fraglich, ob Russland überhaupt dazu in der Lage ist, genügend Ausbilder für die Rekruten abzustellen. „Viele der eigenen Ausbilder sind schon im dritten oder vierten Kriegsmonat eingesetzt worden und zum großen Teil gefallen“, sagt Oberst i. G. Andreas Schreiber im RND-Interview. Russland versuche daher seine Ausbildungskapazitäten zu erhöhen, indem es Soldaten in Belarus ausbilden lässt.