Mobilmachung ändert nichts am KriegWelche Optionen Putin noch bleiben
Russlands Präsident steht mit dem Rücken zur Wand. Die Situation der russischen Armee in der Ukraine ist dramatisch, die Rekrutierung neuer Soldaten gefloppt und wenn Kremlchef Putin nicht bald Erfolge vorweisen kann, könnten ihn die Eliten stürzen. Viele Optionen hat er nicht.
Große Verluste der russischen Armee
Als die 64. Brigade der russischen Armee von Putin für ihr „Heldentum“ geehrt wurde, ging ein Aufschrei um die Welt. Die berüchtigten Kämpfer dieser Einheit sollen, so der Vorwurf, für die Gräueltaten in der Kleinstadt Butscha verantwortlich sein. Wahllos sollen sie auf Zivilisten und Zivilistinnen gefeuert haben, ein regelrechtes Massaker. Berichten zufolge wurden die Soldaten sofort wieder in den Kampf geschickt, damit sie keine Fragen zu den Geschehnissen beantworten können. Heute sind offenbar fast alle Mitglieder der Einheit tot. 90 Prozent Verlust in der 64. Brigade, heißt es vom ukrainischen Generalstab. Moskau habe die Auflösung der Einheit angeordnet.
Ein Einzelfall ist dies nicht. Die Verluste in der Armee sind groß, vor allem bei den professionellen Vertragssoldaten, die Teilmobilmachung ein Risiko und die Ukraine erobert eine Stadt nach der anderen zurück. Anfängliche Versuche, die erfolgreiche Gegenoffensive der Ukraine herunterzuspielen, wurden in Russland schnell als Lüge enttarnt und scharf kritisiert. Schafft es Putin nicht, das Blatt in der Ukraine zu wenden, könnte er am Ende sein. Viele Optionen hat er nicht – und keine davon ist gut.
1. Es bleibt bei der Teilmobilmachung
„Wenn die russischen Truppen so ausgedünnt bleiben, wird es für sie unmöglich sein, die eroberten Gebiete entlang der langen Frontlinie zu halten“, sagt der Russland-Experte Gerhard Mangott von der Universität Innsbruck. Bisher hatten die Rekrutierungsbüros vor Ort um Freiwillige geworben, jetzt wirbt das Innenministerium mit einer russlandweiten Rekrutierungskampagne. Freiwillige unter 35 Jahren, die bereits Militärdienst geleistet haben, sollen 75.000 bis 80.000 Rubel (ca. 1300 Euro) und eine Wohnung in Moskau erhalten.
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Doch über die Rekrutierung freiwilliger Söldner wird Russland die Personalnot nicht beseitigen können. Auch eine landesweite Kampagne löse das Problem nicht. Das hat inzwischen auch Putin erkannt und am Mittwoch eine Teilmobilmachung angekündigt.
Laut Verteidigungsminister Sergei Schoigu gibt es 25 Millionen Bürger mit militärischer Erfahrung, von denen zunächst lediglich 300.000 eingezogen werden sollen. Das sind gerade einmal ein Prozent der russischen Männer zwischen 20 und 55 Jahre. Obwohl die Ankündigung also zunächst nur einen kleinen Teil der Bevölkerung persönlich trifft, herrscht nun Angst und Panik in vielen russischen Familien. Bei Google stieg die Zahl der Suchanfragen zum Thema „Wie man Russland verlässt“ sprungartig an. Schon jetzt zeichnet sich eine regelrechte Massenflucht ab. One-Way-Flüge von Moskau nach Istanbul (Türkei) und Eriwan in Armenien waren innerhalb weniger Stunden komplett ausgebucht. Beides sind Länder, in die Russen noch ohne Visum einreisen dürfen.
Die Bereitschaft und die Moral, in den Krieg gegen die hochmotivierte, kämpferische Ukraine zu ziehen, sind gering. Die Teilmobilmachung kommt zudem sehr spät. Das US-Verteidigungsministerium bezifferte im August die Zahl der verletzten und getöteten russischen Soldaten mit „70 oder 80.000 in weniger als sechs Monaten“. In russischen Talkshows forderten Hardliner und ranghohe Ex-Militärs schon lange, dass Putin den Krieg endlich massiv ausweiten und eine Generalmobilmachung verkünden soll. „In den Medien testete Russland offensichtlich, wie eine Mobilmachung bei der Bevölkerung ankommen würde“, so Christian Mölling, Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).
Doch wochenlang war der Kremlchef vor diesem Schritt zurückgeschreckt – aus mehreren Gründen. „Das wäre ein Eingeständnis von Schwäche und er müsste zugeben, dass der Krieg für Russland nicht gut läuft“, sagt Mölling dem RND.
Über Monate konnte die Regierung in Moskau mithilfe der staatlichen Propaganda den Eindruck erwecken, dass in Russland das normale Leben trotz der Spezialoperation weitergehe. „Im Alltag der Menschen spielt der Krieg keine Rolle, er findet fast nur im Fernsehen statt“, sagt Mangott. Das gelte vor allem für die großen Städte. „In Moskau und St. Petersburg gibt es nur wenige gefallene Soldaten, dort sieht und spürt man diesen Krieg nicht.“ Den meisten Menschen ist die „Spezialoperation“ schlichtweg egal. Durch die Mobilmachung ändert sich das jetzt schlagartig: Söhne und Väter werden von den Familien weggeholt und zwangsweise an die Front geschickt. Mangott spricht von einem „Schock in der Bevölkerung, weil dann der Krieg gewissermaßen in fast jede Familie hineingetragen wird.“ Der Innsbrucker Experte glaubt, dass dies Mobilmachung die Stimmung in der Bevölkerung verschieben kann und mehr kritische Stimmen laut werden.
Die von Putin ausgerufene Teilmobilmachung stößt neben der geringen Moral aber noch auf weitere Probleme. In den vergangenen Jahren hat Russland seine Organisation zur Mobilmachung immer weiter heruntergefahren. Die meisten der Reservisten haben schon lange nicht mehr trainiert. Zwar kündigte Putin an, dass alle ein ausführliches Training erhalten. Doch für eine monatelange Ausbildung der eingezogenen Russen fehlt die Zeit und Tausende Reservisten in der Ukraine zu verheizen, bringt auch keinen russischen Sieg. Auch die Ausstattung für die Reservisten gilt vielerorts als unbrauchbar oder müsste erst einmal instand gesetzt werden.
Das nächste Problem: Wenn das Training der Reservisten in einigen Wochen abgeschlossen ist, steht erst einmal der Winter vor der Tür. Große Kämpfe sind dann kaum möglich, mit einer Offensive rechnen Experten erst im Frühjahr. Kurzfristig hat Putin durch die Teilmobilmachung also nichts erreicht. Laut dem australischen Militärexperten Mick Ryan kann Putin mit den neuen Reservisten gerade einmal die Verluste in den eigenen Reihen auffüllen und eine Rotation der Soldaten ermöglichen. Da die Kampfleistung nach drei bis vier Monaten abnehme, handele es sich um eine erschöpfte Streitmacht und eine Rotation sei notwendig. „Die Anzahl der mobilisierten Soldaten wird nicht reichen, um den Ausgang des Krieges entscheidend zu beeinflussen“, so Ryan. Die Truppen sollen aufgefrischt werden, um eroberte Gebiete weitgehend zu halten, so der Experte. Ein Aufbau riesiger neuer Offensivkapazitäten sei das nicht.
2. Unfreiwilliger Rückzug aus der Ukraine
Mehr als 120.000 Quadratkilometer hält Russland in der Ukraine derzeit besetzt, etwa ein Fünftel des gesamten Landes. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj kündigte die Rückeroberung aller Gebiete an. „Die gesamte Ukraine muss frei sein“, erklärte er in einer Videoansprache. Putins Zukunft hängt davon ab, ob Russland in der Ukraine wieder die Oberhand gewinnen kann, so Experte Mangott. Ein Rückzug ist keine echte Option. „Putins Amt ist in Gefahr, wenn er diesen Krieg verliert oder sogar katastrophal verliert.“
Wenn die Ukraine nicht nur die seit dem 24. Februar eroberten Gebiete zurückerobert, sondern auch Gebiete, die Russland vor dem Krieg gehalten hat – also die Krim und einen Teil des Donbass im Osten der Ukraine –, dann könnte seine Position gefährdet sein. „Eine so große militärische Niederlage wäre das Ende für Putins Machtposition“, sagt Mangott. Der Grund: Russland hätte nichts gewonnen, aber sehr viele Menschenleben und Kriegsgerät verloren, hinzu kommen noch die immensen Kosten der Sanktionen. Das würde Unruhe in die Elite des Landes bringen, so Mangott, und es sei schwer abzuschätzen, wie groß der Rückhalt für Putin dann noch ist. „Ich schätze aber, das bringt ihn an den Rande des Sturzes, vielleicht sogar bis zum Sturz.“
Am schlimmsten würde Russland der Verlust der Krim treffen, die Russland nach der völkerrechtswidrigen Annexion 2014 als Teil des eigenen Staatsgebietes betrachtet. „Für das russische Selbstbewusstsein, die Identität und die Wahrnehmung ist es etwas ganz anderes, einen Teil des Staatsgebiets zu verlieren, das historisch sehr eng mit Russland verbunden ist“, erklärt Mangott. Militärexperte Mölling glaubt aber nicht, dass die Krim sehr bald in ukrainischer Hand ist. „Die Rückeroberung wird nicht in diesem Herbst oder im Frühjahr beendet sein, das wird sich wahrscheinlich noch zwei Jahre hinziehen.“
3. Eskalation mit Atomwaffen
„Tun Sie es nicht, tun Sie es nicht, tun Sie es nicht.“ Mit diesen eindringlichen Worten warnte US-Präsident Joe Biden im TV-Sender CBS Putin vor dem Einsatz taktischer Atomwaffen. Sollte sich eine totale Kriegsniederlage abzeichnen, könnte Putin tatsächlich taktische Nuklearwaffen einsetzen, fürchtet Mangott. „Diese Option müssen wir in Betracht ziehen.“ Laut dem Militärexperten Frank Sauer von der Universität der Bundeswehr München hätte die Sprengkraft solcher Waffen ein Vielfaches der Bomben, die 1945 Hiroshima und Nagasaki in Schutt und Asche gelegt haben.
„Aktuell wäre für Putin mit nuklearer Eskalation eigentlich nichts gewonnen“, sagte er dem ZDF. Sauer glaubt, dass der Westen seine Gangart gegen Russland nur noch verschärfen würde. Andere Fachleute halte es für möglich, dass der Westen aus Angst vor einem Atomkrieg die Ukraine zu einem Waffenstillstand drängen oder selbst eine Nuklearwaffe einsetzen könnte. Es ist aber fraglich, so Mangott, ob sich die Ukraine von einer solchen nuklearen Detonation aufhalten lässt.
Russland spielt mit der Gefahr, sich durch den Einsatz einer Nuklearwaffe endgültig weltweit zu isolieren – nicht nur gegenüber dem Westen. Staaten wie China und Indien werden einen solchen Schritt verurteilen, glauben Mangott und Sauer, und auf Distanz zu Russland gehen. Es sei ein erhebliches politisches Risiko, das Putin auf sich nehmen würde, wenn er dieses seit 1945 vorherrschende nukleare Tabu bricht. In höchster Not sei dies aber sein letztes Mittel.
4. Schuldige finden und feuern
Angesichts des für Russland desaströsen Kriegsverlaufs hätte Putin eigentlich längst personelle Konsequenzen ziehen müssen. Die Gegenwehr der Ukrainer hatte die Militärführung massiv unterschätzt, die Offensive in Charkiw trotz vieler Hinweise bis zuletzt nicht kommen sehen. Dass Generalstabschef Gerassimow und Verteidigungsminister Schoigu weiter im Amt sind, hat manche überrascht. Eine Entlassung wäre aber ein offenes Eingeständnis, dass der Einsatz in der Ukraine nicht nach Plan verläuft, obwohl der Kreml dies in den vergangenen Monaten mantraartig wiederholt hat.
„Kommt es zu so hochrangigen Entlassungen, merkt auch die Bevölkerung, dass etwas schiefläuft und sie über Monate belogen wurden“, sagt Mangott dem RND. Er hält es trotzdem für möglich, dass es in der Zukunft noch zu einer Absetzung der beiden kommt, um Schuldige für den schlechten Kriegsverlauf zu finden und damit sich Putin selbst aus der Verantwortung ziehen kann.
Ob Putin damit durchkommt, ist fraglich. Die Menschen werden sich fragen, so Mangott, warum Schoigu zehn Jahre Verteidigungsminister Russlands war und nun so gewaltig versagt hat. Warum hat Putin nicht erkannt, dass die beiden nicht qualifiziert genug sind? Am Ende ist auch dieser Schritt keine gute Option für den Kremlchef.
5. Friedensverhandlungen anbieten und den Westen unter Druck setzen
Innerhalb weniger Tage hat die Ukraine nun ein Gebiet zurückerobert, für das die russischen Truppen zwei Monate brauchten. Wenn die Rückeroberungen so weitergehen und Putin keinen Ausweg sieht, könnte er der Ukraine auch ein Angebot machen. Das müsse allerdings so attraktiv sein, betont DGAP-Experte Mölling, dass es für die Ukraine akzeptabel ist. „Ein Angebot Russlands müsste über das hinausgehen, was die Ukraine ohnehin militärisch in absehbarer Zeit zurückerobern könnte“, sagt Mölling. Weite Teile der von Russland besetzten Gebiete würden demzufolge wohl an die Ukraine zurückgehen. „Es ist nahezu ausgeschlossen, dass sich Putin darauf einlässt.“
Westliche Länder könnten die Ukraine im Winter aber womöglich zu Verhandlungen drängen. Darauf spekuliert jedenfalls Putin mit seinem Energiekrieg gegen den Westen. Sollte im Winter das Gas tatsächlich knapp werden und Putins Propaganda Erfolg haben, könnte die Unterstützung für die Ukraine bröckeln.
Zum jetzigen Zeitpunkt ist es allerdings unwahrscheinlich, dass die Ukraine überhaupt auf Verhandlungen eingeht. Der Berater des ukrainischen Präsidentenbürochefs, Mychajlo Podoljak, sagte am Sonntag, Russland würde bei solchen Verhandlungen nur versuchen, Geländegewinne festzuhalten, zu legitimieren und später die Angriffe fortsetzen. Außerdem möchte die Ukraine Russland für die auf ukrainischem Terrain begangenen Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverstößen zur Rechenschaft ziehen und fordert Reparationszahlungen.
Laut Mölling wären Verhandlungen „am erfolgreichsten mit einer neuen Person an der Spitze Russlands und nicht mit Putin“. Bei allen Verhandlungen würden der Westen und auch die Ukraine die Glaubwürdigkeit der Ergebnisse infrage stellen, weil niemand mehr Putin vertraut.