Museen, Theater, KirchenRusslands Krieg gegen ukrainische Kultur ist Kalkül
Kiew – Die Unesco listet bislang 183 kulturelle Stätten auf, die in Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine beschädigt oder zerstört wurden. Russlands Präsident Putin spricht der ukrainischen Kultur die Existenzberechtigung ab – und erreicht damit das Gegenteil. Nie gab es weltweit ein größeres Interesse an ukrainischer Kultur.
Der Dekan, Archimandrit Galaktion, Mönch Aristokliy und die Nonne Varvara – sie hatten keine Chance. Zwei Klostergebäude waren mit Granaten eingedeckt worden, die drei Bewohner des Klosters zur Heiligen Entschlafung in Swjatogorsk waren auf der Stelle tot. Die Ursprünge des Klosters gehen auf das 13. Jahrhundert zurück, als Mönche aus dem Großraum Kiew hier vor der Invasion der Mongolen Zuflucht fanden, die um 1240 unter Baku Khan Kiew belagerten.
Doch den Raketen der russischen Armee hielten die alten Gebäude nicht stand. Zuvor war die Klosteranlage, in der sich zeitweise auch 500 Flüchtende aufhielten, mehrfach von russischen Flugzeugen angegriffen worden. Um „Gebete für die Ruhe der Toten und für die rasche Genesung der Verwundeten“ bat der Metropolit, der zuständige Erzbischof der ukrainisch-orthodoxen Kirche.
Ein Vernichtungskrieg gegen die ukrainische Kultur
Russlands Krieg gegen die Ukraine – es ist auch ein Vernichtungskrieg gegen die ukrainische Kultur, der die Kreml-Ideologen ihre Daseinsberechtigung absprechen. Sobald die russischen Soldatinnen und Soldaten eine ukrainische Stadt erobert haben, passierte stets das Gleiche: „Es werden sofort alle ukrainischen Bücher aus der Bibliothek genommen, also verbrannt oder weggeschmissen. Alles Ukrainische wird wieder verboten oder vernichtet“, berichtete der in Lwiw geborene Dramatiker und Konzeptionskünstler Pavlo Arie Anfang Juni anlässlich des „Kulturpolitischen Salons“ im Deutschen Theater Berlin.
Die Unesco, die UN-Unterorganisation, die sich der Bewahrung des Weltkulturerbes verschrieben hat, begann früh, im russischen Angriffskrieg zerstörte Kulturdenkmäler zu registrieren. Bis zum 29. August wurden Schäden an 183 Stätten dokumentiert, an 78 religiösen Einrichtungen, Kirchen und Klöstern zumeist, 13 Museen, 35 historischen Gebäuden, 17 Denkmälern, 31 Gebäuden für kulturelle Aktivitäten, neun Bibliotheken.
Bereits Mitte März schrieb daher Audrey Azoulay, die Unesco-Generaldirektorin, an den russischen Außenminister Sergej Lawrow, erinnerte ihn an Moskaus Verpflichtungen zum Schutz von Kulturstätten im Rahmen der Haager Konvention von 1954, die sowohl Russland als auch die Ukraine unterzeichnet haben. Mit der Stimme Russlands hatte der UN-Sicherheitsrat 2017 einstimmig die Resolution 2347 verabschiedet, die den Schutz des kulturellen Erbes erstmals zu einem Sicherheitsgebot machte und die vorsätzliche Zerstörung von Kulturgut als Kriegsverbrechen verurteilte. Lawrow soll auf Azoulays Schreiben knapp geantwortet haben, Moskau sei sich „seiner Verpflichtungen sehr wohl bewusst“.
Doch die Realität spricht eine andere Sprache: „Die Russen zerstören nicht nur Militär- und Infrastruktureinrichtungen, sie zerstören auch kulturelle Stätten“, sagte Pavlo Bohaychyk vom Denkmalamt der Abteilung für historischen Umweltschutz in der Stadt Lwiw.
In Odessa, im Westen gelegen und weit weg von der Front, zerstörten Raketen im Juli Teile des großen Glasdachs und der Fenster des 1899 eingeweihten Museums der Schönen Künste.
Keine Kollateralschäden, sondern Kalkül
Dass es sich bei solchen Zerstörungen nicht immer um Kollateralschäden handelt, verdeutlicht die Tatsache, dass die Schäden vor allem da hoch sind, wo russische Besatzer für längere Zeit Gebiete besetzten. Zum Beispiel in Tschernihiw nordöstlich von Kiew, eine der altertümlichsten und historisch wertvollsten Städte der Ukraine.
Zwischen 25. Februar und 4. April war Tschernihiw von russischen Truppen besetzt, 14 kulturelle Einrichtungen wurden in dieser Zeit beschädigt oder zerstört, darunter die ukrainisch-orthodoxe St. Theodosius-Kirche, die vollständig ausbrannte. Sie galt als Symbol der ukrainischen Unabhängigkeit.
„Wir haben jeden Tag ein Treffen zur Schadensbegrenzung und die Liste wird länger“, sagte Ernesto Ottone, stellvertretender Generaldirektor für Kultur der Unesco. „Wir sind sehr besorgt über die Situation, nicht nur aus humanitären Gründen, sondern auch zum Schutz des kulturellen Erbes. Das Erbe der Menschheit ist in der Tat in Gefahr.“
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Versuche, die ukrainische Kultur auszulöschen, gab es schon früher. „Seit mehr als 200 Jahren leidet das Land unter einer Politik der Russifizierung. Immer wieder wurde das Sprechen und Schreiben auf Ukrainisch verboten, und als Stalin die Ukraine mit einer Massenhungersnot überzog, starben Millionen Menschen – und mit ihnen ihre Sprache“, so Pavlo Arie.
In dieser Kontinuität, die Zerstörung von ukrainischer Identität und Kultur zum Ziel, ist auch das heutige Vorgehen der russischen Aggressoren zu sehen. Dabei handelt es sich nicht um die Verfehlungen einzelner russischer Soldaten, die Auslöschung der ukrainischen Kultur ist erklärtermaßen Kremlstrategie.
„Putin begreift die Ukraine als integralen Bestandteil der russischen Geschichte und Kultur“
„Putin begreift die Ukraine als integralen Bestandteil der russischen Geschichte und Kultur“, erläuterte der Gießener Osteuropahistoriker Thomas Bohn Mitte Juli in einem Vortrag im Historischen Rathaussaal Marburg. Thema: Das Geschichtsverständnis des russischen Präsidenten. „Putin ist angetreten, um die Geschichte und Kultur der Ukraine infrage zu stellen. Doch was er erreicht hat, ist das Gegenteil“, zog Bohn als Fazit.
Denn plötzlich spricht die halbe Welt über ukrainische Kultur, die bis zu Beginn des Krieges außerhalb der Grenzen des Landes kaum wahrgenommen wurde. Europaweit setzen Sender ihren Fokus auf ukrainische Kunst und Kultur. Ukrainische Orchester geben Konzerte, ukrainische Gegenwartsliteratur wird übersetzt, mithilfe von 200 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauern gewann das Land den Eurovision Song Contest, viele Kulturschaffende können im Exil arbeiten.
Die Menschen im Land, die vielfach um das nackte Überleben kämpfen, identifizieren sich plötzlich mit ihrer Kultur, die sie vor Zerstörung schützen. In der ganzen Ukraine wurden historische und kulturelle Stätten mit Brettern vernagelt und mit Sandsäcken versehen, um sie vor Raketen zu schützen. Denkmäler und Statuen wurden in Polster eingewickelt oder mit Schutzfolien abgedeckt, während Museen kostbare Kunstwerke in Kartons verpackt und in geheime Keller verbannt haben.
In keiner ukrainischen Stadt ist die Kultur so reich und vielfältig wie im galizischen Lwiw mit der von polnischen, jüdischen, österreichischen und ukrainischen Einflüssen geprägten historischen Altstadt mit ihren orthodoxen, armenisch-apostolischen und ukrainisch-griechisch-katholischen Kirchen.
„Lwiw war eine der ersten Städte, die Maßnahmen ergriffen hat, um Kulturdenkmäler zu erhalten und sie vor Bomben zu schützen“, sagte Pavlo Bohaychyk vom Denkmalamt in der britischen „Financial Times“.
„Unsere Geschichte ist unsere Erinnerung“, so Pater Nestor Kyzyk, Priester der Garnisonskirche St. Peter und Paul, im selben Blatt. „Und ohne Vergangenheit haben wir keine Zukunft.“