Nach Neu-InfektionenOB Boris Palmer verteidigt Tübinger Modell zum Corona-Schutz
Wie ist denn im Moment die Lage in Tübingen? Das Tübinger Modell zum Schutz von Senioren hat ja viele Schlagzeilen gemacht. Aber es gab durchaus die eine oder andere Stimme, die nach den frischen Corona-Fällen in Senioreneinrichtungen gesagt hat, das sei es nun wohl gewesen mit dem Tübinger Modell …
Boris Palmer: Ich hatte in der vergangenen Woche gesagt, dass es keine Fälle bei uns gegeben habe, das stimmte auch. Ich habe aber nicht gesagt, wir werden niemals Fälle haben. Jetzt haben leider auch wir Infektionen in Altenheimen. Für mich ist aber nicht die entscheidende Frage, ob wir Fälle haben, sondern ob wir durch die Tests weniger Fälle haben.
Wir würden Sie den Tübinger Weg kurz und bündig als Exportmodell beschreiben?
Also das Prinzip ist ganz klar: Wir fokussieren unsere Schutzanstrengungen auf Menschen über 65 Jahren, weil die das größte individuelle Risiko tragen zu erkranken. Aber auch das größte systemische Risiko tragen sie: ein Intensivbett beanspruchen zu müssen, das dann wiederum für einen Engpass sorgt. Und um diesen Schutz zu verbessern, ergreifen wir Maßnahmen, die wir nicht für alle finanzieren können.
Testen, Taxi-Vergünstigungen und kostenlose Masken zum Schutz von Senioren: Warum scheint es so unmöglich, ein so vergleichsweise einfaches Maßnahmenpaket im Lande umzusetzen?
Ich glaube, es gab zwei wesentliche Hinderungsgründe. Der eine war politischer Natur. Die unterschiedliche Behandlung der Älteren, der Senioren, wurde als Diskriminierung diffamiert und deswegen war es für die meisten dann auch gar nicht mehr diskutabel. Ich habe mir mehrfach Prügel vom Landesseniorenrat eingeholt, die Alten in unserer Stadt zu diskriminieren. Das will man als Oberbürgermeister jetzt nicht unbedingt lesen. Dann gibt es noch ein Erkenntnisproblem, dergestalt, dass sehr viele Wissenschaftler und Politiker, Karl Lauterbach vorneweg, gesagt haben, man könne die Risikogruppen ohnehin nicht schützen. Das wurde dann mit meiner Ansicht nach recht abstrakten Berechnungen belegt, dass das nichts bringe – und dann zu den Akten gelegt. Das war aus meiner Sicht grob fahrlässig, weil sich ja mittlerweile die Erkenntnis durchsetzt, wenn wir nur auf Kontaktbeschränkungen für alle setzen und sonst gar nichts mehr tun, dann wird dieser Winter ein Desaster.
Sind wir auch zu behäbig, was digitale Infrastrukturen anbelangt?
Die Rückständigkeit beim Einsatz moderner Technologie und diese extreme Resistenz gegen Big-Data-Technologie ist schon auffällig. Wir geben freimütig unsere Daten nach Amerika, aber dem eigenen Staat misstraut man so sehr, dass man ihm am liebsten gar nichts geben würde. Und das führt dazu, dass wir gegenüber Asien massiv zurückfallen. Diese Pandemie wird uns gegenüber Asien extrem schaden, auch wirtschaftlich, und sie stellt unsere freiheitliche Gesellschaft auf eine harte Probe, weil das Versagen eines Systems von seinen Leistungen her auch seine Prinzipien infrage stellt. Und genau das passiert. Unser System versagt von den Ergebnissen her. Viele werden das bemerken, und sich fragen, warum die Asiaten das besser können – nur weil wir nicht in der Lage sind, unter Freiheitsbedingungen effizientes Management zu betreiben.
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Wird der Datenschutz über den Gesundheitsschutz gestellt?
Virenschutz müsste klar Vorrang haben. Stattdessen sind alle stolz drauf, dass niemand zugreifen kann auf die Daten in der App. Und die Kanzlerin muss vors Volk treten und sagen, bei 75 Prozent der Fälle haben wir nicht die geringste Ahnung, wo die Infektion stattgefunden hat, also machen wir lieber mal präventiv alles dicht, statt uns auf die Orte zu konzentrieren, wo das Problem sitzt. Das könnten uns unsere Handys in einer Woche sagen. Die wissen, was läuft, nur wir nicht, weil niemand auf die Daten zugreifen kann – das finde ich absurd.
Wie sehen Sie denn die Situation im kommenden Frühjahr?
Da gibt es zwei Phasen: Die erste ist nach dem 10. Januar, da bin ich skeptisch. Die Erfahrung aus Berchtesgaden scheint mir ziemlich deutlich zu zeigen, dass man nach drei Wochen keine Chance hat, auf eine Inzidenz unter 50 zu kommen, wenn man einen so hohen Schnitt hat wie wir gerade in Deutschland, nämlich 170. Das wird nicht reichen – also keine Chance, danach wieder aufzumachen und zu sagen, jetzt richtet es die Kontaktverfolgung. Da wäre jetzt mein großer Wunsch an die Politik, die Zeit bis zum 10. Januar zu nutzen, um die Säule der Kontaktbeschränkungen und -verbote zu ergänzen mit den anderen Säulen Risikogruppenschutz und Kontaktverfolgung. Die zweite Phase ist die, wenn der Impfstoff ausreichend zur Verfügung steht, im Frühling. Da bin ich sehr optimistisch. Ich glaube, dass die Sache im Mai weitgehend durchgestanden ist. Es wird noch weitere Corona-Wellen geben danach, aber eben nicht mehr so gefährliche. Und dann wird die Verantwortung allmählich auf die Zivilbevölkerung übergehen, sich zu schützen – so wie es jetzt auch mit der Grippeimpfung ist.