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Natalia Klitschko im Interview„Man fühlt sich schuldig, weil man in Sicherheit ist“

Lesezeit 11 Minuten
Natalia-Klitschko

Natalia Klitschko spricht am Hamburger Jungfernstieg.

Natalia Klitschko ist in Kiew geboren und mit dem Bürgermeister der Stadt, Ex-Boxweltmeister Vitali Klitschko, seit 26 Jahren verheiratet. Das Paar lebt mit seinen drei gemeinsamen Kindern Max (16), Elizabeth-Victoria (19) und Yegor-Daniel (21) seit vielen Jahren in Hamburg. Seit Kriegsausbruch hilft die Sängerin Geflüchteten bei ihrer Ankunft in Deutschland, tritt bei Demonstrationen auf und spricht öffentlich über das Leid in ihrem Land. Ein Gespräch über den Krieg, Ängste, Hilfsbereitschaft und Nationalstolz

Frau Klitschko, am 24. Februar hat Russland die Ukraine angegriffen. Viele Menschen haben nicht geglaubt, dass dieser Fall wirklich eintritt. Wie überraschend war es für Sie?

Klitschko: Einige Tage zuvor lag der Krieg schon in der Luft. Aber wir alle haben die Hoffnung gehabt, dass es doch nicht so kommt. Einen Tag vorher, also am 23. Februar, habe ich mit meiner Schwester und meiner Mutter in der Ukraine telefoniert. Wir haben da noch Witze gemacht und waren uns ganz sicher: Die ganze Welt schaut gerade auf die Ukraine, das wird nie im Leben passieren.

Und dann ist es doch passiert. Wie haben Sie von dem Angriff der Russen erfahren?

Ich bin am Donnerstagmorgen zum Flughafen gefahren, weil ich dort jemanden abholen wollte. Als ich dort noch Brötchen gekauft habe, habe ich auf einem Bildschirm die Nachricht gelesen „Russland greift die Ukraine an“ und konnte es gar nicht glauben. Ich stand dort mit diesen Brötchen in der Hand und habe erst mal angefangen zu weinen.

Sie haben dann wahrscheinlich sofort Ihre Familie angerufen.

Ich habe als Erstes meine Mutter angerufen. Sie hat mir erzählt, dass sie morgens um 5.30 Uhr von dem Geräusch von Bomben geweckt wurde. Wir standen alle unter Schock. Trotzdem haben wir immer noch gehofft, dass Russland nur provoziert, dass das aber nicht weiter eskaliert. Nach drei, vier Tagen wurde uns klar: Das ist wirklich Krieg. Und dann kamen die Sorgen und vor allem die Angst. Ich konnte erst mal nichts machen außer weinen, telefonieren und wieder weinen. Zum Glück habe ich gute Freunde, die mir dann gesagt haben: „Natalia, du kannst jetzt weinen – aber das hilft niemandem. Du kannst den Ukrainern viel besser deine Stimme geben.” Dann habe ich angefangen, mich zu engagieren: Ich habe über das Leid gesprochen, Familien ein Zuhause vermittelt und Hilfe organisiert.

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Normalerweise ist der erste Reflex bei vielen Menschen wohl: Ich muss meinen Mann und meine Mutter nach Deutschland holen. Aber für Sie war klar, dass das nicht geht. Warum?

Es war klar, dass Vitali Kiew niemals verlassen kann. Er regiert die Stadt, die Menschen brauchen ihn. Er ist ein Kämpfer, er ist ein Krieger, er gibt niemals auf – das war schon immer so, das bleibt auch so. Bei meiner Mutter war das zunächst ähnlich. Sie ist 72 Jahre alt und hat gesagt: „Ich würde niemals mein Haus und mein Land verlassen.“ Sie hat sich die ersten Tage dort sehr engagiert, Essen gekocht und war immer wieder zwischendurch im Bunker. In der zweiten Woche hat sie aber realisiert, dass es für sie nicht mehr sicher ist – und ist geflüchtet.

Wie ist sie nach Deutschland gekommen?

Sie ist mit meiner Schwester und meinem Neffen, nur mit einer Handtasche als Gepäck, losgezogen. An den Bahnhöfen herrschte totales Chaos. Sie haben sich dann erst mal in einen Zug gequetscht, der gar nicht Richtung Grenze fuhr, sondern Richtung Kamenez-Podolski. Dort haben sie jemanden gefunden, der sie im Auto Richtung ungarische Grenze gefahren hat. Dort mussten sie erst mal ein paar Tage bleiben und netterweise hat ihnen der Pastor eines Klosters eine Unterkunft angeboten. Sie sind dann zu Fuß über die Grenze nach Ungarn, wo ein Freund sie abgeholt und nach Budapest gefahren hat. Von dort sind sie dann nach Hamburg geflogen. Vier Tage hat das gedauert, sie waren fix und fertig.

Ihre Mutter und ihre Schwester sind nicht die ersten Ukrainerinnen, die bei Ihnen untergekommen sind.

Ich habe vor anderthalb Jahren eine Ukrainerin bei einem Online-Workshop kennengelernt und mich mit ihr angefreundet. Als der Krieg ausgebrochen ist, hat sie mir geschrieben, dass sie nicht weiß, wo sie hin soll. Da war total klar, dass sie in meinem Haus unterkommt. Nun lebt sie bei mir mit ihren zwei Töchtern. Auch eine Freundin ist aus Kiew nun zu mir gekommen. Gestern kam noch ein 15-jähriger Junge bei uns an, um den ich mich jetzt kümmere. Seine Eltern müssen in der Ukraine bleiben und kämpfen. Er braucht wie viele andere dringend psychologische Hilfe. Wir haben nach seiner Ankunft erst mal sehr lange geredet – es ist schrecklich, was Krieg und Flucht mit Kindern macht.

Mit der Unterkunft alleine ist es aber nicht getan. Welche Hilfe brauchen Geflüchtete denn nach der Ankunft in Deutschland?

Erst mal müssen sie sich bei der Ausländerbehörde anmelden, damit sie überhaupt eine Bescheinigung über ihren Status erhalten und versichert sind. Dort sind im Moment unglaublich lange Warteschlangen, manche stellen sich morgens um 5 Uhr an und sind bis abends noch nicht drangekommen. Dann müssen sie ja auch noch Geld beantragen. Meine Freundin aus Kiew bekommt zum Beispiel 350 Euro pro Monat. Das ist schon mal super und hilft bei dem Besorgen der ersten wichtigen Sachen. Aber solange sie nicht hier arbeiten kann, kann sie von 350 Euro auch keine Miete zahlen. Es ist toll, dass viele Familie gerade Menschen aufnehmen und ihnen ihre vollen Kühlschränke zur Verfügung stellen, aber das kann keine Dauerlösung sein.

Wie gut kommen die Ukrainer überhaupt in Deutschland zurecht? Gibt es sprachliche Barrieren?

Viele von ihnen kommen erst mal nicht mit der Situation zurecht. Gerade hatten sie noch alles: einen Job, ein Haus, Familie – und plötzlich ist alles weg. Sie fühlen sich in Deutschland einsam, auch wenn sie unglaublich herzlich empfangen werden. Es gibt oft sprachliche Barrieren: Viele von ihnen können kein Deutsch, die meisten auch nicht so gutes Englisch. Die Ukrainer wollen meist gar nicht dauerhaft bleiben. Sie schauen die Nachrichten und hoffen, dass sie bald erfahren, dass sie zurück in ihre Heimat können. Sie lieben ihr Land, ihre Heimat.

Sie haben wenige Tage nach Kriegsbeginn gesagt, dass Ihr Mann, Vitali Klitschko, sich jeden Morgen bei Ihnen mit der Nachricht „Ich lebe noch“ aus Kiew meldet. Halten Sie an diesem „Ritual“ weiter fest?

Wir haben natürlich jeden Tag Kontakt. Meist schreibe ich morgens und frage, wie es ihm geht – und er meldet sich dann. Ich schaue aber natürlich auch auf seinen Social-Media-Kanälen, wo er sehr aktiv ist, was er gerade macht.

Die Situation ist vermutlich für Ihre Familie gerade nicht einfach. Wie gehen Ihre drei gemeinsamen Kinder damit um?

Der Mensch ist ein Wesen, das sich anpassen kann. Die erste Woche war für uns alle sehr schlimm. Unsere Kinder hatten sehr viel Angst um ihren Papa. Sie haben wie wir alle nur Nachrichten geschaut und wollten immer wissen, wie es ihm geht. Sie sind, obwohl sie nicht mehr bei mir zu Hause wohnen, zu mir gekommen, damit wir beisammen sind. Aber wir haben dann irgendwann gesagt: So schlimm es ist – das Leben muss auch weitergehen. Sie versuchen, nun wieder in ein normales Leben zu finden, an der Uni und in der Schule. Aber das Schuldgefühl bleibt. Man fühlt sich schuldig, weil man hier in Sicherheit ist und die Menschen, die wir lieben, in der Ukraine sind und für uns kämpfen.

Sie sind in der Nähe von Kiew geboren und aufgewachsen. Wenn dieser Krieg irgendwann vorbei ist, ist wahrscheinlich klar, dass die Stadt nie wieder so sein wird, wie Sie sie in Erinnerung haben. Welches Gefühl löst das in Ihnen aus?

Ich empfinde ganz tiefe Trauer. Und Enttäuschung darüber, dass wir Menschen überhaupt noch Kriege führen müssen. Dass ein Land wie die Ukraine sich gegen einen grundlosen Angriff wehren muss. Wenn ich Bilder sehe, wie Zivilisten erschossen werden, Mütter und Kinder sterben, dann spüre ich einen unglaublichen Schmerz. Ich empfinde manchmal auch Wut, aber keinen Hass. Krieg ist immer ungerecht. Auf beiden Seiten gibt es sehr viel Leid, weil Menschen sterben.

Wie war denn das Verhältnis der Ukrainer und Russen früher – also auch noch vor der Annexion der Krim?

Seit der Annexion gab es natürlich eine Spannung, aber es gab keinen Hass. Früher waren wir alle Kinder der Sowjetunion, viele Familien sind gemischt. Kinder haben russische Väter und ukrainische Mütter. Auch durch meinen Körper fließt ein bisschen russisches Blut. In vielen Familien werden beide Sprachen gesprochen, ich war zum Beispiel auch auf einer russischen Schule. Mit der Krim hat sich das geändert, ich habe das vor allem im russischen Fernsehen gemerkt, das ich manchmal schaue. Da wurde über Jahre eine Propaganda mit Unwahrheiten über die Ukraine betrieben. Ich hoffe, dass die Russen langsam aufwachen und merken, was dort passiert. Dort sind doch eigentlich genauso viele intelligente Menschen wie in jedem anderen Land. Der Blick auf das russische Volk wird sich sicher aber durch den Krieg wahrscheinlich für immer verändert haben.

Sie haben in einem Interview gesagt, dass der Krieg sich auch nicht hierher nach Deutschland verlagern darf. Wie haben Sie das gemeint?

Wir bekommen ja jetzt schon mit, dass auch russische Kinder in Schulen beschimpft und beleidigt werden. Viele der Russen hier stehen nicht hinter dem, was Putin gerade macht und tut. Hass darf darauf nie eine Antwort sein. Ich predige immer, dass wir dem Hass mit Liebe begegnen sollen. Aber ich merke nun auch in der dritten Woche des Krieges, dass das nicht immer einfach ist. Wenn ich die Bilder im Fernsehen sehe, wie unschuldige Kinder und Frauen brutal getötet werden, dann fällt es sehr schwer, nicht zu hassen.

Hat Sie die große Hilfsbereitschaft in Deutschland überrascht?

Die Hilfsbereitschaft ist wirklich enorm. Ich kann ihnen sagen, warum die Deutschen – und viele andere Europäer auch – so mit den Ukrainern fühlen. Mittlerweile ist vielen Europäern klar: Wenn das in der Ukraine nicht aufhört, kann jedes Land das nächste sein. Jeder, der dort Ukraine kämpft und stirbt, stirbt nicht nur für sein Land, sondern für Europa. Die Sorge vor einem dritten Weltkrieg trägt sicherlich dazu bei, uns zu unterstützen.

Die Männer, die für die Ukraine kämpfen, sind nicht nur professionelle Soldaten – sondern teilweise extrem junge Männer, die ihr ganzes Leben noch vor sich haben und ohne jede Erfahrung zur Waffe greifen. Wie erklären Sie sich diese Kampfbereitschaft für das eigene Land?

Mein Volk wird als ein starkes Volk in die Geschichte eingehen. Kürzlich sagte mir jemand: „Die Ukrainer müssten doch nur ihre Waffen abgeben und aufgeben, dann wäre der Krieg beendet.“ Das würden wir Ukrainer nie tun. Wir haben schon immer für unsere Freiheit und Unabhängigkeit gekämpft, das werden wir auch diesmal tun. Aber es ist schrecklich, zu sehen, wie selbst Kinder zu Waffen greifen müssen. Nicht nur auf der ukrainischen Seite, auch auf der russischen. Ich glaube, die russischen Mütter werden das ihrer Regierung nie verzeihen. Ich bin selbst Mutter und habe auch zwei Söhne, einer davon ist 21. Wenn er in der Ukraine wäre, müsste er auch an die Front gehen. Ich bin froh, dass ich diese Entscheidung nicht treffen muss – aber wenn mein Sohn in der Ukraine an der Front wäre, ich würde mit ihm gehen. Mütter kämpfen für ihre Kinder.

Wie können wir Deutschen die Ukrainer noch weiter unterstützen?

Die Bevölkerung tut schon sehr viel. Aber ich würde mir wünschen, dass auch große Firmen die Flüchtenden unterstützen. Bekleidungshersteller wie H&M und New Yorker zum Beispiel haben immer wieder Klamotten, die sie wegwerfen. Warum wird so was nicht an die vielen Ukrainer gespendet, die hier gerade nur mit Handtaschen oder kleinen Koffern ins Land kommen? Oder auch große Supermarktketten, die noch gute Lebensmittel wegwerfen – auch die könnten gespendet werden.

Sie waren zuletzt mehrfach auf Demos zu sehen, was planen Sie als Nächstes?

Ich bin gerade dabei, einen Verein zu gründen. So viele Menschen und Firmen kommen auf mich zu und wollen Geld spenden. Ich privat kann damit aber nicht viel machen, deswegen gründen wir nun einen Verein, der Ukrainer in Deutschland und vor Ort in der Krisenregion unterstützt.