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Nawalny-Vertrauter im Interview„Putins Entmachtung wird kommen“

Lesezeit 7 Minuten
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Der Nawalny-Vertraute Leonid Wolkow im Oktober 2021 in Potsdam

Der russische Oppositionelle Leonid Wolkow (41) betreibt derzeit von Litauen aus die digitale Vernetzung von Regimegegnerinnen und -gegnern in Russland. Wolkow ist Spezialist für Informationstechnologie und politische Kampagnen, er war Stabschef des inhaftierten Putin-Gegenspielers Alexej Nawalny. Im Interview mit dem RND beschreibt Wolkow die Krise, in die Putins Krieg geführt hat, als eine Chance für Russland.

Herr Wolkow, Ihr Freund Alexej Nawalny wurde vergiftet und ist fast gestorben. Haben Sie Angst, dass Ihnen auch so etwas passieren könnte, wenn Sie in diesen Tagen in Vilnius irgendwo einen Kaffee trinken gehen?

Leonid Wolkow: Ich versuche ehrlich gesagt, an dieses Risiko gar nicht erst zu denken.

Kann man so etwas einfach verdrängen? Sie wären nicht der erste Feind von Wladimir Putin, der im Ausland vergiftet wird.

Eine gewisse Vorsicht walten zu lassen ist sicher gut, das mache ich auch. Aber erstens gibt es gegen ein Kontaktgift wie Nowitschok keinen absoluten Schutz. Zweitens wäre es nicht gut, wenn ich mir tagein, tagaus ständig diese Bedrohung vor Augen hielte. Da wird man ja seines Lebens nicht mehr froh und kann nicht mehr effizient arbeiten. Ich versuche, hier im Ausland ganz normal zu leben. Und das gelingt mir eigentlich ganz gut.

Mit welchen Gefühlen blicken Sie in diesen Tagen nach Russland? Sehen Sie für Ihr Land so etwas wie Licht am Ende des Tunnels?

Optimistisch zu sein gehört bei dem, was ich mache, zu den Jobanforderungen. Ohne eine gewisse Zuversicht hat es gar keinen Sinn, da ans Werk zu gehen. Es gibt ja ein paar positive Punkte. Immer mehr Russen denken, wenn auch langsam, um. Und auch im Westen wird der verbrecherische Charakter von Putin und seinem Regime inzwischen klar erkannt. Bitter ist aber, dass es dazu in beiden Fällen eines Kriegs bedurfte.

Auf welche Veränderungen in Russland setzen Sie jetzt konkret? Sehen wir bald Massendemonstrationen?

Das halte ich für westliches Wunschdenken. Es gibt zwar immer wieder Demonstrationen in Russland, und die sind auch wichtig. Wir unterstützen sie und wissen auch vorher, wo sie stattfinden. Aber sie sind klein und übers ganze Land verteilt. Ihre Bedeutung liegt vor allem in der Vielzahl der betroffenen Regionen. In Moskau schlagen die Sonderpolizeieinheiten des Innenministeriums derzeit mit enormer Brutalität zu, schon bei kleinsten Aktivitäten. Die nehmen junge Leute fest, und dann foltern und bedrohen sie sie auf der Polizeistation, das kann sich im Westen niemand vorstellen.

Woher kommt dann Ihr Optimismus?

Wir registrieren eine sich verändernde russische Wirklichkeit hinter den Fassaden – trotz der von Putin erzwungenen Ruhe auf den Straßen. In diesen Tagen entstehen politisch bedeutsame neue Verbindungen quer durchs Land, es laufen Aktivitäten, von denen die Behörden gar nichts mitbekommen. Die Leute gucken sich, notfalls über VPN-Tunnel, unsere Beiträge an, auch Talkshows und Expertengespräche, sie beteiligen sich an Chats. Manche Landsleute sagen uns: Versteht mich bitte nicht falsch, ich gehe jetzt nicht auf die Straße, mir ist einfach das Risiko zu groß angesichts der Strafverschärfungen. Ich lasse mich jetzt nicht von denen zusammenschlagen, ich will auch nicht meinen Job verlieren, aber ich unterstütze euch und eure Bewegung.

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Vladimir Putin zeigt sich weiterhin unbeeindruckt von den Sanktionen.

Nach einer Erhebung der Massen hört sich das aber nicht an.

Nein, aber so verschieben sich schon mal allmählich die Gewichte. Die Vorstellung, man könne Putin mal eben durch ein paar große Protestmärsche hinwegfegen, ist naiv. Putins Entmachtung wird kommen, aber auf andere Weise.

Nämlich wie?

Durch eine Eskalation interner Konflikte in seinem inneren Zirkel. Das ist aus meiner Sicht inzwischen das wahrscheinlichste Szenario. Die politische und ökonomische Elite in Moskau ist alles andere als homogen. Eine Mehrheit dieser Leute war, wie wir verlässlich wissen, gegen den Krieg. Viele waren sogar regelrecht geschockt, als Putin den Einmarsch tatsächlich angeordnete. Anfangs haben sie stillgehalten, inzwischen aber wächst in diesen Kreisen eine Unruhe, die größer ist als bei der breiten Masse. Die Eliten haben zweierlei erkannt: Putin kommt militärisch in der Ukraine nicht voran wie geplant, seine Pläne erweisen sich als irreal. Zugleich aber gibt es ein sehr reales Geschehen auf dem ökonomischen Feld: Die westlichen Sanktionen ziehen ganz Russland ökonomisch runter. Diese beiden Faktoren addieren sich zu einem Druck auf Putin, der ihn früher oder später das Amt kosten wird, da bin ich tatsächlich sehr zuversichtlich.

Welche Rolle spielt das Massaker in Butscha? War das ein Wendepunkt, auch in der Arbeit der Oppositionsbewegung?

Der zentrale historische Wendepunkt ist und bleibt der 24. Februar, der Kriegsbeginn. Ich verstehe sehr gut das weltweite Entsetzen über die Bilder von Butscha. Aber jeder sollte im Auge behalten: Die Entscheidung Putins zum Einmarsch war der Ausgangspunkt für alles, ein zentraler Völkerrechtsverstoß, dem dann unzählige weitere folgten. Wir haben kein Recht, in ein souveränes Land Panzer rollen zu lassen und dort Machtansprüche zu erheben. Dies alles ist illegal, von vorn bis hinten. Schon das Abriegeln ganzer Städte war ein Kriegsverbrechen, schon der Beschuss von Wohnungen war ein Kriegsverbrechen.

Was kann der Westen tun, um die von Ihnen skizzierte Eskalation interner Konflikte in Moskau zu fördern?

Der Westen darf ruhig etwas mutiger sein beim Ausstrecken der Fühler in Richtung russischer Führungspersönlichkeiten. Nichts spricht doch dagegen, den kleinen Kreis rund um Putin mal etwas durcheinanderzubringen und direkt anzusprechen: Warum geht beispielsweise nicht Antony Blinken auf seinen Außenministerkollegen Sergej Lawrow zu und sagt ihm: „Hey, wenn du dich jetzt lossagst von Putin und seine Verbrechen öffentlich verurteilst, dann verschaffen wir dir Straffreiheit und Sicherheit“? Schritte dieser Art können helfen, in Moskau den Bruch in Gang zu bringen, auf den alle warten.

Und was dann? Läuft sich aus Ihrer Sicht irgendwo schon ein Putin-Nachfolger warm?

Nein, und das kann ja auch gar nicht sein. Wenn Putin weg ist, wird dieses über 22 Jahre aufgebaute System nicht an irgendjemanden vererbt. Es wird zusammenbrechen. Ein Nachfolger steht logischerweise weit und breit nicht bereit.

Warum logischerweise?

Weil Putin jeden, der in den letzten Jahren den Kopf erhoben und eine Nachfolgeabsicht hätte erkennen lassen, sofort beseitigt hätte. Man darf nicht vergessen: Der Mann ist ein Diktator, er wollte die totale Macht. Dazu hätte es nicht gepasst, wenn sich im Kreml irgendjemand schon mal für jedermann sichtbar eingearbeitet hätte in die Nachfolge.

Ihre Analyse lässt ja größere Vibrationen in Russland ahnen für den Fall von Putins Entmachtung, vielleicht sogar eine Staatskrise.

Die zu erwartenden Turbulenzen könnten tatsächlich ziemlich weit gehen, das ist wahr. Insofern ist jetzt die Lage auch etwas anders als vor dem Krieg. Aber darin liegen aus meiner Sicht nicht nur Risiken, sondern auch Chancen. Putins Krieg hat Russland enorm geschadet. Denken Sie an das völlig ruinierte internationale Ansehen des Landes, denken Sie auch an den bedrückenden Brain Drain; Zehntausende der besten jungen Köpfe, vor allem im IT-Bereich, sind binnen weniger Wochen ins Ausland verschwunden. Eine Entmachtung Putins als Folge dieses verbrecherischen Krieges böte nun die Möglichkeit, zu all dem einen klaren Trennstrich zu ziehen. Russland könnte im Idealfall so etwas wie einen kompletten Neustart hinbekommen. Stellen Sie sich das mal vor: Russland als ganz normales europäisches Land. Das wäre doch ein gigantischer historischer Dreh.

Müsste in dem ganz normalen europäischen Land, das Ihnen da vorschwebt, Ihr alter Freund Alexej eigentlich weiter im Gefängnis sitzen? Ende März wurde er zu weiteren neun Jahren Lagerhaft verurteilt.

Nein, auf keinen Fall. Ich bin sicher, seine Freilassung würde nicht lange dauern. Wir reden ja hier über einen klaren Fall von Willkürjustiz. Die Strafurteile gegen Alexej hätten nach einer Entmachtung Putins keinen Bestand.

Würde ein freigelassener Nawalny zur nächsten russischen Präsidentschaftswahl antreten?

Natürlich. Ich glaube, er hätte auch sehr gute Chancen. Alexej bringt viele Qualifikationen mit. Er kämpft seit Langem gegen die Korruption, er kämpft seit Langem gegen die obszönen Unterschiede zwischen Arm und Reich in Russland. Und sogar als Gefangener Putins hat er den Menschen jahrelang immer wieder seinen Mut, seine Beharrlichkeit und sein Engagement für ein anderes, besseres Russland bewiesen. Deshalb ist Alexej jetzt vor allem in einem Punkt unschlagbar: Glaubwürdigkeit.