Pressefreiheit„'Systemjournalist' ist keine Beschimpfung, die uns treffen sollte“
Am 28. März begann auch die Nowaja Gaseta zu schweigen. Die renommierte Zeitung gehörte zu den letzten freien Stimmen in der weitgehend gleichgeschalteten russischen Medienlandschaft. Mit der Entscheidung, die Publikation zumindest vorübergehend einzustellen, kam die Zeitung einem drohenden Verbot zuvor. Zweimal war die Zeitung zuvor seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs von der russischen Medienaufsicht Roskomnadsor verwarnt worden.
Nur einmal brach die Nowaja Gaseta seitdem auf ihrer Website ihr Schweigen: Um Recherchen über die beiden mutmaßlichen Angreifer ihres Chefredakteurs Dimitri Muratow zu veröffentlichen. Erst im vergangenen Jahr war Muratow gemeinsam mit der philippinischen Journalistin Maria Ressa mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden. Am 7. April übergoss ihn ein Mann in einem Zug in Moskau mit roter Farbe und dem Lösungsmittel Aceton. In ihrem Artikel vom 12. April benennt die Nowaja Gaseta zwei mutmaßliche Täter und ruft die russischen Sicherheitsbehörden dazu auf, endlich tätig zu werden.
Doch im Gegensatz zu kritischen Journalisten werden ihre Angreifer in Russland regelmäßig nicht zur Rechenschaft gezogen. Die „Washington Post“ berichtete in der vergangenen Woche sogar, die US-Regierung sei mittlerweile sicher, bei der Attacke auf den Nobelpreisträger Muratow habe es sich um eine russische Geheimdienstoperation gehandelt.
Lage der Pressefreiheit in Russland ist dramatisch
Die Situation kritischer Journalisten und die Lage der Pressefreiheit in Russland waren schon vor Beginn des Krieges am 24. Februar dramatisch. Seitdem haben sie sich rasant weiter verschlechtert. Auf der diesjährigen Pressefreiheits-Rangliste, die die Organisation Reporter ohne Grenzen (ROG) an diesem Dienstag veröffentlicht hat, steht das Land auf Platz 155 von 180 – im Vergleich zum Vorjahr ist Russland damit um weitere fünf Plätze abgerutscht. Reporter ohne Grenzen stuft die Lage der Pressefreiheit dort als „sehr ernst“ ein, oder in Farben: Tiefrot.
Für Wladimir Putin und sein Regime dürfte diese Einstufung eine Auszeichnung sein. Je autoritärer er regiert, desto weniger kann die Presse frei über die Geschehnisse im Land – und in der Ukraine – berichten. Und je weniger kritische Berichterstattung es gibt, desto größer ist der Rückhalt für Putins verbrecherischen Kurs in der russischen Bevölkerung. Es ist ein Teufelskreis.Noch gravierender als die russischen sind ukrainische Journalisten und internationale Kriegsberichterstatter vom Vorgehen der russischen Regierung und ihres Militärs betroffen.
Jagd auf Journalisten
Berichte der Nachrichtenagentur AP aus dem belagerten und weitgehend zerstörten Mariupol zeigen, wie die russische Armee gezielt auf die Jagd nach Journalisten ging, um zu verhindern, dass Bilder und Videos ihrer grausamen Verbrechen um die Welt gehen.
Die oppositionelle russische Journalistin Oxana Baulina verließ Moskau im vergangenen Jahr, nachdem ihr Arbeitgeber, Alexei Nawalnys Stitung für Korruptionsbekämpfung, für illegal erklärt wurde. Aus ihrem polnischen Exil fuhr sie nach dem russischen Überfall auf die Ukraine nach Kiew, berichtete über den Angriff auf die ukrainische Hauptstadt. Am 23. März drehte sie in einem Einkaufszentrum, das von den Russen bombardiert worden war. Bei einem erneuten Angriff aufs selbe Ziel kam sie ums Leben: ein Opfer der zynischen russischen „double-tap“-Strategie, die Rettungskräfte und Journalisten treffen soll.
Am Tag der Pressefreiheit ruft die Journalistengewerkschaft DJV zu Demonstrationen vor der russischen Botschaft in Berlin und den Generalkonsulaten in Hamburg, München, Leipzig, Bonn und Frankfurt am Main auf. „Mindestens sieben Kolleginnen und Kollegen sind bereits während Russlands völkerrechtswidrigem Krieg gegen die Ukraine getötet worden. Wir wollen an sie erinnern und auf die Lage der Pressefreiheit weltweit aufmerksam machen: Die Ausübung unseres Berufs kann tödlich sein“, sagt der DJV-Vorsitzende Frank Überall.
Auch Deutschland rutscht im Ranking ab
Doch die Lage der Pressefreiheit ist nicht nur in Russland und der Ukraine dramatisch: Insgesamt bewertet ROG die Lage in 28 Ländern als „sehr ernst“, in 42 Ländern als „schwierig“ und in 62 Ländern als „problematisch“. „Zufriedenstellend“ ist sie demnach in nur 40 Ländern und wirklich „gut“ bloß in acht. Für ihr Ranking bewertet die Organisation verschiedene Dimensionen der Pressefreiheit: Das politische Klima, die Gesetzgebung, das wirtschaftliche Umfeld für Medien, aber auch soziokulturelle Fragen und nicht zuletzt das Risiko, durch die journalistische Arbeit körperlich oder psychisch verletzt zu werden.
Deutschland ist in der aktuellen Rangliste auf Platz 16 abgerutscht. Als „dramatisch“ bezeichnet Lotte Laloire von ROG besonders die weiter steigende Zahl körperlicher Angriffe auf Journalistinnen und Journalisten, die Demonstrationen begleiten. „2021 haben wir allein 80 gewaltsame Überfälle auf Journalistinnen und Journalisten bei der Arbeit dokumentiert. Das ist ein neuer Höchststand und eine wirklich dramatische Situation“, sagt sie dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Journalistinnen und Journalisten wurden insbesondere auf Querdenken-Demonstrationen geschlagen, getreten, zu Boden geworfen. Ihre Redaktionen und Wohngebäude werden angegriffen.“
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In zwölf Fällen seien die Angriffe sogar von der Polizei ausgegangen. Bei Angriffen auf Pressevertreterinnen und -vertreter hätten Beamte teils nicht eingegriffen, obwohl sie direkt danebenstanden, kritisiert Laloire. Auf einer pro-palästinensischen Demonstration in Berlin vor einigen Tagen wurde ein Journalist als „Drecksjude“ beschimpft und vom Veranstalter ausgeschlossen – die Polizei führte ihn weg, anstatt seine Arbeit zu sichern.
Welche Auswirkungen Angriffe auf Journalisten bei Demonstrationen haben können, beschreibt Monique Hofmann, Bundesgeschäftsführerin der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union in der Gewerkschaft Verdi: Journalisten brächen ihre Berichterstattung ab, erklärt sie, oder recherchierten aus Sicherheitsgründen erst gar nicht mehr zu bestimmten Themen. „Das ist eine dramatische Entwicklung, weil wir darauf angewiesen sind, dass gerade solche demokratiefeindlichen Bestrebungen und Tendenzen für die Öffentlichkeit sichtbar gemacht werden“, sagt Hofmann.
Agriffe auf Erdogan-Kritiker in Deutschland
Auch Journalisten, die in ihren Heimatländern verfolgt werden, können sich in Deutschland nicht immer in Sicherheit fühlen. Diese Erfahrung musste der Erdogan-Kritiker Erk Acarer in Berlin im vergangenen Jahr gleich zwei Mal machen: Mehrere Unbekannte griffen ihn im Hinterhof seines Wohnhauses an, traten und schlugen ihn. Etwas später flog ein Ei in seinen Garten, eingewickelt in einen Zettel: „Du wirst schon sehen“, stand auf Türkisch darauf.
Bisher müssen auch Journalistinnen und Journalisten eine konkrete Bedrohung nachweisen, wenn sie beantragen, dass Meldebehörden ihre Privatadresse nicht weitergeben dürfen. ROG fordert eine pauschale Regelung: „Zum Schutz von Journalistinnen und Journalisten fordern wir unter anderem, dass sie als gefährdete Berufsgruppe pauschal das Recht haben sollen, eine Auskunftssperre zu beantragen“, sagt Laloire.
Journalistische Arbeit wird in den kommenden Jahren noch wichtiger werden, meint DJV-Chef Überall. „Die Gesellschaft wird nicht zur Ruhe kommen“, sagt er. „Neben Corona und Krieg leben wir auch noch in der Zeit der Klimakrise, die einschneidende Antworten und Maßnahmen hervorbringen wird. Die soziale Frage wird zurzeit noch zu wenig thematisiert. Journalismus hat einiges zu leisten in den kommenden Jahren - nicht belehrend, sondern die unterschiedlichen Sichtweisen widerspiegelnd.“
„Wer ein grundsätzlich anderes System will, hat in uns Journalisten die richtigen Gegner“
Gewisse Angriffe sollten Pressevertreter mit breiter Brust kontern: „Für mich ist „Systemjournalist“ keine Beschimpfung, die uns treffen sollte“, sagt Überall. „Wir stehen auf dem Boden dieses demokratischen Systems und verteidigen es. Wer ein grundsätzlich anderes System will, hat in uns Journalisten die richtigen Gegner.“
Dieses demokratische System mit seiner funktionierenden Pressefreiheit soll nun auch dazu beitragen, dass die Nowaja Gaseta trotz der Repression in Russland eine Zukunft hat. Mehrere Journalisten der Zeitung bauen gerade einen europäischen Ableger auf. Aus dem Exil wollen sie weiter berichten und auch Informationen über den Krieg in der Ukraine an den Zensoren vorbei an das russische Volk bringen. Zumindest an jene, die noch für etwas anderes als die staatliche Propaganda empfänglich sind.