Psychologin über Impfskepsis„Drei Prozent der Deutschen haben Angst vor Spritzen“
Eva-Lotta Brakemeier leitet das Zentrum für Psychologische Psychotherapie an der Universität Greifswald. Im zweiten Pandemiewinter registriert sie eine Zunahme von Depressionen und Angststörungen - und auch jede Menge Ängste, die die Impfung betreffen. Am Montagabend sprach sie auf einer Kundgebung des Bündnisses „Greifswald für alle“, das für Demokratie und Solidarität und gegen die so genannten „Montagsdemonstrationen“ einstehen will. Im Interview spricht sie über ihr Engagement und warum nicht alle Impfgegner hoffnungslos verloren sind.
Frau Brakemeier, bundesweit gehen Corona-Maßnahmen-Gegner auf die Straße. Nun sprechen auch Sie auf einer Kundgebung in Greifswald, die sich gegen diese Demonstrationen richtet und für das Impfen werben soll. Wie kam es dazu?Eine Kollegin aus der Universitätsmedizin und ich wurden angefragt, als Wissenschaftlerinnen Faktenwissen zur Impfung zusammenzufassen. Wir wollen aufklären – und wir wollen zugleich zeigen, dass die sogenannten Montagsdemonstrierenden gegen die Corona-Maßnahmen nicht die Mehrheit sind. Wir wollen ein Zeichen für Demokratie und Solidarität setzen.
Sie sind Psychologin und Psychotherapeutin, was können Sie fachlich zur Debatte ums Impfen beitragen?Es gibt ja nicht nur die Impfgegner, die aus ideologischen oder politischen Gründen die Impfung ablehnen. Bei sehr vielen hat die Entscheidung gegen eine Impfung auch mit Unsicherheiten und Ängsten zu tun – Ängsten vor Nebenwirkungen, aber auch ganz konkret Ängsten vor Spritzen. Letzteres betrifft allein 3 Prozent der Bevölkerung. Diese Menschen können lernen, ihre Ängste zu überwinden. Manche brauchen dabei auch Hilfe. Dazu haben wir vor Weihnachten begonnen, eine telefonische Beratung zur individuellen Impfentscheidung und dem Umgang mit damit verbundenen Ängsten anzubieten.
Wer meldet sich da?Tatsächlich Menschen mit ausgeprägter Spritzenphobie, aber auch solche mit einer komplizierten Krankheitsgeschichte. Sie hatten sich bisher aufgrund von Vorerkrankungen gegen eine Impfung entschieden, wollen aber nicht aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden und kommen nun mit ihrer Krankheitsgeschichte und sehr vielen Fragen zu uns. Wir hatten auch eine junge Mutter, die Angst vor Nebenwirkungen während des Stillens hatte.
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Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Carsten Schneider, sagte gerade in einem Interview: „Offenbar symbolisiert die Impfung den Staat, auch weil die Regierung dazu aufruft.“ Sich nicht impfen zu lassen wird dadurch zum Akt des „Widerstands“, wie die Demonstranten sagen. Wie kommt man aus dieser Falle heraus?Auch die Cosmo-Studie zu Risikowahrnehmung, Schutzverhalten und Vertrauen in der Pandemie hat ergeben, dass Impfverweigerer ein deutlich geringeres Vertrauen in Politik und Institutionen haben. Wir reden hier von Gruppen, die oft nur Informationen zulassen, die sie in ihrer Meinung bestätigen. Aus dieser Verweigerungshaltung kommen sie schwer oder nicht mehr gesichtswahrend heraus. Hier könnte eine Impfpflicht möglicherweise wirklich helfen, weil sie ihnen die Entscheidung abnimmt. Dennoch sehe ich sie skeptisch.
Warum?Weil sie zu Reaktanz führt also als Freiheitseinschränkung aufgefasst wird. Vielen Demonstranten und Demonstrantinnen geht es anscheinend auch gar nicht primär um Corona, sondern sie sind schlicht wütend auf Staat und Politik. Dann ist es wichtig, dass Politikerinnen und Politiker zuhören, Gesprächsbereitschaft signalisieren und im Gespräch die Anlässe der Wut voneinander trennen. Das wäre aus meiner Sicht, eine Möglichkeit, die pauschale Ablehnung der Politik abzubauen und in eine produktivere Diskussion über das Thema Corona und Impfung einzutreten.
Stichwort Belastung: Wie zeigen sich die seelischen Folgen im zweiten Pandemiewinter?Es herrscht ein großes Gefühl der Unsicherheit. Das Ende der Pandemie ist nicht abzusehen, das führt bei einigen Menschen zu einem Gefühl des Kontrollverlustes und zu großer Hilflosigkeit. Bis zum Sommer haben unsere Studien in Deutschland keine Zunahme von Störungen ergeben, das ändert sich jetzt im zweiten Pandemiewinter. Wir stellen mehr Depressionen und Angststörungen fest. In unserer Hochschulambulanz in Greifswald warten zehnmal mehr Menschen auf einen Therapieplatz als vor der Pandemie.
Wen trifft es besonders?Unsere Risikogruppen sind Kinder und Jugendliche, Studierende, Eltern mit kleinen Kindern, Alleinerziehende, Ältere in Pflegeheimen und Vorerkrankte. Aus vielen dieser Gruppen sind Menschen in dem Gesprächskreis. Es muss einfach mehr niedrigschwellige Angebote geben. Die Leute müssen jemanden zum Reden haben. Austausch mit anderen Menschen hilft gerade ungemein.