Die westlichen Gesellschaften haben sich zum Jahreswechsel eine große Portion Selbstzufriedenheit gegönnt – als sei Putin schon geschlagen. Doch der Kremlchef bleibt unberechenbar, kommentiert unser Autor.
Was plant Putin in der Ukraine? Die Schlacht um die Zukunft der Welt findet nicht in Lützerath statt
Das einzige, worauf man sich bei Wladimir Putin verlassen kann, ist seine Unberechenbarkeit. Auf den ersten Blick wirkt dieses Bonmot aus westlichen Geheimdienstkreisen wie ein flacher Witz. In Wirklichkeit aber ist es eine wertvolle Erkenntnis jener, die sich seit Langem vertieft mit dem Wesen und Wirken des russischen Staatschefs beschäftigen.
„Putin ist wie ein Hai, der in Bewegung bleiben muss, um zu überleben“, lehrt in Washington der Georgetown-Professor Douglas London, der zuvor bei der CIA tätig war. Putin lege größten Wert darauf, sich jederzeit von eigenen Fehlern entfernen zu können – um dann flugs jede bisherige Erzählung zu seinen Gunsten zu verändern. Diese Deutung passt zum russischen Hin und Her in der Ukraine.
Alter Putin-Vertrauter als neuer Generalstabschef Russlands
Erst zog ein großer russischer Konvoi vor Kiew auf - dann aber wurde die Eroberung der Hauptstadt auf einmal abgeblasen und für sekundär erklärt. Wochenlang schien es, als gehe es Putin nur noch um Attacken auf zivile Ziele. Doch dann hob ein verbissener Kampf Truppe gegen Truppe an, zuletzt um Bachmut und Soledar. Im Oktober gefiel es Putin, mal eben einen neuen Oberbefehlshaber aus dem Hut zu zaubern. Diese Woche wurde der Mann schon wieder geschasst.
Neuerdings führt ein alter Putin-Vertrauter, Russlands Generalstabschef Waleri Gerassimow, die Truppen in der Ukraine. Niemand im Westen hat dies vorhergesagt. Sind das alles nur Irrungen und Wirrungen eines unter Druck geratenen Kremlherrn? Oder, im Gegenteil, respektgebietende Vitalitätszeichen? Die Russlandkenner der Nato jedenfalls sind in den vergangenen Wochen vorsichtig geworden. Hat jetzt Gerassimow wirklich an Macht gewonnen? Oder wurde er, wie andere sagen, für den Fall neuer Misslichkeiten nur schon mal näher an die Giftkelche geführt? Man blickt auf die nächste von Putin gewollte Uneindeutigkeit. Fest steht nur eins: Der Haifisch hat noch Zähne.
Die westlichen Gesellschaften haben sich zum Jahreswechsel eine große Portion Selbstzufriedenheit gegönnt – als sei Putin schon geschlagen. Richtig ist: Die russischen Landstreitkräfte haben sich im vorigen Jahr in der Ukraine mehrfach militärisch blamiert. Die ukrainische Armee dagegen beeindruckte den Rest der Welt mit Mut, Kampfkraft und Professionalität. Doch das ist noch nicht das Ende der Geschichte.
Putins Pläne für das neue Jahr bleiben unbekannt
In Wirklichkeit ist alles offen. Die genauen Pläne Putins fürs neue Jahr kennt nur er selbst. Seine harte, starre Neujahrsansprache war kein gutes Zeichen. Gleiches gilt für Russlands Hantieren mit Überschallwaffen im Nordmeer und mit Iskander-Raketen in Belarus. Will Putin einen neuen Anlauf dazu machen, das Nachbarland Ukraine zwar letztlich konventionell, aber unter einer atomaren Drohkulisse zu unterwerfen? Es wäre ein böses Beispiel für die Welt, eine Ermunterung für ähnlich gestimmte Diktatoren in China und in Nordkorea.
Denkbar ist in Russland eine schlagartige Verschlechterung der Lage von einem Tag zum anderen. Putin hält derzeit rund 150.000 frische russische Kräfte zurück, für Offensiven im Frühjahr. Er könnte jetzt weitere Mobilisierungen befehlen – und parallel dazu Russlands Grenzen schließen, damit nicht erneut Hunderttausende junge Leute ins Ausland verschwinden.
Ein Anwachsen der russischen Truppen in sechsstelligen Größenordnungen aber könnte die Kräftebalance in Europa so sehr beeinflussen, dass die Nato eine generelle Erhöhung ihrer Gefechtsbereitschaft erwägen müsste. Droht Europäern und Deutschen wegen Putin ein weiteres Schreckensjahr? Zu den wenigen Gewissheiten Anfang 2023 gehört jedenfalls, dass die entscheidende Schlacht um die Zukunft der Welt nicht in Lützerath stattfindet.