Die Rütli-Schule: einst schlimmste Schule Deutschlands, heute Vorzeigeprojekt. Schulleiterin Cordula Heckmann erzählt, wie man jene Jugendliche erreicht, über die jetzt das ganze Land spricht.
Rütli-Schulleiterin über Silvester-Krawalle„Wir überlassen die Jugendlichen sich selbst und ihrem Frust“
Ein Brandbrief machte die Rütli-Schule 2006 deutschlandweit als „Problemschule“ bekannt. Lehrkräfte wandten sich damals an den Berliner Bildungssenator, berichteten von eingetretenen Türen, Knallkörpern und anarchischen Zuständen: „Einige Kollegen/innen gehen nur noch mit dem Handy in bestimmte Klassen, damit sie über Funk Hilfe holen können.“
Aus der Hilflosigkeit, aus dem Symbol für die deutsche Bildungsmisere ist mehr als 15 Jahre später ein Vorzeigeprojekt geworden. Am neu gegründeten Campus Rütli lernen knapp 1000 Schüler zusammen, neben der Gemeinschaftsschule gibt es unter anderem ein Stadtteilzentrum, einen Jugendtreff, zwei Kitas. Für die Schule gibt es inzwischen mehr Anmeldungen als vorhandene Plätze.
Was geblieben ist: Neuköllns Ruf als „Problemkiez“ und die Diskussion um die Integration von Jugendlichen mit Migrationshintergrund – das zeigt die Debatte nach der Silvesternacht, in der die Krawalle in Neukölln besonders heftig ausfielen. Während CDU-Politiker wie Jens Spahn die Migrationspolitik dafür verantwortlich machen, halten andere diese Argumente für rassistisch.
Cordula Heckmann, 64, leitet die Neuköllner Schule seit der Transformation zum Campus im Jahr 2009. Im April dieses Jahres tritt sie in den Ruhestand. Wie erlebt sie die aktuelle Diskussion? Und was sind ihre Erfahrungen im Umgang mit den Jugendlichen aus dem Viertel?
Frau Heckmann, wie nehmen Sie die Debatte um die Silvester-Vorfälle in Neukölln wahr?
Cordula Heckmann: Eine Sache würde ich vorweg gerne korrigieren: Es gab Krawalle in Neukölln und es war in besonderer Weise schlimm, darüber brauchen wir nicht zu diskutieren. Aber es war kein rein Neuköllner-Phänomen. Das sage ich deshalb so deutlich, weil es schwierig ist, in einem Bezirk zu leben und einer bestimmten Personengruppe anzugehören, von der immer als Ganzes geredet wird. Neukölln ist sehr vielfältig, bunt und die Jugendlichen, die hier leben, sind unterschiedlich. Es gibt einen gewaltbereiten Teil – und der muss uns erschrecken. Wir müssen diese Gruppe ernstnehmen und mit ihr umgehen; die Frage ist darüber hinaus aber, welche präventiven Maßnahmen solche Gewaltausbrüche verhindern können.
Was wäre aus Ihrer Sicht der richtige Ansatz?
Am Campus Rütli arbeiten wir auch mit jenen Jugendlichen zusammen. Die Jugendfreizeiteinrichtung auf dem Campus Rütli hat beispielsweise damit angefangen, sie breit zu beteiligen; etwa einen in einem Jugendrat, in dem Entscheidungen zum Zusammenleben getroffen werden und in dem sich unsere Pädagogen vorstellen. Die Idee ist: Wir beteiligen euch an dem, was auf unserem Campus geschieht, wir hören euch zu und lassen eure Interessen einfließen. Der Austausch darf gerne kontrovers sein: Welche Werte haben sie, welche Werte haben wir? Aber wir führen diese Diskussionen auf Augenhöhe. Und zwar nicht erst, wenn so was passiert wie an Silvester. In der jetzigen Situation können Sie nur noch sanktionieren.
Gibt es Konflikte, über die immer wieder diskutiert wird?
Ein sehr starkes Thema ist Diskriminierung. Die Jugendlichen haben das Gefühl, dass – umgangssprachlich ausgedrückt – schlecht über sie geredet wird und Bilder entstehen, die nicht deckungsgleich mit ihrer Selbstwahrnehmung sind. Es geht um Respekt, wie man ihnen begegnet, mit welchem Blick. Und es geht auch um die Wege, die sie zu gehen haben zwischen ihrer Herkunftskultur und der Kultur der Mehrheitsgesellschaft. Die Jugendlichen wollen auch jung sein, an den Freiheiten der Gesellschaft teilnehmen. Wie kriegen Sie das in Übereinstimmung mit ihrer Herkunft? Da kommt es häufig zu verschiedenen Ansprüchen.
Sie unterscheiden zwischen der Herkunftskultur der Jugendlichen und jener der Mehrheitsgesellschaft. Wie stark sind die Unterschiede noch ausgeprägt?
Soziologisch gesehen gibt es ganz entscheidende Unterschiede. Wir in Deutschland sind stark individualistisch geprägt, wohingegen die Kinder mit arabischem oder türkischem Hintergrund noch sehr viel stärker familiengebunden sind. Ihre eigene persönliche Entwicklung, ihre Interessen zählen nicht so stark, sondern alles geschieht immer im Kontext der Familie. Das ist ein ganz wesentlicher Unterschied. Auch wenn die Familien seit vielen Jahrzehnten in Deutschland leben? Solche Dinge bleiben – auch in Familien der zweiten oder dritten Generation. Was die Urgroßeltern, Großeltern gelehrt haben, ist nicht einfach weg. Dazu haben wir viele Kinder aus Kriegsgebieten, Eltern, die schwere Schicksale erlebt haben. Der Nachhall dieser Erlebnisse ist auch sehr groß.
Vor allem in Boulevardmedien wird Neukölln nun ein Ort der „Gesetzlosigkeit“ genannt. Nehmen die Kinder und Jugendliche diese Stigmatisierung wahr?
Davon bin ich überzeugt. Sie leiden darunter, weil häufig nicht differenziert berichtet wird. Oft heißt es einfach: Die Täter sind Jugendliche mit Migrationshintergrund. Das ist per se nicht falsch. Dass es in dieser Gruppe von Jugendlichen unterschiedliche Lebenswege gibt, taucht aber nicht auf. Über die bildungsbeflissenen, engagierten Jugendlichen wird nicht berichtet – sie alle werden aber zu dieser negativ konnotierten Gruppe hinzugezählt, wegen ihres Namens und ihres Aussehens. Ich kann nur zustimmen, dass so etwas wie an Silvester gar nicht geht. Aber damit haben wir noch keine langfristigen Lösungen. Die entscheidende Frage ist: Wie schafft man es, dass solche gewaltvollen Ausdrucksformen weniger werden?
Wie haben Sie das an der Rütli-Schule geschafft?
Lange wurde nur darüber geredet, was die Schüler alles nicht können, was sie falsch machen. Unser Konzept lautet „Stärken stärken“. Wir achten auf Herkunft, Sprache und sagen zum Beispiel: Wenn man Arabisch spricht, ist das auch ein Pfund, mit dem man wuchern kann. Dahinter steht der Glaube daran, dass sie etwas bewegen können. Unsere Erfahrungen zeigen: Je mehr Stimmen die Jugendlichen haben, je wirksamer sie sich fühlen, desto besser können sie sich auf die Gesellschaft einlassen – und haben nicht das Bedürfnis, sich auf den Straßen derart auszulassen.
Wie erklären Sie sich das Ausmaß der Ausschreitungen und der Gewalt?
Erstens sind es meist Pubertierende. Wenn sie in größerer Zahl zusammenkommen, entsteht oft eine Dynamik, sie fühlen sich in der Gruppe stark. Das gilt aber nicht nur für meine Jugendlichen. Zweitens hat Corona ihnen auch viel genommen – Möglichkeiten, um sich auszutoben, etwas zu erleben. An Silvester hat sich das Bahn gebrochen, die Jugendlichen schaukeln sich hoch, das macht es gefährlich. Und dann kommt noch Frust über ihre teils schwierige Situation hinzu. Und dieser Frust sieht in einem migrantisch geprägten Quartier unter Umständen anders aus als anderswo. Aber noch mal: Die Krawalle haben nicht nur in diesem Bezirk stattgefunden. Trotzdem muss es uns beunruhigen.
Sie haben vor einigen Jahren mal über ihre Neuköllner Schüler gesagt: „Es braucht sehr viel innere Kraft auf Seiten der Jugendlichen, einem Verliererbild in der Gesellschaft etwas entgegenzusetzen.“ Besteht dieser Eindruck immer noch?
Ja. Wir haben auch in Schulen immer noch zu wenig Möglichkeiten, ihre Lebenswirklichkeiten mit aufzunehmen und zu diskutieren. Wir überlassen sie de facto sich selbst und ihrem Frust. Es gibt auf der einen Seite die Schule, auf der anderen Seite, die Familien, die die Kinder prägen – aber dazwischen findet aus meiner Sicht zu wenig statt. Sie dürfen nicht das Gefühl bekommen, dass es zwei Welten gibt, ihre und unsere – sondern eine gemeinsame, die wir zusammen gestalten können. Am Campus Rütli ist uns vieles gelungen. Aber das reicht nicht, wir müssen als Gesellschaft noch mehr Anstrengungen unternehmen.
Was könnten das für Akteure sein?
Es gibt gute Projekte, die sich mit viel Erfahrung und Kompetenz einbringen, zum Beispiel die „Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus“, kurz „KIgA“, oder „Heroes – gegen Unterdrückung im Namen der Ehre“ und „me2respect“. Diese Projekte stärken uns in unserem Bemühen, mit Jugendlichen in einen konstruktiven Dialog zu treten. Leider stehen diese Initiativen oft unter dem Vorbehalt der Finanzierung.
Auch während der WM ist es in migrantisch geprägten Vierteln zu Randalen gekommen, zum Beispiel in Brüssel. Hier hat man den Eindruck, dass die Menschen sich abgehängt fühlen.
Wir müssen, um Ausschreitungen wie in Brüssel oder bei uns in der Silvesternacht zu verhindern, in den Dialog gehen, damit die Jugendlichen die Kraft finden, sich von diesem Verliererimage zu lösen. Das ist kein kurzer Weg und da gibt es auch viele Störmanöver von rechts und links. Aber es ist wichtig. Wir können solche Vorfälle es nur verhindern, wenn sich die jungen Menschen als Teil dieser Gesellschaft fühlen und sie hier Chancen bekommen.
Woher rührt dieses „Verliererimage“?
Ich kann meine Jugendlichen nicht freisprechen von Fehlern. Es ist aber so, dass immer von dieser einen migrantisch geprägten Gruppe gesprochen wird, die eben nicht homogen ist. Neukölln hat sowieso den Nimbus des Verruchtseins, des Gefährlichen. Und dann kommen noch die Zuschreibungen von außen hinzu. Ich habe sehr viele ehrgeizige Schüler bei mir – wenn sie die Schlagzeilen aus den letzten Tagen lesen, sagen sie: Meine Zukunftschancen sind nach diesen Vorfällen noch mal gesunken.
Eine große Rolle in der Debatte nehmen die Angriffe auf Polizei und Einsatzkräfte ein. Ist das Verhältnis der Jugendlichen zu Autoritäten problematisch?
Wir an der Rütli-Schule haben eine gute Kooperation mit der Polizei und arbeiten seit Jahren eng mit einer Präventionsbeauftragten zusammen. Da kann ich überhaupt nicht berichten, dass die Schüler keinen Respekt hätten. Ich rede aber nur von unserem Haus – ich weiß nicht, was auf der Straße passiert.
Wo könnten hier Probleme liegen?
Ich glaube, dass sie unterschiedliche Erfahrungen mit der Polizei gemacht haben, mitunter auch schlechte. Das muss aber nicht so sein. Es wird viel geredet, untereinander kolportiert. Was aber hinzukommt: In starken Familienstrukturen gilt das Wort des Oberhauptes mehr als das der Polizei. Das liegt am gesellschaftlichen System. Deswegen ist es wichtig, dass ich auch als Schulleiterin Eltern immer wieder darauf hinweise, dass hier nach den Regeln unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung gespielt wird.
Nach der Silvesternacht wird nun breit über Neukölln diskutiert. Wie nehmen die Menschen vor Ort ihr Viertel wahr?
Mittlerweile sind wir Gentrifizierungsgebiet. Hier leben Professoren neben Hartz-IV-Beziehern, Menschen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen. Ich glaube auch, dass sich die Jugendlichen sehr mit dem Viertel identifizieren und sich hier sicher fühlen. Die Frage ist, ob die Interessengruppen im Stadtteil zusammenfinden können. Gelingt das – oder findet nur Verdrängung statt, wie überall anders auch? Das wird wichtig sein. Guckt man nach Brüssel, nach Paris, wo in den Banlieus am Ende des Tages die Gehwege hochgeklappt werden. Berlin hat den Vorteil, dass die Menschen hier noch zusammenleben und nicht segregiert sind. Das ist für die Stadt eine Chance, zusammenzustehen – auch in Neukölln.
Im Frühjahr dieses Jahres veröffentlicht Cordula Heckmann ein Buch über ihre Erfahrungen an der Rütli-Schule. Es heißt „Gebt die Kinder nie auf“ und erscheint im Verlag Gräfe und Unzer.