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„Schlacht im Kopf“Lauterbach über Long-Covid und Suizidgefahr

Lesezeit 4 Minuten
Karl Lauterbach

Karl Lauterbach, Gesundheitsexperte der SPD

  1. Der SPD-Gesundheitsaxperte sagt, die Zahl der Menschen mit chronischem Erschöpfungssyndrom könnte sich durch Corona verdoppeln.

Herr Lauterbach, viele Corona-Erkrankte berichten noch Monate nach ihrer Infektion von schwerer Erschöpfung. Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt es über die Menschen, die unter Langzeitfolgen leiden?Lauterbach: Wir haben in Deutschland leider keine Langzeitstudie aufgebaut, die Long Covid erforscht. Das ist ein schweres Versäumnis. Denn wir brauchen eine Langzeitbeobachtung und gute Versorgungskonzepte für diese Patienten und Prognosen für die Volkswirtschaft. Auch die Arbeitswelt wird dieses Krankheitsbild zu spüren bekommen. Wir müssen uns derzeit auf Studien in Großbritannien und den USA stützen. Besser wäre, wir würden selbst für Deutschland jetzt damit beginnen. Wir können das auch.

Wie erkennen Corona-Kranke, dass sie von Long Covid betroffen sind?

Es gibt zahlreiche Formen von Long Covid. Dazu zählen zum Beispiel Luftnot oder Herzrhythmusstörungen, Kreislaufprobleme beim Aufstehen oder rheumatische Beschwerden in den Gelenken. Es gibt zusätzlich das besonders schwerwiegende Chronic Fatigue-Syndrom, eine Art schwersten chronischen Erschöpfungssyndroms – Schmerzen, Schwäche, extreme Müdigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten. Es handelt sich um eine völlig unnormale physische und psychische Erschöpfung schon nach kleinsten körperlichen Anstrengungen. Menschen, die unter CFS – dem Chronic Fatigue-Syndrom - leiden, können oft nur wenige Stunden am Tag funktionieren. Gleich, wie viel man schläft – die oft quälende totale Erschöpfung geht nicht weg. Betroffene sind so verzweifelt, dass oft sogar Suizidgefahr besteht. Auch deshalb müssen wir darüber aufklären.

Wie viele Menschen könnten davon betroffen sein?

Bisher wissen wir nicht, wie viele Corona-Infizierte Long-Covid-Syndrome entwickeln. Die Schätzungen in Studien reichen von zwei bis 15 Prozent der Erkrankten. Und von ihnen wiederum könnte jeder Zehnte CFS haben. Vor Corona lag die Zahl der CFS-Kranken bei 250.000. Mit der Pandemie könnte sich diese Zahl verdoppeln. Ganz wichtig ist, dass Ärzte die richtige Diagnose stellen und unterscheiden, ob jemand depressiv ist, vor dem Burn out steht, altersmüde und von der Arbeit erschöpft ist – oder eben CFS hat. Denn was bei Depression und Burnout hilft und motiviert – Sport, Meditation, Yoga, Aktivierung – macht es für den CFS-Patienten oft sogar schlimmer. Denn bei ihm führt eine Aktivierung zu einer zusätzlichen Belastung und diese zu einer zusätzlichen Störung. Einfach Joggen ist oft nicht ratsam. Spezialisten müssen hier individuelle Konzepte erarbeiten und ohne die richtige Diagnose kann es keine Heilung geben. Im Gegenteil das Scheitern würde beschleunigt.

Was spielt sich da ab im Körper?

Der Krankheitsmechanismus ist noch nicht ganz klar. Aber man kann es sich so vorstellen: Eine Schlacht im Kopf findet statt. Bei einem chronischen Erschöpfungssyndrom gibt es eine Art Entzündungsreaktion im Kopf. Der Körper reagiert im Kopf auch auf das Virusmaterial. Es kommen entzündliche Botenstoffe ins Gehirn. Das Gehirn bekämpft mit seinen eigenen Abwehrzellen das Virus. Wenn die eigentliche Erkrankung überstanden ist, begreift das Gehirn das aber nicht und fängt möglicherweise an, das eigene Gewebe zu bekämpfen. Bei der Bekämpfung des Virus kommen auch Innenbestandteile der eigenen Zellen ins Blut. Es kann sein, dass der Körper lernt, sein eigenes Gewebe anzugreifen. Das ist nur eine Hypothese für die Erschöpfungszustände, die aber noch weiter erforscht werden muss.

Wie ist das therapierbar?

Dafür haben wir noch keine richtige Therapie. Es wird daran gearbeitet. Professorin Carmen Scheibenbogen an der Charité gehört zu den Spezialistinnen. Wichtig ist, dass die Patienten entlastet werden. Dass sie mit der Krankheit zu leben lernen. Es ist eine sehr schwere Erkrankung, die viele Jahre andauern kann. Wer aus der Sars-1-Epidemie vor fast 20 Jahren das Post-Sars-Syndrom bekommen hat, hatte oft mit dem Chronic Fatigue-Syndrom noch zehn bis 15 Jahre zu tun.

Wie kann sich diese Pandemie mit Langzeitfolgen für Erkrankte auf die Wirtschaft auswirken?

Die Betroffenen werden womöglich lange nicht so leistungsfähig wie früher sein, sie werden mehrfach im Jahr ausfallen. Manche werden ganz ausscheiden. Genau sagen kann man das noch nicht. Hoffnung macht dies: Vielleicht werden Impfungen der Erkrankten gegen Long Covid helfen, weil sie eine veränderte Immunantwort des Körpers veranlassen. Es gibt Hinweise dafür. Aber auch das wissen wir noch nicht sicher.