„Sie kamen, um uns zu töten“ESC-Siegerin Jamala über ihre Flucht aus Kiew
Der erste Tag, der ihr Leben verändert, ist ein Triumph. Am 15. Mai 2016 kurz nach Mitternacht steht die ukrainische Sängerin Jamala auf der Bühne der Globen Arena in Stockholm und singt schmerzvoll, schluchzend und verzweifelt das ganze Leid der Generation ihrer Urgroßmutter heraus: von der Krim vertrieben, von Josef Stalins Geheimpolizei verfolgt und getötet.
„Die Menschlichkeit weint!“, singt sie. Jamalas archaischer Klagelaut erreicht die Herzen der Europäer. Ihr Song „1944″ siegt beim 61. Eurovision Song Contest. 200 Millionen Fernsehzuschauer lesen ihr dunkles Lied als Parabel auf die Annexion der Krim 2014 durch Wladimir Putins Russland. Plötzlich geht es nicht mehr um Glitzer und Party beim größten Popspektakel der Welt, sondern um die großen Fragen von Krieg und Frieden, Liebe und Tod.
Der zweite Tag, der ihr Leben verändert, ist eine Tragödie. Knapp sechs Jahre später, am 24. Februar 2022, erschüttern um 5 Uhr morgens Explosionen die Hauptstadt Kiew. „Der Krieg hat begonnen“, sagt Jamalas Ehemann Bekir Suleimanov. Die 38-Jährige selbst steht unter Schock. Am Abend beschließt die Familie: Wir fliehen mit den beiden kleinen Söhnen - einer ist knapp zwei, einer drei Jahre alt - nach Westen. „Der Krieg hat uns, wie Millionen andere, völlig überrascht“, sagt Jamala dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Wir haben bis zum Schluss nicht daran geglaubt, dass so ein Horror im 21. Jahrhundert mitten in Europa jemals passieren könnte.“
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„Wir hatten nur fünf Minuten zum Packen“, berichtet sie. „Ich schnappte mir unsere Dokumente, zog den Kindern ihre wärmsten Wintersachen an und versuchte, nicht in Panik zu geraten.“ Und dann fällt ihr Blick auf ihre ESC-Siegestrophäe, ein gläsernes Mikrofon mit einem Herzen darauf. Soll sie? Soll sie nicht? Sie habe tatsächlich kurz überlegt, sie mitzunehmen, sagt sie - „aber natürlich habe ich nur das Nötigste eingepackt“. In der Eile vergisst sie gar, Verpflegung mitzunehmen.
Jamalas Urgroßmutter floh von der Krim
Dann ist sie auf der Flucht. Auf dem Weg ins Ungewisse. Genau wie ihre Urgroßmutter 78 Jahre zuvor, eine Krimtartarin, die ihr ganzes Leben auf der Halbinsel verbracht hatte. Am 18. Mai 1944, nach der Rückeroberung der Krim durch die Rote Armee, war sie mit fünf Kindern ins zentralasiatische Kirgisistan deportiert worden. 15 Minuten hatte sie zum Packen. Stalin warf den Krimtartaren Kollaboration mit der deutschen Wehrmacht vor. Eine Propagandalüge. Ein Vorwand. Schon damals.
Auch damals kamen die Soldaten genau um fünf Uhr morgens. „Die Geschichte wiederholt sich“, sagt Jamala. „Sie kamen, um uns zu töten, und haben dreist im russischen Fernsehen gelogen, dass es nicht ihre Schuld sei.“
Millionen Ukrainer sind auf der Flucht. Mehr als zwei Millionen haben bereits das Land verlassen, fast alles Frauen und Kinder, melden die Vereinten Nationen. Nach Westen, nur nach Westen. Es ist „die am schnellsten wachsende Flüchtlingskrise in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg“, meldet das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen. Eine menschliche Tragödie auf den Straßen Europas. Und mittendrin steckt 48 Stunden nach Kriegsbeginn die Eurovisionssiegerin Jamala.
Jamala dokumentiert ihre Flucht auf Instagram
Die Westrouten sind verstopft. Die 400 Kilometer lange Fahrt ins westukrainische Ternopil dauert zwei Tage. Die Familie kommt zeitweise nur mit zwei Kilometern in vier Stunden voran. Jamala dokumentiert die Flucht auf Instagram, spricht blass und verweint in die Kamera, zeigt Bilder von Kriegsruinen und brennenden Häusern, zeigt Bilder von ihren Söhnen schlafend auf der Rückbank und von Kleinkindern und Babys in eiskalten Kellern. Aber sie gibt sich auch kämpferisch. „Wir werden gewinnen!“, sagt sie immer wieder.
In Ternopil angekommen hören sie erneut Explosionen. Auch hier also ist Krieg. Russische Truppen greifen den Flughafen an. Hier können sie nicht bleiben. Sie beschließen, das Land zu verlassen. Jamala und die Kinder wollen sich in Richtung Süden über Rumänien bis nach Istanbul durchschlagen, wo ihre Schwester lebt. Ihr Mann – „die Hälfte meines Herzens“ – bleibt zurück. Ukrainern zwischen 18 und 60 Jahren ist die Ausreise verboten.
Was sie unterwegs erlebt, ist unsagbares Leid, aber auch „eine unglaubliche Freundlichkeit und gegenseitige Unterstützung“. Nachts wartet Jamala mit den beiden Söhnen an der Grenze nach Rumänien. Stundenlang. Sie singt den Kindern Lieder vor. Sie spielen in der Dunkelheit eine Art Spiel: Sie erzählt den Kindern, es gebe einen Krieg, die Lage sei schwierig, aber sie könnten helfen, ihn zu gewinnen – wenn sie jetzt das tun, was die Mama ihnen sagt. Schlafen. Essen. Warten. Geduld haben.
Jamals Flucht dauert vier Tage
Es hilft den Jungen. Auf der anderen Seite der Grenze wartet der Lebensgefährte ihrer Schwester mit dem Auto. Er bringt sie durch Rumänien und Bulgarien in die Türkei. „Die Reise dauerte insgesamt vier Tage“, sagt Jamala. „Und es war unterwegs, als würde mein Leben an meinen Augen vorbeiziehen. Du verlässt dein Zuhause, wo deine Familie und Freunde sind, du verlässt das Leben, das du dir jahrelang aufgebaut hast. Alles ist innerhalb einer Minute weg – es fühlt sich an, als breche alles zusammen.“
Das Schlimmste, sagt sie, seien die „Tausende von Gedanken, die einem durch den Kopf gehen: Was passiert mit den Menschen, die dir wichtig sind? Wie weit wird Putin mit seiner verrückten Idee eines Atomangriffs gehen? Wann gewinnen wir?“ Sie wisse, dass Millionen von Menschen in diesen Tagen mit denselben Gedanken einschlafen. „Ich verstehe diesen verdammten Terror nicht!“
Die Kinder sind vorerst in Sicherheit. Jamala selbst fliegt von Istanbul nach Berlin, absolviert Fernsehauftritte, will ihre Bekanntheit nutzen, um die Welt aufzurütteln. Sie wolle „das Leid meines Volkes herausschreien“, sagt sie – stellvertretend für die Hunderttausenden von Müttern und Kindern, die stumm in den Kellern von Kiew, Mariupol und Charkiw säßen. „Ich hoffe, Putin wird für all den Schmerz zahlen, den er Millionen von Menschen zugefügt hat. Müttern, die ihre Kinder verloren haben, Kindern, die ihre Eltern verloren haben, tapferen Soldaten, die ihr Leben im Kampf gegen diesen verrückten und nicht provozierten Krieg verloren haben.“
Jamals wuchs auf der Halbsinsel Krim auf
Geboren wurde Sussana Alimiwna Dschamaladinowa alias Jamala am 27. August 1983 in Kirgistan. 1991, nach dem Zerfall der Sowjetunion, kehrte sie mit ihrer Familie auf die Krim zurück, in die Heimat ihres Vaters. Ihre Eltern ließen sich für einige Jahre scheiden, damit ihre Mutter unter ihrem Mädchennamen ein Haus auf der Krim für die Familie kaufen konnte.
Der Grund: Die Behörden erlaubten es ethnischen Krimtataren wie ihrem Vater damals nicht, Immobilien auf der Krim zu erwerben. Ihre Vorfahren mütterlicherseits sind Armenier aus Berg-Karabach. Noch heute leben ihre Eltern auf der Krim. Es ist, als spiegele sich in Jamalas Familiengeschichte die Geschichte Osteuropas der vergangenen 100 Jahre.
Weit, unendlich weit und unwirklich erscheint ihr in diesen Wochen der Sieg vor sechs Jahren. Damals, als der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko jubelte: „Ich bin unglaublich stolz auf die Ukraine, und ich bin Jamala dankbar für diesen Sieg, der für uns alle wichtig ist.“ Damals, als nachts um 1.30 Uhr eine krimtatarische Journalistin mit Tränen in den Augen fragte, ob der ESC 2017 auf der „dann freien“ Halbinsel Krim stattfinden werde (was er nicht tat).
Damals, als Staatschef Petro Poroschenko sie zur „Volkskünstlerin der Ukraine“ erklärte, als beim ESC 2017 in Kiew, drei Jahre nach den blutigen Aufständen auf dem „Euromaidan“, überall die Eurovisionsflagge wehte und am ausgebrannten Gewerkschaftshaus im Stadtzentrum das bombastisch große Bild einer zersprengten Kette prangte mit dem Satz: „Freiheit ist unsere Religion.“ Drei Millionen Menschen aus 130 Nationen waren damals in Kiew zu Hause.
Jamal sang die Geschichte ihres Volkes
„Es war toll“, sagt Jamala. Und das, obwohl „jede Note, jedes Wort meines Liedes ‚1944′ von der bitteren Geschichte meines Volkes durchdrungen war“. „Fremde kommen in dein Haus und töten dich“, heißt es im Refrain. „Ihr denkt, ihr seid Götter, aber es sterben alle.“ Es ist, als sei das Lied ein Blick in Vergangenheit und Zukunft zugleich gewesen.
„Die Russen und Präsident Putin versuchen alles, um unseren Erfolg zu verhindern und uns zu diskreditieren“, sagte der Kiewer Bürgermeister Klitschko schon damals. Das Ziel des Kreml sei, die Ukraine zu destabilisieren. „Deshalb auch dieser sinnlose Konflikt in der Ostukraine.
Wofür kämpfen die Menschen? Wir verstehen das nicht. Ohne die Waffenlieferungen, ohne die finanzielle Unterstützung, ohne die Propaganda der Russen würde dieser Konflikt niemals stattfinden. Das ist künstlich aufgebaut. Genau wie in Abchasien, Transnistrien, Berg-Karabach. Es ist immer dasselbe Muster.“
Die Furcht, von Europa ignoriert zu werden, ist schon damals überall spürbar. „Unser Problem ist, dass der Rest der Welt die Ukraine kaum von Russland unterscheiden kann“, sagte etwa Zahar Davydenko. Er arbeitete als Maître d‘hôtel im Restaurant „Ostannya Barykada“ (Die letzte Barrikade) direkt am Maidan.
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Das hat Gründe. Sie liegen weit vor der Sowjetzeit. Vor 1000 Jahren war Kiew die Hauptstadt der Kiewer Rus, eines mittelalterlichen Großreichs auf dem Gebiet des heutigen Westrusslands, Weißrusslands und der Ukraine. Dieses goldene Zeitalter befeuerte bis zum Krieg die Überzeugung stolzer Ukrainer, nicht bloß Europäer, sondern die wahren Russen zu sein: Moskau, die Zaren, der Kreml, haben sich nach dieser Lesart die Kiewer Rus „angeeignet“, um sich selbst eine ruhmreiche Vergangenheit anzudichten.
Der Konflikt um Besatzung, Einverleibung und den Hungertod von an die zehn Millionen Ukrainern unter Stalins Herrschaft beherrschte den russisch-ukrainischen Alltag. „Die Sowjets eliminierten den Genozid aus Zeitungen, Schulbüchern, Kunst, Musik und Alltag“, heißt es in der 2009 errichteten Gedenkstätte für den „Holodomor“ genannten Völkermord in Kiew – „aber nicht aus der Erinnerung des ukrainischen Volkes.“ Draußen steht die Skulptur eines ausgemergelten Mädchens mit Ähren in der Hand. Meist liegen frische Blumen zu ihren Füßen.
Ukraine ist nicht ohne Gewalt einnehmbar
Spätestens mit der Orangen Revolution 2004 dämmerte Moskau, dass die Hinwendung der seit 1991 unabhängigen Ukraine zum Westen wohl ohne Gewalt unumkehrbar sein würde. Russische und ukrainische Sprache, Kultur, Denkweise – bis dahin zu einem kulturellen Amalgam verwirbelt – begannen sich zu trennen wie Öl und Wasser.
Die 94-tägige „Euromaidan“-Revolte entzündete sich dann am 21. November 2013, als Präsident Viktor Janukowitsch sich weigerte, das Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen. Tausende hielten bei klirrender Kälte vor Feuerfässern aus, sangen und beteten für Meinungsfreiheit, Frieden und Würde. Aber dann quollen Janukowitschs Schläger aus ihren schwarzen Limousinen. Allein am 20. Februar starben 80 Menschen. Heute gibt es wieder Meldungen, Janukowitsch stehe bereit, vom weißrussischen Minsk aus als Marionettenpräsident von Putins Gnaden als Ukrainischer Herrscher reinstalliert zu werden.
Kiew sah sich als Bollwerk gegen ein nach Westen drängendes Despotentum. Jamalas Lied traf in dieser Gemengelage genau ins Schwarze. Die Liebe der Kiewer zum ESC spiegelte 2017 auch die Sehnsucht, eines Tages vom Westen belohnt zu werden. „Ihr seid das Herz Europas“, hatte der französische Intellektuelle Bernard-Henri Lévy auf dem Maidan gerufen. „Kiew ist heute seine Hauptstadt, und die Zivilgesellschaft Europas ist seine Schwester.“
Jamala: „Es ist ein Krieg gegen die europäischen Werte.“
Ist sie das? Wenn die Ukraine diesen Krieg nicht gewinne, sagt Jamala, „dann wird Putin erst uns zerstören und dann mit seiner Armee weiterziehen, um ein Weltreich zu errichten“. Sie wünscht sich mehr direkte Hilfe vom Westen. „Wir sehen, dass Sanktionen funktionieren, und dafür sind wir den Ländern, die uns unterstützen, dankbar“, sagt sie. „Aber diese Sanktionen sind ein langfristiges Spiel, und wir haben nicht die Zeit. Jede Minute bedeutet jemandes Leben.
Es sei nicht nur ein Krieg gegen das ukrainische Volk, sagt die Eurovisionssiegerin von 2016. „Es ist ein Krieg gegen die europäischen Werte.“ Ohne Europa sei die Ukraine ein einsames Land. Umgekehrt gelte: „Mit uns wird die Europäische Union stärker sein. Und das beweisen wir jetzt mit jedem Leben, mit jedem Tropfen unseres Blutes.“