AboAbonnieren

Terror oder Wahn?Suche nach Motiv für Attacke in Würzburg geht weiter

Lesezeit 8 Minuten
Gedenkkerzen Würzburg 2

Menschen gedenken den Opfern der Messerattacke in Würzburg.

  1. Nach der Messerattacke in der Würzburger Innenstadt steht die Stadt unter Schock – und fragt nach den Gründen für die Tat.
  2. Erste Hinweise deuten auf schwere psychische Probleme des Täters, aber auch auf eine Sympathie für radikale Ideen.
  3. Über eine Unterscheidung, die immer mehr verschwimmt.

Würzburg – Er muss es wirklich geglaubt haben, sagt Abdikadar Dini. Zweifel schien es nicht zu geben. Zum Beispiel daran, dass eine Gruppe von Russen hinter ihm her sei und ihm etwas antun wolle, bis nach Berlin sei er vor ihnen geflohen, weil er so sicher war, dass es sie gibt. Und als er in der Klinik war, habe er auf die Krankenwagen vor dem Gebäude gezeigt und gefragt, was die von ihm wollten, wer die bezahlt, und immer so weiter.„Er lebte wie einer anderen Welt“, sagt Abdikadar Dini. Wahnvorstellungen habe er gehabt, habe Stimmen gehört, und dass er zuletzt auch trank, habe es noch schlimmer gemacht.

„Wir haben versucht, ihm zu helfen“, sagt Dini auf dem Würzburger Barbarossaplatz, dort, wo dieser Mann, sein Bekannter, am Tag zuvor drei Menschen getötet und sechs schwer verletzt haben soll. Erreicht jedoch, sagt Dini, hätten sie ihn nicht mehr.

Täter kam 2014 aus Somalia

Aber war es der Wahn, der ihn offenbar zum Täter machte? Die Krankheit? Dini ist davon überzeugt. Oder war es doch eher die Überzeugung, angeblich Ungläubige töten zu wollen, im Dschihad zu sein, wie er es selbst offenbar bei seiner Festnahme sagte? Und lässt sich das eine vom anderen wirklich zuverlässig trennen? Genau das wird immer schwieriger, stellen Ermittler in letzter Zeit immer häufiger fest.

Dini kam 2014 aus Somalia, ein schmaler Mann mit hellgrauem Sakko, er arbeitet in einem Elektromarkt. Der Mann, über den er spricht, ist Abdirahman J., 24 Jahre alt, ebenfalls aus Somalia, der im Jahr darauf nach Deutschland kam, 2015.

Was J. am Freitagnachmittag an dem belebten Platz in der Würzburger Innenstadt getan hat, hat die Polizei rasch rekonstruieren können. Gegen 17 Uhr geht der Täter in die Filiale eines Kaufhauses, steuert die Haushaltswarenabteilung an und greift sich ein Messer, mit dem er wild vor allem auf Frauen einzustechen beginnt, allesamt Kundinnen. Eine 24-Jährige, eine 49-Jährige und eine 82-Jährige sterben, ein 57-jähriger wird leicht, eine 52-Jährige schwer verletzt.

Täter attackiert auch Elfjährige

Dann geht der Täter hinaus, barfuß und mit Mundschutz sticht er auf dem Platz und in der Sparkassenfiliale gegenüber auf weitere Menschen ein, darunter ein elfjähriges Mädchen und einen 16 Jahre alten Jugendlichen.

Es sind extrem brutale, blutige Szenen, die die Menschen aus einer vermeintlich unbeschwerten Einkaufsstimmung herausreißen, der Vorfreude aufs Wochenende, und die auch jene traumatisiert zurücklässt, die körperlich unbeschadet bleiben.

Würzburg Gottesdienst

Mit einem Gottesdienst gedenken Menschen den Opfern in Würzburg.

Eine von ihnen ist Phan Thi, eine junge Frau mit vietnamesischen Wurzeln, Betreiberin des Restaurants „Best Friends“, die kurz zuvor gerade ihre Schicht begonnen hat.

Erst hört sie nur Schreie, dann stürmen die Gäste in Panik von der Terrasse herein. Sie schließt die Türen, steigt auf einen Stuhl, sieht den Täter direkt vor ihrem Fenster vorbeilaufen, sieht blutende und zusammenbrechende Menschen.„Wir hatten alle riesige Angst“, sagt sie, und noch am Tag darauf seien ihre Beine „wie gelähmt“.

Das könnte Sie auch interessieren:

Es sind, das ist das kleine Wunder von Würzburg, Passanten, die den Täter dann mit Stühlen und Besen in eine Seitengasse drängen können, „sehr mutige Menschen“, wie Phan Thi sagt. Sie meint Menschen wie den Kellner einer Weinstube, Helmuth Andrew, der sich einen der Stühle in seinem Lokal griff. Mit einem „starren Blick“ habe der Täter die ganze Zeit geschaut, erinnert er sich später gegenüber der dpa, „ohne eine Mimik“. Andrew tritt ihm entgegen, bis die Polizei den Täter schließlich mit einem Schuss ins Bein stoppen und festnehmen kann.

Da ist der Schrecken von Würzburg zunächst einmal vorüber. Und zurück bleibt die Frage nach dem Motiv.

Polizeiakte belegt psychische Probleme

Hinweise darauf, dass Abdirahman J. massive psychische Probleme hat, kommen nicht nur von seinen Landsleuten, sie finden sich auch in den Polizeiakten. Der 24-Jährige lebt unter „subsidiärem Schutz“ in Deutschland, ist also legal hier, wie die Behörden betonen, gewohnt hat er zuletzt in einer Obdachlosenunterkunft. Dort kommt es im Januar zu einem Streit mit anderen Bewohnern, in dessen Verlauf J. andere mit einem Messer bedroht, aber nicht verletzt. Für mehrere Wochen kommt er in eine psychiatrische Klinik.

Seitdem läuft laut Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren gegen ihn, ein psychiatrisches Gutachten soll erstellt werden – das aber, wie die Staatsanwaltschaft einräumt, bis heute nicht fertig ist.

Im Juni, zehn Tage vor der Tag, fällt J. auf, weil er in der Innenstadt ein Auto anhält, sich vor den Kühler stellt, mitgenommen werden will und auch nicht weicht, als der Fahrer das nicht will. Er kommt in eine psychiatrische Klinik, die er nach einer Nacht auf eigenen Wunsch wieder verlässt. Ihn gegen seinen Willen dort zu behalten, dafür sehen die Ärzte keinen Anlass, sowohl eine akute Selbst- wie auch eine Fremdgefährdung sehen sie nicht.

Täter fiel wohl auf

In den vergangenen Tagen schließlich ist der spätere Täter in der Innenstadt und vor dem Bahnhof offenbar mehreren Menschen durch sein eigenartiges Verhalten aufgefallen. „Ich habe mich gefragt, ob er betrunken oder ob er einfach verwirrt ist“, so schildert es ein Mann, der täglich mit dem Zug in einen Vorort pendelt.

Auf der anderen Seite jedoch sehen die Ermittler auch Anzeichen dafür, dass es ein islamistisch begründeter Hass gewesen sein könnte, der ihn trieb. So soll Abdirahman J. „Allahu akbar“ gerufen haben, als er auf seine Opfer einstach, so hat es laut Polizei unter anderem der Kaufhausdetektiv gehört. Bei der Festnahme, so bezeugen es Polizeibeamte, habe der Täter dann von „Dschihad“ gesprochen, einem heiligen Krieg, in dem er sich befinde. Als die Polizei anschließend sein Zimmer durchsucht, stößt sie auf „Hassschriften“, von denen aber noch nicht klar sei, ob sie einen Bezug etwa zum IS hätten.

Gedenkkerzen Würzburg

Blumen und Kerzen am Tatort in Würzburg

In der Vernehmung anschließend hat Abdirahman J. geschwiegen. Sein Anwalt Hanjo Schrepfer hält ihn für möglicherweise suizidgefährdet. „Was ich feststelle ist, dass er psychisch auffällig ist“, sagte er Sonntag der Deutschen Presseagentur.

Wahn? Oder wohlkalkulierter Terror? Die Ermittlungen, so betonen Polizei und Staatsanwaltschaft, stünden noch ganz am Anfang. Allerdings schlössen sich „psychische und politische Motive nicht aus“, betont der bayerische Innenminister Joachim Herrmann am Samstagnachmittag.Tatsächlich ist das Bedürfnis nach einer eindeutigen Zuordnung nach einem solchen Verbrechen in der Regel groß. In der Praxis jedoch machen die Ermittler zuletzt immer häufiger die Erfahrung, dass beides, Wahn und Ideologie, bei solchen Taten durchdringen – und im schlechtesten Fall sich sogar gegenseitig verstärken.

Stigmatisierung verhindern

Das Thema ist vor allem deshalb schwierig, weil viele Experten eine Stigmatisierung psychisch Kranker fürchten. Andererseits fehlt es nicht an Beispielen für den schmalen Grat, der krankhafte Störung und ideologische Verblendung oft voneinander trennt. So galt etwa der Attentäter, der 2017 in Hamburg einen Mann in einem Supermarkt erstochen hat und sich später auf den IS berief, als psychisch stark auffällig (wenn auch als schuldfähig). Beim Attentäter von Hanau wiederum, der im vergangenen Jahr neun Männer und Frauen mit Migrationshintergrund und anschließend seine Mutter erschoss, fanden Experten noch posthum die Kriterien für eine paranoide Schizophrenie erfüllt. „Man kann auch psychisch krank und rechtsextrem sein“, so beschrieb es die Gießener Kriminologin Britta Bannenberg.

Nach den Morden von Würzburg verweist auch der Terrorismusexperte Peter R. Neumann vom Londoner King“s College auf genau diese schwierige Unterscheidung. Bei extremistischen Taten dominiere der Typus des Einzeltäters, betont er auf Twitter. Deren Anfälligkeit für psychische Probleme gelte „unabhängig von Ideologie“, treffe also auf Islamisten und Rechtsextremisten gleichermaßen zu – und mache es zunehmend schwer zu entscheiden, ob es sich überhaupt um eine politisch oder extremistisch motivierte Tat handelt.

Im Fall der Messerattacke von Würzburg sei es nun wichtig zu klären, unter welcher Erkrankung genau der Täter leide, wie schwer die mögliche Störung sei – und auf der anderen Seite herauszufinden, wie lange und eingehend er sich schon mit dschihadistischen Inhalten beschäftigt hat. „Der Attentäter von Würzburg war ein Einzeltäter, aber kein Einzelfall“, erklärt Neumann. „Die ,Vermischung„ von extremistischer Rhetorik und psychischer Anfälligkeit, vor allem bei Einzeltätern, ist mittlerweile ein dominantes Muster, das die Beurteilung und Bekämpfung noch schwerer machen.“

Kompliziertere Fragen

Doch in Würzburg ist die Sorge nun groß, dass all diese Fragen zu kompliziert sein könnten – und viele sich jetzt mit einfachen Antworten und vorschnellen Schlüssen begnügen. Die Stadt hat Erfahrung damit, schon 2016 hatte ein Attentäter hier in einem Zug vier Menschen mit einer Axt schwer verletzt, genau fünf Jahren ist das jetzt er.

Söder Kranz

Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder legt einen Gedenkkranz nieder.

Vor der Woolworth-Filiale am Barbarossaplatz legen an diesem Wochenende nun immer mehr Würzburgerinnen und Würzburger Blumen ab, zu ihnen gehören auch Ulrike Steinmetz und ihr Sohn Samuel, die kurz innehalten vor der verschlossenen Kaufhaustür, ein Moment der Andacht. Sie kenne selbst mehrere Geflüchtete, deren oft schwierige Situation und auch Menschen, die ihnen helfen, sagt die Frau, Zahnärztin von Beruf, sie wisse um die Probleme. Wichtig sei es daher, „dass man präventiv etwas tut“, dass man also Hilfen und Beschäftigung biete.Am Ende, das ist ihr Gedanke, sei das der beste Schutz, für alle.

Aber es gibt hier, an dem Ort, an dem drei Menschen starben, an diesen Tag auch andere Stimmen. Seine Tochter habe ihn gefragt, ob sie jetzt Angst haben müsse, wenn sie in die Stadt führen, und er habe geantwortet, nein, an diesem Tag sei jetzt so viel Polizei da, da könne nichts passieren. Dann legen auch sie Blumen ab, für die Opfer.

Es sind auch solche Gegensätze, vor denen Christian Schuchardt, der CDU-Oberbürgermeister der Stadt, am Tag darauf einen offenen Brief schreibt. „Ich habe um unsere Stadt geweint“, bekennt er darin – und wendet sich dann gegen Schubladendenken und vorschnelle Schlüsse. „Das Pendel müssen wir nach Kräften bewegen. In die richtige Richtung“, schreibt er darin. Es klingt danach, als wisse er, dass das nicht einfach wird.