- Twitter gehört seit gut einer Woche Elon Musk. Aber was hat der Milliardär damit vor?
- Seine erste Entscheidungen zeigen: Es bleibt kein Stein auf dem anderen.
- Kann der Mann den Laden wirklich retten? Oder wird Twitter zur digitalen Kloake?
San Francisco – „Zorn ist die nutzloseste Emotion von allen“, hat US-Autor Stephen King mal geschrieben, denn er sei „zerstörerisch für den Verstand und verletzend für das Herz“. Und trotzdem schwoll ihm selbst jüngst der Kamm. Auslöser: die Nachricht, dass ein verifiziertes Twitterkonto nach der Übernahme durch Elon Musk künftig wohlmöglich Geld kosten könnte.
„20 Dollar, um meinen blauen Haken zu behalten?“, donnerte King – „die sollten eher mich bezahlen. Wenn das eingeführt wird, bin ich weg.“ Musks Antwort an den schäumenden Star war die eines Feilschers: „Wir müssen irgendwie die Rechnungen bezahlen“, schrieb er. „Wie wäre es mit 8 Dollar?“
Elon Musk bringt Twitter-Nutzer nach Übernahme in Wallung
Mit der Meinungsmacht ist es eben wie mit dem Klimawandel: Es sind die kleinen Dinge, die das Publikum in Wallung bringen – nicht so sehr die Sorge um das diffuse große Ganze. Planet in Gefahr? Schwer fassbar. Aber Kartoffelbrei auf einem Gemälde? Sauerei! Eine Handvoll Milliardäre mit globaler Macht? Kompliziert. Aber den prestigeträchtigen, blauen Verifizierungshaken neben dem Twitternamen gibt„s nur noch gegen Geld? Aufruhr in der Community!
Es vergeht kaum ein Tag, an dem Elon Musk - „Clown, Genie, Provokateur, Visionär, Industrieller und Showman“ („Time Magazine“) - das staunende Publikum (und die bangende Twitter-Belegschaft) nicht mit neuen Gedankenfetzen zur Zukunft seines frisch erworbenen Spielzeugs Twitter füttert. Im Drama um die Zukunft des Netzwerks aber geht es nicht bloß um die Angst von ein paar Zehntausend eitlen Stamm-Usern, der erratische Milliardär könne ihr Lieblingsspielzeug kaputt machen.
Wird Twitter dank Musk zur digitalen Meinungsklaoke?
Viel tiefer sitzt die globale Sorge, Musk könne, impulsgetrieben wie er zu sein scheint, Twitter aus einem falsch verstandenen Freiheitsimpuls heraus endgültig zur digitalen Meinungskloake verkommen lassen, zum unkontrollierten Sammelbecken für das schwärende Gift des Populismus.
Am 28. Oktober hat Musk den defizitären Dienst nach einem wirren Ringen für 44 Milliarden Dollar gekauft und von der Börse genommen. Nach fast einem Jahrzehnt liegt Twitter damit wieder in privater Hand. Mit im Boot sind: der saudische Prinz Alwaleed bin Talal als zweitgrößter Investor, Twitter-Gründer Jack Dorsey – und eine Tochtergesellschaft des Staatsfonds von Katar.
Dieses mächtige Werkzeug der öffentlichen Debatte also liegt nun in den Händen antidemokratischer Regime und eines überaus rätselhaften Mannes. Gerade erst sind in Saudi Arabien zwei Frauen zu jahrzehntelangen Haftstrafen verurteilt worden. Sie hätten „das soziale Gefüge (des Königreichs) mithilfe des Internets zerreißen“ wollen und „die öffentliche Ordnung mit sozialen Medien verletzt“. Geschäfte mit Twitter macht man aber ganz gern.
Was hat Musk eigentlich vor?
Twitter mag nur das fünfzehntgrößte soziale Netzwerk der Erde sein – aber es ist überdurchschnittlich populär bei Multiplikatoren, Polikern, Meinungsmachern. Was hat Musk vor? Zunächst klang die Sache nach klassischer Großindustriellen-Gekränktheit: Musk wirkte wie der Milliardär, der in irgendeinem Hotel im Hochsauerland keine Schokolade auf dem Kopfkissen vorfand und deshalb im Zorn beschließt, den ganzen Laden zu kaufen.
Die Frage ist: Geht es um mehr? Folgt der Mann tatsächlich radikallibertären Grundüberzeugungen? Hängt er, ganz im Geiste des US-Investors Peter Thiel, dem ideologischen Traum eines maximal entstaatlichten digitalen Arkadiens an, das sämtlicher Regulierungsketten befreit und ohne die Bürde politischer und gesellschaftlicher Kontrolle unter dem Deckmantel einer neuen vermeintlich freiheitlichen Weltordnung die Profitmaximierung auf ein neues Level hebt und quasi als Kollateralschaden einer rückenmarksgesteuerten Dampfkommunikation Tür und Tor öffnet?
Schon jetzt Anstieg von rassistischer Hetze auf Twitter
Denn ohne Moderation, ohne verantwortliche Lenkung würde Twitter in Rekordzeit zu einem noch triefenderen Höllenloch für professionelle Trolle und Dopaminsüchtige werden. Telegram lässt grüßen. Niemand kann ernsthaft behaupten, dass das Internet dort, wo es am wenigsten moderiert wird, am besten funktioniert.
Oder ist Musk eher ein Bauchmensch, den heute die eine Idee begeistert und morgen die nächste? Und der die finanziellen Mittel hat, jeden aufpoppenden Gedanken bis zum Moment des Interessenverlustes in der Realität auszutesten? Und: Was passiert danach mit Twitter? Mit Argwohn beobachteten Netzexperten direkt nach der Übernahme durch Musk einen Anstieg von Tweets mit rassistischer Hetze.
Offenbar wollte die rechte Szene antesten, wie es um die angekündigte neue Freiheit bestellt ist. Twitter versucht seit Jahren, Falschinformationen einzufangen - und vor allem Anhänger des abgewählten US-Präsidenten Donald Trump wittern Zensur. Musk liebäugelte zuletzt stark mit Trumps politischem Biotop, der Republikanischen Partei.
Musk äußert politische Meinung auf Twitter
Die Demokraten von US-Präsident Joe Biden seien dagegen zu einer „Partei der Spaltung und des Hasses geworden“, schrieb er im Mai - bei Twitter. Immerhin: Dem EU-Kommissar Thierry Breton soll Musk bereits zugesichert haben, dass Twitter sich an europäische Vorgaben halten werde. Breton formulierte seine sanfte Warnung an Musk in einem Tweet in Anspielung auf das Vogel-Logo von Twitter so: „In Europe, the bird (Twitter) will fly by our European rules.“ („In Europa wird der Vogel nach unseren europäischen Regeln fliegen.“)
Neues EU-Recht zwingt Plattformen, illegale Inhalte und groben Unfug zügig zu löschen. Mitten im Meinungssturm über den Twitterdeal freilich leitete der Milliardär selbst eine dubiose Verschwörungstheorie zum Angriff auf Paul Pelosi weiter, den Ehemann der US-Spitzenpolitikerin Nancy Pelosi. Später löschte er den Retweet wieder.
Immer wieder hatte Musk in den vergangenen Monaten beteuert, Fake-Accounts und automatisiert postende Bots bekämpfen zu wollen und den Dienst zu einer Allzweck-App nach dem Vorbild etwa von WeChat in China auszubauen. Erst im Mai bezeichnete Musk die Woke-Kultur als Virus, „das versucht, die Zivilisation zu zerstören“. Auch Netflix sei „unanschaubar“ wegen des Woke-Trends. Mit dem Stichwort „woke“ kritisieren Gegner vermeintlich übertriebene politische Korrektheit.
Musk hat Glaubwürdigkeit verspielt
Zuletzt milderten sich die Töne. Twitter dürfe kein „Ort des Grauens“ werden, wo ohne Konsequenzen alles gesagt werden dürfe, schrieb Musk, König des gehobenen Trolltwitterns, versöhnlich an Werbekunden. Der Dienst müsse „warm und einladend für alle“ sein. Seinen eigene Twitter-Berufsbezeichnung änderte er zwischenzeitlich in „Twitter Complaint Hotline Operator“ (Mitarbeiter der Twitter-Beschwerdehotline).
Mit derlei Scherzlein freilich wird er den Argwohn der Öffentlichkeit kaum bekämpfen können. Denn wie glaubwürdig sind Beteuerungen eines Mannes, der den kanadischen Premierminister Justin Trudeau einst mit Adolf Hitler verglich? Der Autobauer General Motors kündigte an, er werde seine Werbung bei Twitter aussetzen - und abwarten, welchen Kurs die Plattform unter Musk einschlage.
Musk spielt eben stets nach seinen eigenen Regeln und hat die geldwerte Gabe, sich jene untertan zu machen, die seinen Interessen nützen. 44 Milliarden Dollar für eine Firma, die in ihrem stärksten Jahr gerade einmal 1,47 Milliarden Dollar Gewinn gemacht hat? Das ist selbst für Musk-Verhältnisse eine Stange Geld. „Ganz offensichtlich“ habe er zu viel bezahlt, gab er in einer Tesla-Telefonkonferenz zu. Er setze aber auf das „langfristige Potenzial“.
Musk feuert große Teile der Führungsetage
Und so legte er mit dem Umbau von Twitter los wie die Feuerwehr. Er feuerte sämtliche Topmanager wie Konzernchef Parag Agrawal und Finanzvorstand Ned Segal. Er löste den neunköpfigen Verwaltungsrat auf und ernannte sich selbst zum alleinigen Direktor.
Er kündigte ein neues Gremium zum Umgang mit kontroversen Inhalten an - nach dem Vorbild von Facebook, wo die Entscheidungen der Runde für das Management bindend sind. Er zeigte sich offen dafür, das 280-Zeichen-Limit für Tweets zu kippen. Er schickte laut der Wirtschaftsagentur Software-Spezialisten seiner Elektroautokonzerns Tesla in die Twitterzentrale nach San Francisco, um den Code der Plattform unter die Lupe zu nehmen. Und er kündigte massive Stellenstreichungen an, von bis zu drei Vierteln der 7500 Mitarbeiter war die Rede.
Sicher ist: Die von kommunikativem Chaos begleitete Übernahme ist alles andere als trivial. Zum ersten Mal hält der reichste Mann der Welt selbst ein wirkungsvolles Instrument der Meinungsmache in den Händen. Aus dem klassischen Industriellen Musk mit seinen Raumfahr-, Auto-, Bohr- und Forschungsunternehmen ist damit ein Medienmogul geworden. Wie Jeff Bezos mit seiner „Washington Post“. Wie Tim Cook bei Apple. Wie Reed Hastings bei Netflix. Und wie alle, die Streamingdienste, soziale Medien und Studios ihr eigen nennen.
Geld nicht Musks Antrieb bei Twitter-Übernahme
Er habe Twitter nicht gekauft, um mehr Geld zu machen, versicherte Musk in einem ersten Schreiben. „Ich tat es, um der Menschheit zu helfen, die ich liebe.“ Das klingt hoffnungsvoll und verstörend zugleich. Denn es könnte viel verraten über den Antrieb des Mannes, der wie nicht wenige Silicon-Valley-Investoren den kalifornischen Can-Do-Spirit mit einem sinnstiftenden Überbau verbindet, in dem es um nicht weniger geht als ein Update der menschlichen Gesellschaft. Irgendwann, wenn die Geldspeicher voll sind, entwickelt man in diesen Kreisen einen geradezu bizarren Erleuchtungsdialekt.
New Age trifft New Business. Peter Thiel etwa, ideologisch nah an Trump verortet, träumt bei seinem irdischen Treiben von einer Reorganisation des „veralteten“ Demokratieprinzips – einem Machtwechsel fort von der schwergängigen aktuellen Politik hin zu einzelnen, agileren, schillernden digitalen Sonnenkönigen, die sich, betrunken vom Erfolg, das Recht herausnehmen, ihre Visionen ohne Schranken verwirklichen zu können. Wie Musk. Wer sich in dieser Welt um die Schwachen kümmern soll, bleibt freilich offen.
Fünf sehr reiche, weiße Männer kontrollieren nun also weite Teile des sozialen Netzes. Facebook, Instagram und Whatsapp gehören zu Mark Zuckerbergs Meta-Imperium, Google und Youtube zu Larry Pages und Sergej Brins Alphabet-Konzern. Musk gehört nun Twitter. Dazu kommen Jeff Bezos„ Amazon, Microsoft und Apple. Plus China. Plus Russland. Eine kleine, irrwitzig reiche Garde mit massiven Eigeninteressen und eine Handvoll Schurkenstaaten regiert die digitale Welt. Das kann auf Dauer nicht gut gehen. „Wir haben die komplette demokratische Debatte im Internet Einzelpersonen in die Hände gelegt“, kritisiert die in Heidelberg lebende Autorin Jagoda Marinic im Deutschlandfunk. „Ich frage mich, wie kaufbar die Demokratie ist.“
Musks Vision „gefährlichen Blödsinn“?
Das Internet ist auf bestem Wege, sich endgültig zu einem durchkapitalisierten Kraftzentrum von Milliardärsinteressen zu entwickeln, das Freiheit nur noch simuliert. Die Weltraumobsession von Musk und Jeff Bezos ist nur das Symptom eines größeren Gedankens: dem nämlich, dass die alte Erde mit ihren lästigen politischen Bremsklötzen ihre Zeit gehabt hat. Robert Reich, Professor an der Universität von Kalifornien in Berkeley und von 1993 bis 1997 Arbeitsminister unter US-Präsident Bill Clinton, hat Musks Vision von einem „neutralen Twitter“ als „gefährlichen Blödsinn“ bezeichnet.
„Irgendjemand muss über die Algorithmen in jeder Plattform entscheiden – wie sie gestaltet sind, wie sie sich entwickeln, was sie offenbaren und was sie verbergen“, schreibt Reich im „Guardian“. Musk verbreite das „falsche Bild“ einer schönen neuen Welt, in der jeder die Macht habe. „In Wirklichkeit würde diese Welt von den reichsten und mächtigsten Menschen der Welt beherrscht.“
„Einige Tausend bestimmen, was im Internet passiert“
„Heute bestimmen einige Tausend Ingenieure darüber, was im Internet passiert“, schreiben Paul Nemitz, Chefberater der EU-Kommission und Mitglied der Datenethikkommission der Bundesregierung, und der Philosoph und Journalist Matthias Pfeffer in ihrem Buch „Prinzip Mensch“. „Die Vorstellung, der Code des Internets sei demokratisch, ist naiv. Es sind Ingenieure und Unternehmen, die bestimmen, wie viel Datenschutz es gibt, wer wie viel Zugang hat und wie wir durch Werbung manipuliert werden können, wenn dies nicht durch demokratische Gesetze entschieden wird.“
Amazon-Chef Bezos träumt von der „Kolonisierung des Sonnensystems“. Musk von Menschen auf dem Mars. Die Welt ist nicht genug. Verrückt? Nicht doch. Musk sei „lustig, unhöflich, fesselnd, unausstehlich, zugänglich, leicht zu handhaben, schwer zu handhaben, immer erreichbar, unverblümt, wütend, charmant, intensiv und auffallend selbstbewusst“ – schrieb die Techexpertin Kara Swisher, die ihn persönlich kennt, in der „New York Times“. Aber eines sei er nicht: verrückt.
Die Frage jedoch, wo Musks Loyalitäten liegen, wurde in den vergangenen Wochen mehrfach laut: Zuletzt löste er massive Irritation durch außenpolitische Vorstöße aus. So schlug er ganz im Sinne Pekings vor, aus Taiwan eine „Sonderverwaltungszone“ unter chinesischer Herrschaft zu machen. Zudem plädierte er dafür, die Ukraine solle die von Russland widerrechtlich annektierte Krim verloren geben und einem Referendum unter UN-Aufsicht in ihren von russischen Truppen besetzten Gebieten zustimmen. Auch kündigte er erst an, seine Firma SpaceX könne die kriegswichtige Internetversorgung der Ukraine mit seinem Satellitensystem Starlink nicht länger leisten – ruderte dann aber zurück.
Im März forderte er den russischen Machthaber Wladimir Putin in einem bizarren Tweet zu einem Mann-gegen-Mann-Kampf heraus, als handele es sich beim Überfall Russlands auf die Ukraine um ein harmlos putziges Machoscharmützel.
Und nun? Wird Donald Trumps gesperrtes Twitterkonto wieder zugelassen? Kehrt der Mann zu Twitter zurück? Von Musk kommen widersprüchliche Signale. Trump selbst versicherte, Twitter sei nun „in vernünftigen Händen“, er bleibe aber lieber bei seinem eigenen Netzwerk Truth Social. Was aber sein Wort zählt, hat er zur Genüge bewiesen. Vor einer möglichen Präsidentschaftskandidatur für 2024 hätte ein Twitter-Comeback ohne Zweifel großen Reiz. Jedenfalls für ihn und seine Anhänger. Niemand kann bisher sagen, ob auch Musk dazu gehört.