Die Liste aller von mir geguckten Netflix-Shows ist ein erschütterndes Dokument. Der Tag, an dem ich für die reale Welt verloren ging, lässt sich exakt datieren: Es war der 19. September 2014. Wie die Sache aus dem Ruder lief.
Abgetaucht im StreamingAuf der Suche nach der verlorenen Zeit
In einer Art disziplinarischer Selbstintervention habe ich mir die Liste aller jemals von mir geguckten Netflix-Shows heruntergeladen. Es ist ein erschütterndes Dokument. Der Tag, an dem ich für die reale Welt verloren ging, lässt sich exakt datieren: Es war der 19. September 2014. Meine Abhängigkeit von der Droge Streaming begann also genau drei Tage nach dem Start von Netflix in Deutschland. Es ist mir gerade einmal erbärmliche 72 Stunden lang gelungen, mich zurückzuhalten. Herzlichen Glückwunsch zu meiner stabilen Impulskontrolle.
Seitdem habe ich nicht weniger als 2513 (zweitausendfünfhundertunddreizehn!) Filme oder Serienfolgen gesehen. Allein bei Netflix. In Lebenszeit umgerechnet sind das mindestens 150.000 Minuten oder mehr als 100 Tage am Stück. Nicht mitgezählt sind dabei die ungefähr 400 Tage, in denen ich bei Netflix vergeblich nach einer neuen Serie gesucht habe.
Die allererste Netflixshow, die ich jemals ansah, war Folge eins von „Orange is the new Black“, ein stabiler Start. Doch noch am selben Tag hat mich bereits die Disziplin verlassen: Sendung Nummer zwei war dann schon eine alte „Pastewka“-Folge („Der Hausmeister“). Es folgen in schneller Folge: „Fargo“, „House of Cards“, „Narcos” und „Lilyhammer“. Im März 2015 habe ich dann offenbar den größten Teil meiner Zeit damit verbracht, „Modern Family“ zu gucken. Für die Vernachlässigung von Familie und Freunden möchte ich mich herzlich entschuldigen.
Beweise der Verzweiflung
Es finden sich auch Beweise der Verzweiflung in dem Dokument meines Müßiggangs. So habe ich im Sommer 2018 acht Folgen der Doku „Der Wilde Westen – Die wahre Geschichte“ ausgesessen. In der Not frisst der Teufel Fliegen.
Zwischen zwei Staffeln von „The Crown“ habe ich ein Comedyspecial von Olaf Schubert eingeschoben, um die royale Prunksucht quasi mit einer Portion Dresdner Bodenständigkeit auszugleichen. Und im Frühjahr 2019 muss mich eine Art musikalischer Nostalgieschub erwischt haben: Ich guckte in nur 48 Stunden Dokus über die Rolling Stones, Metallica, die Beatles, Freddie Mercury und, ähem, One Direction.
Dann lief die Sache aus dem Ruder: Für die ersten sieben Folgen „Tiger King“ brauchte ich genau zwei Tage. Daran schloss sich ein „Community“-Rausch an, aus dem ich erst im Mai 2020 wieder erwachte. Zum Runterkommen: „Barbecue Showdown“, wo schwitzende Grillkönige triefende Tierteile in Feuerlöcher wuchten. Fragen Sie nicht. Und natürlich Olaf Schubert.
Die Gucklöcher werden größer
Zuletzt jedoch verlor die Sache an Schwung. Die Gucklöcher werden größer. Der Reiz des Neuen verfliegt. Es gibt Wochen ganz ohne Netflix. Dann Monate. Im Oktober 2022 der quantitative Tiefpunkt: ein Iliza-Shlesinger-Comedyspecial und ein bisschen Kleinkram. That’s it, folks.
„Die Liebe ist Sehnsucht, und gestillte Sehnsucht vergeht“, schrieb Hans Christian Andersen 200 Jahre vor Netflix. Es ist vorbei. Aber ich muss dringend mal bei Paramount+ reingucken.
Schönes Wochenende!
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