VerschwörungstheorienWie es wirklich ist, mit einem „Aluhut“ verheiratet zu sein
- Verschwörungsmythen finden seit Beginn der Pandemie viel Zulauf.
- Sie ist Frührentnerin und Risikopatientin, ihr Ehemann glaubt an geheime Mächte und manipulierte Infektionszahlen.
- Wie lebt es sich mit einem Anhänger solcher Mythen?
Berlin – Irgendwann hat es angefangen. Irgendwann habe er aufgehört, Nachrichten zu konsumieren, langjährige Freunde zu treffen oder auch nur mit ihnen zu telefonieren. „Irgendwann hat er nur noch Zahnpasta ohne Fluorid gekauft, weil Fluorid uns alle vergifte“, sagt Claudia Siebert über jemanden, der ihr seit mehr als 20 Jahren nahesteht und sich doch immer weiter von ihr entfernt: ihr eigener Ehemann.
Zunächst habe ihn die Esoterik gereizt, lange vor Corona. Heute sind es Verschwörungsmythen, mit denen sich ihr Mann ein Weltbild zurechtpuzzelt, das nicht nur Claudia Sieberts Ehe gefährdet, sondern vor allem ihre Gesundheit. Claudia Siebert heißt in Wahrheit anders. Weniger aus Angst vor Reaktionen von außen als aus Sorge um das letzte bisschen Frieden zu Hause möchte sie in diesem Text anonym bleiben – und trotzdem die Öffentlichkeit wissen lassen, wie es ist, einen nahen Angehörigen an die „Schwurblerszene“ zu verlieren, wie sie selbst sagt.
Verschwörungsgläubige in allen Gesellschaftsschichten
Ihr Fall soll zeigen, wie wenig stereotyp Verschwörungsgläubige sind und wie hilflos Angehörige; aber er soll auch zeigen, welches Verhalten helfen kann und welches eher nicht. In vielen Familien wird angesichts der massiv steigenden Infektionszahlen (wieder) diskutiert: Sind die Maßnahmen zu streng? Sind sie noch nicht streng genug? Sollen wir die Maske nicht auch draußen freiwillig tragen?
Und während die allermeisten Kritiker sich argumentativ auf die Beschneidung ihrer freiheitlichen Grundrechte beschränken, gibt es in wohl jedem Bekanntenkreis inzwischen jemanden, der es vermeintlich besser weiß: jemanden, der sich in ominösen Telegram- Chatgruppen tummelt und Links zu kruden Youtube-Videos verschickt oder selbst jene Gedankenkonstrukte wiedergibt, die dort aufzuschnappen sind.
Mythen, fernab von Überprüfbarkeit
Manchmal sind es Menschen, denen man diese Wissenschaftsferne nie zugetraut hätte, die nie zuvor aufgefallen sind mit Verschwörungstheorien. Aber was sind Verschwörungstheorien überhaupt? Vor allem sind es keine Theorien. „Eine Theorie ist eine wissenschaftlich nachprüfbare Annahme über die Welt“, schreiben Pia Lamberty und Katharina Nocun in ihrem kürzlich erschienenen Sachbuch „Fake Facts“.
Verschwörungserzählungen zeichneten sich eben dadurch aus, dass sie sich der Überprüfbarkeit entziehen, erklären Lamberty und Nocun. Die beiden Expertinnen definieren eine Verschwörungserzählung als „Annahme darüber, dass als mächtig wahrgenommene Einzelpersonen oder eine Gruppe von Menschen wichtige Ereignisse in der Welt beeinflussen und damit der Bevölkerung gezielt schaden, während sie diese über ihre Ziele im Dunkeln lassen.“
Schon länger verbreitet
Was jetzt sichtbar wird, lag schon länger im Verborgenen: Laut einer repräsentativen Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Frühjahr 2019 glaubte schon damals – lange vor Corona – fast die Hälfte der Befragten (45,7 Prozent) an geheime Organisationen, die großen Einfluss auf politische Entscheidungen haben. Ein Drittel (32,7 Prozent) war der Meinung, Politiker und andere Führungspersönlichkeiten seien nur Marionetten anderer Mächte.
Jeder vierte (24,2 Prozent) gab an, Medien und Politik steckten unter einer Decke. Auch bei Claudia Sieberts Ehemann bahnte sich lange an, was Corona bloß beschleunigt: Als junge Erwachsene wurde bei ihr Multiple Sklerose (MS) diagnostiziert, seitdem geht es körperlich bergab. Immer wieder hätten sie gemeinsam nach alternativen Behandlungsmethoden geschaut, weil Standardtherapien zunächst nicht anschlugen. Während sie bei Heilpraktikern vorsichtig Rat gesucht habe, sei ihr Mann zügig in esoterische Kreise abgedriftet, sagt Claudia Siebert. „Er versteifte sich in den Gedanken, die Pharmaindustrie sei eine Mafia.“
„Deep-State“-Geschichten über geheime Mächte
Ihr Mann, nach dem Abitur und einer anderen Ausbildung jahrelang als Ergotherapeut selbst in der Welt der Medizin tätig, habe nach und nach begonnen, sich nicht mehr über klassische Medien (Radio, Zeitung, Fernsehen) zu informieren. Stattdessen hätten ihn Blogger im Internet beeindruckt. „Ich habe mich da anfangs rausgehalten“, sagt Claudia Siebert, „ich habe gar nicht gemerkt, wo er gelandet ist mit der Zeit. Das hatte wohl kaum mehr etwas mit Medizin zu tun.“
Gelandet sei er bei den „Deep State“-Verschwörungen – und nun überzeugt, dass geheime Mächte alles steuern. Während sie Gegendemos zu Querdenker- Versammlungen besucht. Wie aber soll sie ihrem Mann etwas belegen, das man selbst nicht ohne Weiteres belegen kann? Hochkomplexe Prozesse erklären, ohne Virologe zu sein, Epidemiologe oder politischer Entscheider? Am besten gar nicht, rät Claus-Christian Carbon, Psychologieprofessor an der Uni Bamberg. Wichtig sei es, eine gemeinsame Gesprächsbasis zu finden, und zwar eine emotionale – sofern der- oder diejenige noch empfänglich dafür sei.
Verunsicherung ernst nehmen, Empathie zeigen
„Sachlichkeit hilft selten“, sagt Carbon, „Forschungen zeigen, dass Menschen vor allem durch Empathie zu erreichen sind.“ Dazu gehöre auch, zu hinterfragen, wie es dazu kommen konnte, zu verstehen, wo Verzweiflung, Angst und Sorgen um sich gegriffen haben, statt Menschen vorschnell zu verurteilen. „Wer alle Corona- und Impfskeptiker pauschal als Verschwörungstheoretiker abtut, trägt zur Spaltung der Gesellschaft bei“, so Carbon. „Da gibt es sehr viele Grauzonen, viele verschiedene Motivationen und eben auch viele zuvorderst verunsicherte Menschen, die man ernst nehmen sollte.“
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Claudia Siebert sagt: „Hätte unsere Ehe nicht so viel Substanz, wären wir wohl nicht mehr zusammen.“ Mit Freunden und Bekannten meiden sie das Thema Corona, unter den beiden bleibt es Streitthema. Als sie kürzlich Bekannte in der Stadt trafen und ihr Mann diese prompt umarmte, während sie nur den Ellenbogen zur Begrüßung ausstreckte, reichte es ihr. „Ich habe auf den Tisch gehauen, ihm klargemacht, dass er meine Gesundheit gefährdet.“ Die Krankheit MS habe ihr schon so vieles genommen, Corona dürfe es nicht auch tun. „Ich habe das Gefühl, dass ich noch Einfluss nehmen kann“, sagt Claudia Siebert.
Besonnenen Dialog versuchen
Das aktuelle Bedrohungsszenario mag für Herrn Siebert größer sein als für andere: Da sind der Jobverlust und die fehlende Aussicht auf eine neue Anstellung, die unheilbare Krankheit seiner Frau, die seit Jahren viel Raum einnimmt, und da ist der diffuse Feind Covid- 19, dessen medizinische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Langzeitfolgen niemand absehen kann. In dieser Situation sollte man keinesfalls defizitorientiert an die Sache herangehen,rät Psychologe Claus-Christian Carbon, jemanden wie Herrn Siebert also besser da packen, worin er selbst gut ist, zum Beispiel beim Thema Ergotherapie, und dort ansetzen, etwa bei medizinischen Standards.
„Im besonnenen Dialog bleiben“ ist seine Devise bei den meisten verschwörungsaffinen Menschen. Die Grenze zieht Carbon bei den wenigen, aber lauten Anführern dieser Bewegung, die über ihre Kanäle Falschinformationen verbreiten und gezielt destruktiv handeln. „Die kann man nicht mehr erreichen. Denn das ist teilweise ihr Geschäftsmodell: die Freude an der Zerstörung – während sie vielleicht insgeheim selbst Masken tragen.“
Claudia Siebert will das verschobene Weltbild ihres Mannes weiter bearbeiten. „Das wird nicht verschwinden, es wird gerade von allen Seiten unterfüttert.“ Er habe ihr immerhin versprochen, vorerst niemanden mehr zu umarmen und sich die Hände oft zu waschen, und gebe sich nur noch als Impfskeptiker, nicht als -gegner aus. Wenn die Pandemie irgendwann vorüber ist, hofft Claudia Siebert, dass Ruhe einkehrt. Der nächste Sommer sei ihr Anker in Gedanken.