Orcas vor der iberischen Halbinsel zerstören gezielt die Ruder von Segelbooten. Hunderte Fälle sind dokumentiert. Was treibt die intelligenten Tiere an?
Was treibt die Orca-Wale zu Angriffen auf Boote an?
Die Vorfälle verlaufen immer nach demselben Muster. Schwarz-weiß glänzende Walleiber tauchen in der Nähe von Segeljachten vor der iberischen Halbinsel auf. Die Orcas sind nicht als freundliche Begleiter gekommen, die die Boote eskortieren und dabei Wolken ihrer Atemluft lustig in den Himmel sprühen. Sie führen etwas im Schilde.
Der französische Meeresbiologe Augustin Drion hat so eine Begegnung mit dramatischen Folgen am Vormittag des 1. November 2022 14 Seemeilen westlich von Viana do Castelo an der portugiesisch-spanischen Grenze erlebt. Fünf oder sechs Orcas, darunter Jungtiere, erspähte er im Wasser rund um seine Jacht „Smousse“.
Die Walgruppe hatte ein Ziel. Sie interessierte sich für den empfindlichsten Teil des Bootes, ohne den es auf dem offenen Meer schnell brenzlig werden kann. Sie hatte es aufs Steuerruder abgesehen.
Bald schon erzitterte das Boot unter mächtigen Stößen. Die Orcas attackierten das Ruderblatt, das wie ein Brett unter dem Boot zwei Meter in die Tiefe ragte. Mal war der eine Wal an der Reihe, mal der andere. Sie rammten das Ruder mit ihren Kopfplatten oder umschlossen es mit ihren mächtigen Kiefern. Anscheinend mühelos drehten sie das viele Tonnen schwere Boot aus seiner Fahrtrichtung. An eine kontrollierte Fortbewegung war nicht mehr zu denken.
Bitte keine Gegenwehr!
Die Crew tat genau das, was die spanischen und portugiesischen Behörden nach einem für solche Fälle ausgearbeiteten Sicherheitsprotokoll empfehlen. Sie barg die Segel und stellte Maschine sowie Instrumente ab – kurz: alles, was surrt, brummt, lärmt.
Vor allem aber leistete die Bootsmannschaft keine wie auch immer geartete Gegenwehr, um die Tiere nicht zusätzlich zu reizen. Sie fuhr nicht rückwärts, und sie versuchte auch nicht, die Orcas mit Musik oder Geschrei zu vertreiben. Drion und die anderen verhielten sich möglichst ruhig, machten sich quasi unbemerkbar für die Wale. Diese lugen offenbar ganz gern mit senkrechtem Körper aus dem Wasser und beobachten die Reaktionen der Menschen an Bord.
Bei vielen Begegnungen zuvor verloren die Orcas innerhalb von Minuten das Interesse und trollten sich – so wie bei einer Party, auf der nichts los ist und die nur langweilt. In diesem Fall war es anders. Die Orcas setzten ihr zerstörerisches Werk fort.
Irgendwann hörte die Besatzung von unten ein Bersten. Wasser drang ins Boot. Der Rumpf hatte einen Riss abbekommen. Die Crew setzte einen Notruf ab. Sie machte sich bereit, die „Smousse“ zu verlassen und in die schlauchbootähnliche Rettungsinsel zu klettern. Keine sonderlich angenehme Vorstellung, wenn bis zu acht Meter lange Wale um einen herum kreisen.
Am Ende hatten die Segler Glück im Unglück: Bevor die „Smousse“ unterging, befreite sie ein schwedischer Kollege aus der Not. Dann traf die Seenotrettung ein.
An ein Bild von diesem Tag kann sich Drion bis heute genau erinnern: Ein Orca zieht mit einem Stück Ruder im Maul davon, so wie ein Hund, der sich den Pantoffel seines Besitzers geschnappt hat.
Beinahe wie in „Der Schwarm“
Klingt das nach Seemannsgarn? Oder nach einem bislang unveröffentlichten Kapitel aus Frank Schätzings Ökothriller „Der Schwarm“, in dem die malträtierte Natur sich am Menschen rächt? In den Sinn könnte einem auch „Moby Dick“ kommen, nur dieses Mal eben nicht mit Pottwalen als Protagonisten, sondern mit Schwertwalen. Auch für Herman Melvilles Roman diente ein wahrer Bericht als Vorlage: Demnach war das Walfangschiff „Essex“ 1820 im Pazifik von einem Pottwal angegriffen und versenkt worden. Aus der Gruppe des Wals hatte die Besetzung kurz zuvor mehrere Tiere getötet. Es gibt Tagebuchberichte darüber.
Bei den Vorfällen an der westeuropäischen Küste bewegen wir uns nicht in der Fiktion. Es gibt Hunderte dieser Geschichten mit Jachten von bis zu 15 Metern Länge. Der Autor und passionierte Segler Thomas Käsbohrer ist ihnen in seinem Buch „Das Rätsel der Orcas“ nachgegangen. Viele Zusammenstöße endeten mit der Zerstörung des Ruders und dem Abschleppen der manövrierunfähigen Boote in den nächsten Hafen. Allerdings: Nur ganz wenige Jachten sanken.
Ein Mensch kam bei den diversen Vorfällen bislang nicht zu Schaden. Überhaupt hat noch nie ein Orca in freier Wildbahn einen Menschen attackiert. Im Gegenteil: Es gebe viele Erzählungen, wonach Delfine und Wale verunglückte Menschen gerettet haben, sagt Antje Boetius, Direktorin am Alfred-Wegener-Institut. Sie war als Beraterin bei der Serie „Der Schwarm“ dabei.
In Delfinarien ist es allerdings schon passiert, dass ein eingesperrtes Tier seinen Trainer oder seine Trainerin tötet. Die Erkenntnis, dass die Haltung in Gefangenschaft weder für Wal noch Mensch zu rechtfertigen ist, scheint sich allmählich durchzusetzen: Momentan läuft im Miami Seaquarium ein 20 Millionen Dollar teures Projekt an, einen vor mehr als einen halben Jahrhundert gefangenen Orca namens Lolita wieder in die Freiheit im Pazifischen Ozean zu entlassen.
Der Sprecher einer an der Aktion beteiligten Tierschutzgruppe sagt: „Lolita war vier Jahre alt, als sie gefangen wurde, sie lernte also das Jagen. Sie kennt das Lied ihrer Walfamilie. Sie wird sich erinnern, aber es wird Zeit brauchen.“
Schwertwale: Wegelagernde Gladiatoren
Aus diesen Worten spricht die Faszination für die Meeressäuger. Auch die Segler vor der iberischen Küste beschreiben die Begegnungen immer wieder als entspannt, keineswegs als aggressiv. Die Angst der Menschen mischt sich durchaus mit Neugier.
In einer ersten Phase tauchen die Orcas unter das Boot und inspizieren den Rumpf. Sie tasten sich gewissermaßen an das Objekt der Begierde heran. Dann erst legen die muskelbepackten Tiere mit aller Kraft los. Die unerfahreneren Jungtiere schauen zu, so als wollten sie lernen.
Segler sollen rund um die Meerenge bestimmte Stellen meiden
Nur eine bestimmte Walpopulation, die Orca iberica, hat sich auf diese Angriffe spezialisiert. Es dürfte sich um kaum mehr als ein gutes Dutzend Tiere handeln, von Biologen „Gladis“ (Gladiatoren) genannt. Gut möglich allerdings, dass die Zahl inzwischen angewachsen ist.
Rund um die Meerenge von Gibraltar haben die Behörden inzwischen besonders riskante Abschnitte ausgewiesen: Diese Ecken sollten Segler tunlichst meiden, wenn sie nicht unverhofft von wegelagernden Gladiatoren aufgebracht werden wollen. Das spanische Umweltministerium hat in der Vergangenheit schon Segelverbote für kleinere Boote etwa im Gebiet zwischen Kap Trafalgar und Barbate erteilt.
Segler aus aller Welt sind rund um die Straße von Gibraltar unterwegs. Die Attacken begannen im Sommer 2020. Vermutlich werden längst nicht alle Begegnungen gemeldet. Aber es lassen sich Hinweise auf die tatsächliche Zahl der Vorfälle sammeln. Buchautor Käsbohrer hat mit Werftbetreibern in der Region gesprochen, die verbogene oder gesplitterte Ruder reparieren. Er schätzt die Gesamtzahl der unliebsamen Begegnungen auf rund 500.
Seiner Ansicht nach könnte das Phänomen noch deutlich größere Ausmaße annehmen: Erstmals kam es nun auch in den bislang ruhigen Wintermonaten zu „Interaktionen“, wie Biologen die Ruderattacken nennen. Bislang legten die Orcas erst im Frühjahr los. Dann kehren die Thunfische aus dem Norden zum Laichen ins Mittelmeer zurück. Sie sind die Hauptfutterquelle der Wale. „Ich wäre nicht überrascht, wenn die Zahl der Zusammenstöße künftig steigt“, so Käsbohrer.
Killerwale: Im Teamwork unschlagbar
Orcas sind hochintelligente Wale aus der Familie der Delfine. Die ausgesprochen sozialen Tiere leben in Familiengruppen, angeführt von einem alten Weibchen, das leicht 80 oder 90 Jahre alt werden kann. Das Orca-Gehirn ähnelt dem des Menschen, ist mit bis zu sieben Kilogramm aber viermal so schwer.
Je nach Lebensraum und Beute haben die Wale spezifische Jagdmethoden ausgebildet. In der Antarktis schwimmen sie in perfekter Choreografie auf Eisschollen zu, auf denen Seelöwen sich in falscher Sicherheit wiegen. Mit koordinierten Flukenbewegungen überschwemmen sie die Schollen und spülen ihre Beute ins Meer.
Auf argentinische Strände lassen sie sich hinaufschlittern, um Robben und Pinguinen habhaft zu werden. Eine riskante Technik: Sie müssen auch wieder den Weg zurück in den Ozean finden. In der Gruppe legen sich Orcas mit weitaus größeren Walarten und sogar mit Weißen Haien an. Bei Letzteren haben sie es vor allem auf die fettreiche Leber abgesehen. In Teamwork sind Orcas unschlagbar.
Phänomenal ausgeprägt sind Neugier und Spieltrieb. Buchautor Käsbohrer berichtet von kanadischen Orcas, die tote Lachse auf dem Kopf balancierten. Ein Wal fing mit der ungewöhnlichen Hutmode an, andere ahmten sie nach. Irgendwann verschwand die Gewohnheit wieder.
Der Untertitel von Käsbohrers Buch lautet: „Wie Orcas sich das Meer zurückholen. Warum sie Boote angreifen“. Denn das ist die eigentliche Frage: Warum demolieren die Tiere die Boote?
Käsbohrer hat mit Meeresbiologen, Tiertrainern, Fischern und Naturschützern gesprochen. Vielen Spuren ist er gefolgt. Die Suche nach Antworten war mühselig. „Zwischendurch hätte ich beinahe aufgegeben“, sagt er.
Haben sich Orcas etwa mit Parasiten infiziert, die ihr Gehirn angreifen und zu diesem seltsamen Verhalten führen? Sind einzelne Tiere schwer belastet mit giftigen Chemikalien wie etwa PCB und werden deshalb auffällig?
Tatsächlich gehen die Geburtenraten bei Schwertwalen zurück, weil sich in ihren Körpern Umweltgifte stark anreichern. Orcas stehen ganz oben in der Nahrungskette. Oder hilft der Schätzing-Thriller „Der Schwarm“ doch weiter bei des Rätsels Lösung? Ein Erklärungsansatz könnten erlittene Schmerzen sein. Es gibt Dokumentationen über verstümmelte und verletzte Wale und Delfine in der viel befahrenen Straße von Gibraltar. Die Meeressäuger geraten in Schiffspropeller, ihre Flossen werden durch Stahlleinen abgetrennt, Fischereihaken reißen tiefe Wunden. Mütter verlieren in Treibnetzen ihre Kälber. Immer wieder sind Fälle beobachtet worden, in denen Orcas den toten Nachwuchs über viele Tage mit sich führten.
Wollen die Tiere dem Menschen nun bekunden, dass sie genug von ihm in ihrem Lebensrevier haben, indem sie Boote stoppen?
Orcas: Appetit auf Thunfisch schafft Konkurrenz zu Fischern
Immer wieder sollen auch frustrierte Fischer auf Wale schießen, weil sie in ihnen die hartnäckigsten Konkurrenten um den Fang sehen. Die Orcas haben sich darauf spezialisiert, besonders prächtige Thunfisch-Exemplare in Minutenschnelle von den Leinen zu pflücken. Auf dem internationalen Sushi-Markt ist so ein Fang viele Tausend Dollar wert – vorausgesetzt, die Fischer ziehen keinen Thunfisch-Rest aus der Tiefe, weil die Orcas ebenso Appetit auf den Leckerbissen hatten.
Könnte auch der beständig zunehmende Unterwasserlärm eine Rolle spielen, dem Tiere gerade auf dem Gibraltar-Highway ausgesetzt sind? Hat der Spuk mit einem durch den Menschen besonders gestressten Orca begonnen?
Wie also lautet Käsbohrers Antwort? Sie fällt vorsichtig aus, geradezu enttäuschend nach all dem Aufwand, den er über viele Monate betrieben hat: „Die Orcas attackieren die Ruder, weil sie es können“, sagt er. „Viele Theorien sind plausibel, aber keine ist belegbar.“
Man müsse aufpassen und dürfe das Verhalten der Tiere nicht ausschließlich als auf den Menschen bezogen sehen. „Es sind ja meistens mehrere Tiere beteiligt. Wahrscheinlich tun sie das auch, um miteinander zu interagieren. Vielleicht spielt der Mensch dabei eine geringere Rolle, als wir annehmen“, sagt er.
Käsbohrer ist sich jedoch sicher: „Sie wissen genau, was sie tun.“ Er verweist auf den spielerischen Ansatz: „Es ist, als ob die Tiere ihre Geschicklichkeit trainieren – auch im Miteinander. Am Ende wartet auf sie eine Belohnung: Entsetzte Skipper schauen zu, wie die Orcas den erbeuteten Ruderrest auf der Schnauze balancieren. Die Anstrengung ist von Erfolg gekrönt: Es gibt menschliches Publikum“, so der Autor.
Faszinierende Intelligenz der Wale
Der Meeresbiologe Ulrich Karlowski von der Deutschen Stiftung Meeresschutz vermutet: „Vieles spricht dafür, dass wir es hier mit einer kulturellen Entwicklung zu tun haben. Eine Kultur, die darin besteht, bestimmte Boote zu stoppen. Es ist eine mehr als erstaunliche und faszinierende Intelligenzleistung und gleichzeitig ein Dilemma.“
Warum auch immer die Orcas mit ihrem Treiben begannen, spielt seinen Überlegungen zufolge gar keine Rolle mehr. „Vielleicht trainieren sie mit diesen mehr als ungewöhnlichen Aktionen den sozialen Zusammenhalt, oder es sind Koordinationsübungen, ähnlich wie beim Fußballtraining in Kleingruppen.“ Je mehr sie aber übten, desto tiefer würde sich ihr Verhalten einprägen.
Am Ende versucht Käsbohrer dennoch, dem Verhalten der Wale einen Sinn zuzuweisen: „Die iberischen Orcas haben eine Botschaft für uns.“ Wir müssten diese nur erkennen. Demnach halten die Wale uns gewissermaßen den Spiegel vor: So wie die Orcas Bootsruder demolieren, zerstören und vermüllen wir Menschen den Lebensraum der Tiere. „Das Raubtier Mensch verhält sich nicht viel anders als das Raubtier Orca. Auch wir tun, was wir tun, weil wir es können. Und niemand uns eine Grenze setzt“, so Käsbohrer.
Das Konfliktpotenzial rund um die iberische Halbinsel wächst jedenfalls. Parallelen zu Kollisionen mit einem anderen großen Säugetier an Land lassen sich unschwer ziehen: So wie wir Westeuropäer uns bislang vergeblich bemühen, einen Friedenspakt mit dem zurückgekehrten Wolf zu schließen, so wenig ist ein Agreement im Meer für die Orcas in Sicht. Hier wie dort steht der Mensch vor der Herausforderung, andere Alphatiere neben sich zu dulden.
Spanische Behörden versuchen zu deeskalieren
Die spanischen Behörden haben mittlerweile Anstalten getroffen, um die Situation vor der Küste zu deeskalieren. Der Meeresbiologe Renaud de Stephanis fährt in offiziellem Auftrag ins Orca-Revier hinaus, um sich attackieren zu lassen. Er will herausfinden, wie sich die Ruderangriffe abwehren lassen. Die Orcas werden per Drohnenkameras beobachtet und einige Tiere auch besendert, nicht zuletzt, um Körperdaten zu messen. Sind die Tiere aggressiv? Oder haben sie tatsächlich nur Spaß?
Eines ist Buchautor Käsbohrer klar: Findet sich kein Weg, den Walen ihr Verhalten zu verleiden, ist über kurz oder lang das Leben der Gibraltar-Orcas in Gefahr. (rnd)