Vorsitzender des Nato-Militärausschusses„Bei Putin kann man nichts ausschließen"
Der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzende des Nato-Militärausschusses, Harald Kujat, warnt vor einer Eskalation des Ukraine-Krieges. Er könnte negative Folgen auch für Russland haben, sagt er. Denkbar sei zudem ein Zusammenstoß mit der Nato aus Versehen.
Herr Kujat, wie beurteilen Sie den Angriff Russlands auf die Ukraine - aus militärischer Sicht?
Harald Kujat: Ich sehe aktuell zwei Optionen, die der russische Präsident Wladimir Putin verfolgen könnte. Die erste Option ist, dass er jetzt militärische Mittel einsetzt, um die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk auszuweiten – unter dem Vorwand, sie schützen zu müssen. Diese Option wird begleitet durch Angriffe auf Luftstreitkräfte der Ukraine, damit diese die vorrückenden russischen Truppen nicht angreifen können.
Und die zweite Option?
Kujat: Die zweite Option ist, dass Putin einen großangelegten Angriff auf die Ukraine durchführt, um das Land zu besetzen und die Regierung zu stürzen. Das ist das Szenario, von dem die Amerikaner immer ausgegangen sind. Auch dann würde er jetzt versuchen, wichtige strategische Ziele in der Ukraine auszuschalten, um das Risiko für die eigenen Soldaten zu verringern – so wie es 2003 die USA im Irak getan haben. Auf jeden Fall bedeutet die Besetzung der Volksrepubliken Donezk und Luhansk, dass eine neue Qualität der Konfrontation entstanden ist. Jetzt stehen sich ukrainische und russische Streitkräfte direkt gegenüber. So wird jeder Konflikt zu einem zwischenstaatlichen Konflikt. Die Risiken sind enorm.
Mit welcher Option rechnen Sie?
Kujat: Ob die zweite Option kommt, müssen wir abwarten. Das wird sich bald zeigen. Sie hätte auf jeden Fall Risiken für Putin und Russland selbst. Es könnte zu einem jahrelangen Guerillakrieg kommen. Es wäre das Szenario Afghanistan – mit erheblichen Verlusten auch für die russische Seite. Im Übrigen hat Putin ja mehrfach gesagt, dass Russen und Ukrainer ein Volk sind. Das heißt, er würde faktisch einen Bruderkrieg führen. Das könnte er im eigenen Land kaum vermitteln. Zwar würde Putin erreichen, dass die Ukraine nicht Mitglied der Nato wird. Aber die Nebenwirkungen wären enorm negativ.
Also gehen Sie eher von der zweiten Option aus.
Kujat: Ich will jetzt keine Prognose abgeben. Es spricht zu viel Negatives für die zweite Option. Aber bei Putin kann man nichts ausschließen.
Was bedeutet die aktuelle Lage für die Nato?
Kujat: Zumindest in den baltischen Staaten sind die Befürchtungen vor einem russischen Angriff massiv. Und wenn Russland die Ukraine einnimmt, stehen sich auch an der Grenze zu Polen Nato-Truppen und russische Truppen direkt gegenüber. Das Risiko, dass es dann zu Fehleinschätzungen oder zu einem menschlichen oder technischen Versagen kommt, ist immer da. Auch deshalb muss es weiter Gespräche und Verhandlungen über eine politische Lösung geben.