Wachsender Generationen-KonfliktWarum die Macht der Alten problematisch ist
- Bei der Bundestagswahl wird es erstmals mehr Wahlberechtigte über als unter 55 Jahre geben.
- Doch zwischen den Generationen wächst der Konflikt um finanzielle und ökologische Ressourcen, die Rentenpolitik belastet die Jungen. Muss das so sein?
In der Corona-Pandemie ist gerne vom Brennglas die Rede, das ohnehin vorhandene gesellschaftliche Probleme größer und sichtbarer macht – soziale Unterschiede, fehlendes Pflegepersonal, Schülerinnen und Schüler, die im Unterricht nicht mitkommen. Der Lupeneffekt gilt auch für die Gerechtigkeitsfrage zwischen Jung und Alt. „Wir leben nicht in einer alternden Gesellschaft. Wir sind eine alte Gesellschaft“, so drastisch beschreibt der Freiburger Finanzökonom Bernd Raffelhüschen den längst vollzogenen demografischen Wandel.
„Schon bei dieser Bundestagswahl wird die Mehrheit der Wahlberechtigten älter als 55 Jahre sein“, betont der Wissenschaftler. Der Effekt: Eine Mehrheit wählt tendenziell im Interesse der Älteren, für eine auskömmliche Rente sowie ein stabiles Gesundheits- und Pflegesystem. Vorsorge oder die Schonung von finanziellen und ökologischen Ressourcen stehen weniger im Vordergrund. Raffelhüschen formuliert es zugespitzt: „Die große Koalition hat in den vergangenen Jahre die Dinge so gestaltet, dass es den Alten gut geht.“
Verfassungsrichter greifen ein
Umso bemerkenswerter ist da das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutz aus dem April. In dem Urteil ging es nicht nur um das Klima. Es ging auch um die Generationenfrage. Die Verfassungsrichter kamen zu dem Urteil, dass die Verschiebung von Maßnahmen für den notwendigen Klimaschutz die junge Generation in ihren Freiheitsrechten verletzt.
Schon oft hat das Bundesverfassungsgericht der Politik Reformschritte aufgezwungen. Nun ist dieses Urteil womöglich eine gesellschaftspolitische Wegmarke hin zu mehr Generationengerechtigkeit.
Die höchsten Richterinnen und Richter haben in früheren Urteilen beispielsweise dem Grundsatz der Gleichberechtigung von Mann und Frau zur Geltung verholfen. Sie haben für die Einführung einer Witwenrente gesorgt und dafür, dass Kinderlose mehr für die Pflegeversicherung zahlen müssen als Eltern. Und sie haben das Verbot der Sterbehilfe gekippt.
Auch das Witwenrenten- und das Pflegeurteil waren Richtersprüche, in denen es um Generationengerechtigkeit ging. Mit Blick auf die vom Statistischen Bundesamt vorhergesagte Entwicklung der Bevölkerung wird die Politik künftig aber mehr Mechanismen brauchen, die der jungen Generation bewusst Chancen verschafft und ihr genug Ressourcen für die Zukunft übrig lassen.
Trotz leicht gestiegener Geburtenraten und einer deutlich höheren Zuwanderung seit 2015 geht das Statistische Bundesamt in seiner Bevölkerungsvorausberechnung davon aus, dass sich die Alterung der Gesellschaft fortsetzt. „Die Zahl der Menschen im Erwerbsalter zwischen 20 und 66 Jahren wird voraussichtlich bis 2035 um vier bis sechs Millionen abnehmen“, heißt es im aktuellen Bericht aus dem Jahr 2019. Jeder zehnte Einwohner werde in 30 Jahren mindestens 80 Jahre alt sein.
Aktuell steht die sogenannte Baby-Boomer-Generation, also die in den Sechzigerjahren Geborenen, noch voll im Berufsleben. Diese geburtenstarken Jahrgänge haben die höchsten Stufen der Karriereleiter erklimmt und zahlen dementsprechend hohe Beiträge in die Sozialversicherungen ein. Wenn sie in den kommenden zehn bis 15 Jahren nach und nach in den Ruhestand gehen, werden die Staatsfinanzen erheblich unter Druck geraten. Verteilungskämpfe zwischen Jung und Alt werden aufbrechen. Es sei denn, es gelingt, vorher für Ausgleich und Fairness zu sorgen.
Doch danach sieht es nicht aus. In welche Schieflage das Rentensystem gelangen wird, wenn die Baby-Boomer in den Ruhestand gehen, ist bekannt. Ganz zu schweigen von der Überforderung der Pflege, wenn sie eines Tages hochbetagt sind.
Der Generationenvertrag
Was bedeutet der demografische Wandel konkret für die Rente? Man versteht die Grundkonstellation unseres gesetzlichen Rentensystems gut, wenn man es mit einem Restaurant vergleicht, in dem ungewöhnliche Regeln herrschen: Niemand zahlt seine eigene Rechnung – sondern immer die Rechnung derer, die vorher da waren. Die eigene Rechnung wird dafür wieder von denjenigen bezahlt, die als nächste kommen. Und immer so weiter.
In der Rente heißt das Generationenvertrag: Die jeweils arbeitende Bevölkerung muss die aktuellen Monatszahlungen an Ruheständler erwirtschaften. Dieses Prinzip hat sich über Jahrzehnte bewährt. Die Schwierigkeit ist eben nur: Während die Menschen erfreulicherweise älter werden, gibt es weniger junge Menschen, die in die Rentenversicherung einzahlen.Es gibt also Reformbedarf – und das nicht zu knapp.
Große Koalition, kleine Lösung
Union und SPD hätten das Thema in dieser Legislaturperiode grundlegend anpacken können. Eine große Koalition macht man, um große Probleme zu lösen – so hieß es früher. Doch die gar nicht mehr so große Koalition aus Union und SPD konnte sich bei den Koalitionsverhandlungen nur auf einen relativ kleinen Nenner verständigen. Oder, um es anders auszudrücken, auf eine vorläufige Lösung bis 2025.Diese Lösung nennt sich „doppelte Haltelinie“. Gesetzlich ist zum einen festgelegt, dass die Rente bis dahin nicht unter ein Niveau von 48 Prozent fallen darf. Das Rentenniveau ist – anders als oft angenommen – nicht der Prozentsatz, den jemand von seinem letzten Lohn als Rente bekommt. Es ist ein statistischer Wert, der das Verhältnis der Rente eines Durchschnittsverdieners nach 45 Beitragsjahren zum mittleren Lohn beschreibt. Die Rente soll also in einem stabilen Verhältnis zur Lohnentwicklung bleiben.
In der zweiten Haltelinie ist festgelegt, dass der Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung bis 2025 nicht über 20 Prozent steigen darf. Das schützt einerseits die Menschen vor explodierenden Rentenbeiträgen. Es bedeutet aber andererseits: Wenn Geld fehlt, muss es aus Steuermitteln nachgeschossen werden.
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat den größten Haushalt aller Ressorts. Für 2021 beläuft er sich auf knapp 165 Milliarden Euro – mehr als 106 Milliarden davon sind Leistungen an die gesetzliche Rentenversicherung.Das Rentensystem ist ein Gebäude, das für alle erkennbar eine grundlegende Sanierung benötigt. Statt diese in Angriff zu nehmen, hat die Bundesregierung sich aber damit begnügt, hier und dort Reparaturen vorzunehmen, die meist viel Geld kosten, aber das Haus nicht dauerhaft in Ordnung bringen.Da sich so etwas niemand gern nachsagen lässt, hat die große Koalition zu Beginn ihrer Amtszeit versprochen: „Wir kümmern uns auch um die Zukunftsfragen des Rentensystems. Wir setzen eine Rentenkommission ein.“ Eine Kommission einsetzen, das machen Politiker, wenn sie etwas tun wollen, ohne sofort etwas tun zu müssen.
In der Rentenkommission saßen Fachpolitiker von Union und SPD, Arbeitgeber und Arbeitnehmer sowie Wissenschaftler. Es war absehbar, dass sich die widerstreitenden Interessen dort nicht in einen umfassenden Entwurf würden bündeln lassen können. Und so legte die Rentenkommission am Ende nicht viel mehr als den Vorschlag vor, auch künftig mit doppelten Haltelinien zu operieren, die regelmäßig festgelegt werden sollen.
Die harte Frage, ob es eine höhere reguläre Altersgrenze für den Eintritt in die Rente braucht, ließ die Kommission unbeantwortet. Dafür hat sie angeregt, ein neues Beratungsgremium zu schaffen: einen Alterssicherungsbeirat. Die Rentenkommission tat, was die Politik vorgemacht hatte: Sie ließ die grundlegenden Probleme ungelöst.
Alle denken an die Rentner
Die Rente wird damit, einmal mehr, zum Wahlkampfthema. Die SPD will Selbstständige, Beamte und Abgeordnete in die Rentenversicherung aufnehmen. Das kann man gerecht finden – es löst aber das Problem nicht. Jeder, der einzahlt, erwirbt auch neue Ansprüche. SPD und Grüne wollen, dass das Rentenniveau nicht weiter sinkt. Die FDP setzt auf eine gesetzliche Aktienrente – spricht aber nicht ganz so laut darüber, dass eine solche teilweise Systemumstellung den Staat am Anfang ziemlich teuer kommt. Die Union muss noch überlegen, ob und was sie eigentlich wollen soll.
Ältere als wichtige Wählergruppe
Für alle gilt: Die Älteren sind eine sehr wichtige Wählergruppe. Die Rentenreformen, für die in den vergangenen Jahren politische Mehrheiten zustande gekommen sind, haben allesamt Geld gekostet. 9,8 Millionen Rentnerinnen profitieren laut Rentenversicherung von der erweiterten Anrechnung von Kindererziehungszeiten bei der Mütterrente. Kosten: 12 Milliarden Euro im Jahr. Mehr als 1,6 Millionen Menschen haben bislang die Möglichkeit der Rente ab 63 genutzt. Im Juli werden die ersten Bescheide für die Grundrente verschickt, die langjährige Geringverdiener besserstellen soll.Die Anliegen hinter all diesen Reformen sind nachvollziehbar. Aber sie haben die Rente für die jüngere Generation nicht billiger gemacht.
Die langfristigen Probleme sind längst auch ohne Lupe zu erkennen. Die demografische Entwicklung macht es jedes Jahr schwieriger darüber hinwegzusehen. Gleichzeitig wird es durch die Übermacht älterer Wähler nicht leichter, Entscheidungen zu treffen, die auch der älteren Generation etwas abverlangen.
Kommt nach der Bundestagswahl eine Rentenreform? Der Politik ist es in der Vergangenheit schon oft gelungen, einen Grund zu finden, das Thema Generationengerechtigkeit aufzuschieben – bis die nächste Politikergeneration sich darum kümmern muss.