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WahlsonntagIn Italien könnten heute Rechtsextreme an die Macht kommen

Lesezeit 9 Minuten
Giorgia Meloni

Giorgia Meloni, Vorsitzende der rechtsextremen Partei Fratelli d'Italia

Rom – Italien wählt am Sonntag inmitten des russischen Angriffskriegs in der Ukraine und seinen Folgen ein neues Parlament. Rasant steigende Energiepreise und auch die sonstige Teuerung bringen viele Familien in Existenzängste, zugleich haben Umfragen zufolge viele Wählerinnen und Wähler das Gefühl, dass ihre Stimmen sowieso nichts bewirken würden: Die Wahlbeteiligung könnte einem Meinungsforscher zufolge von 73 Prozent 2018 auf 66 Prozent fallen. Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Postfaschistin Giorgia Meloni die Wahl gewinnt?

Die Wahrscheinlichkeit ist hoch. Melonis postfaschistische Partei Fratelli d‘Italia (FDI) führte in den letzten Umfragen mit 25 Prozent der Stimmen klar vor dem sozialdemokratischen PD, der auf 20 Prozent kam. Zusammen mit ihren beiden rechtspopulistischen Bündnispartnern – der Lega von Matteo Salvini und der Forza Italia (FI) von Ex-Premier Silvio Berlusconi – wird der Rechtsblock wahrscheinlich auf etwa 45 Prozent der Stimmen kommen. Weil das Wahlgesetz Wahlbündnisse wie jenes von FDI/Lega/FI bevorteilt und die Parteien der Linken, der Mitte und die Fünf-Sterne-Bewegung sich nicht auf eine Koalition einigen konnten, dürften der Rechtsallianz selbst weniger als 45 Prozent reichen, die zersplitterte Konkurrenz zu schlagen und im Parlament eine komfortable Mehrheit der Sitze zu erringen. In diesem Fall wäre Meloni die Ernennung zur Ministerpräsidentin kaum noch zu nehmen: Ihre Partei wird voraussichtlich mehr als doppelt so viele Stimmen erringen wie ihre schwächelnden Bündnispartner Lega und FI zusammengenommen und damit das Vorschlagsrecht haben.

Sind am Wahltag noch Überraschungen möglich?

Ja – und dass noch ein Rest von Spannung herrscht, liegt nicht zuletzt daran, dass in Italien Umfragen in den letzten zwei Wochen vor den Wahlen verboten sind. In diesen 14 Tagen, in denen der Wahlkampf am intensivsten geführt wird, können sich die Gewichte noch verschieben. Am meisten fürchtet Meloni die Fünf-Sterne-Protestbewegung, die politisch möglicherweise etwas voreilig abgeschrieben wurde: Vor allem im armen Süditalien, wo die Menschen stark unter den massiv gestiegenen Rechnungen für Strom und Gas leiden und wo viele von dem von den Fünf Sternen eingeführten Bürgergeld leben, wird inzwischen nicht mehr ausgeschlossen, dass die Protestbewegung genügend Wahlkreise gewinnen könnte, um der Rechten einen Strich durch die Rechnung zu machen. Meloni will das Bürgergeld wieder abschaffen.

Sollte Meloni scheitern – könnte dann der im Juli von den Fünf Sternen, der Lega und Berlusconi gestürzte und jetzt nur noch geschäftsführende Premier Mario Draghi im Amt bleiben und eine neue Regierung bilden?

Das ist theoretisch möglich, aber nicht allzu wahrscheinlich. Sollte die Rechte verlieren, wäre zwar die Bildung einer Regierungskoalition aus den Linksparteien, der Mitte und den Fünf Sternen arithmetisch möglich. Aber ob Draghi noch einmal die Hand dazu bieten würde, mit der Fünf-Sterne-Bewegung zu regieren, ist fraglich: Deren Chef, der frühere Premier Giuseppe Conte, war maßgeblich für seinen Sturz im Juli verantwortlich gewesen und hatte schon zuvor, zusammen mit der Lega und Berlusconi, die Reformen Draghis immer wieder torpediert.

Die Fünf Sterne sind auch außerdem gegen Waffenlieferungen an die Ukraine. Draghi dagegen hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass Italien an der Seite von Kiew stehen müsse. Draghi hat erklärt, er stehe für eine neue Amtszeit nicht zur Verfügung – was aber nicht allzu viel bedeuten muss: Er hat sich von Beginn an aus dem Wahlkampf herausgehalten.

Wie ist es möglich, dass voraussichtlich 25 Prozent der Italienerinnen und Italiener eine Partei wählen werden, deren ideologische Wurzeln im Faschismus liegen und in deren Parteilogo immer noch die trikolore Flamme prangt, die seit dem Zweiten Weltkrieg das Symbol der italienischen Post- und Neofaschisten war?

Die trikolore Flamme wird von vielen Italienerinnen und Italienern anders wahrgenommen als im Ausland, nämlich als mehr oder weniger harmloses Bekenntnis zu einer zwar unschönen, aber längst überwundenen und damit für die heutige Demokratie letztlich ungefährlichen politischen Tradition. Der Terror, die Kriegsverbrechen, die Rassengesetze und die politischen Verfolgungen der Mussolini-Diktatur sind in Italien kaum ernsthaft aufgearbeitet worden und werden von vielen verdrängt: Der Duce, so das selbstentlastende Narrativ, war ja weniger schlimm als Hitler, Mussolini habe auch „viele gute Dinge“ getan, und das kommunistische Regime der Sowjetunion sei auch nicht besser gewesen.

Die wenigsten Wählerinnen und Wähler von Giorgia Meloni wünschen sich die Diktatur zurück, und sie finden es abstrus und demagogisch, wenn diese Gefahr an die Wand gemalt wird. Tatsächlich liegt der Anteil der überzeugten Rechtsextremen, Rassisten und Demokratiefeinde in Italien weit unter 25 Prozent. Anders sieht das freilich in der Partei Melonis aus: In den FDI wimmelt es nur so von unbelehrbaren Duce-Nostalgikern.

Wie rechtsextrem ist Giorgia Meloni selber?

Giorgia Meloni ist bereits im Alter von 15 Jahren der „Jugendfront“ des postfaschistischen Movimento Sociale Italiano beigetreten und hat seither 30 ihrer 45 Lebensjahre aktiv in solchen Parteien politisiert. Das färbt zwangsläufig ab; Meloni steht zu der über weite Strecken reaktionären Ideologie ihrer Partei. Ihr Motto ist und bleibt „Dio, Famiglia, Patria“ (Gott, Familie, Vaterland) – es war schon der Leitspruch der Mussolini-Diktatur gewesen.

In den letzten Monaten hat Meloni zwar versucht, sich einen moderaten und modernen Anstrich zu geben, um die Wähler im Inland und das Publikum im Ausland nicht allzu sehr zu verschrecken. Aber das wirkte ziemlich fadenscheinig. Meloni ist offen nationalistisch, will Italien gegen Migranten abschotten, hat ein Faible für Autokraten wie Viktor Orban und Donald Trump (aber nicht für Putin) und steht für eine erzkonservative Familien- und Genderpolitik. Fazit: Meloni steht politisch sehr weit rechts – aber als verbohrte Extremistin und Faschistin kann man sie dennoch kaum bezeichnen.

Was würde ein Wahlsieg Melonis und ihrer Bündnispartner für Europa bedeuten?

Auch in der Europapolitik hat sich Meloni vor den Wahlen zunächst verlässlich und moderat gegeben: Sie und ihre Partei stellten die Mitgliedschaft in der Union nicht infrage und würden deren Regeln respektieren, versicherte sie immer wieder. Doch bei der ersten Gelegenheit, den Worten auch Taten folgen zu lassen, zeigte Meloni ihr wahres Gesicht: Sowohl ihre Partei als auch die Lega von Matteo Salvini stimmten im Europaparlament gegen die Pläne der EU, Ungarn wegen dessen Demokratiedefiziten die Gelder zu kürzen. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban – dem Meloni politisch nahesteht – sei demokratisch gewählt worden, erklärte Meloni. Dass zu einer Demokratie auch ein funktionierender Rechtsstaat mit Gewaltentrennung, Garantie der Grundrechte und eine von der Regierung unabhängige Justiz gehören, wird nicht nur von Meloni und Salvini, sondern von allen Rechtspopulisten und Autokraten auf der ganzen Welt stets und beharrlich ausgeblendet.

In den letzten Tagen des Wahlkampfs ist Meloni definitiv zu ihrer früheren europafeindlichen Rhetorik zurückgekehrt: Die „Party“ sei vorbei; mit ihr als Regierungschefin würden in Brüssel nicht nur Deutschland und Frankreich, sondern endlich auch Italien für die eigenen Interessen kämpfen, erklärte Meloni. Dass Italien seit Jahren von der Tiefzinspolitik und den Anleihenkäufen der Europäischen Zentralbank vom drohenden Staatsbankrott bewahrt wird und dass die EU Italien im Rahmen des Wiederaufbaufonds 191 Milliarden Euro zur Verfügung stellt, weiß Meloni zwar, aber sie erwähnt es aus propagandistischen Gründen nicht: Es passt nicht ins Feindbild EU. Eines steht jedenfalls fest: Sollte die Rechte die Wahlen gewinnen, dann würde Italien die europafeindlichste Regierung seiner Nachkriegsgeschichte erhalten – nach der europafreundlichsten, die das Land unter Mario Draghi je hatte.

Wie gefährlich wäre ein Wahlsieg Melonis für die italienische Demokratie?

Das hängt davon ab, wie hoch der Sieg ausfallen wird. Als eines der vordringlichsten Projekte bezeichnet Meloni seit Langem die Einführung eines Präsidialsystems, bei dem die Macht des Parlaments deutlich eingeschränkt würde. Dabei schwingt die alte Sehnsucht der italienischen Rechten nach dem „starken Mann“ respektive, in diesem Fall, nach der „starken Frau“ durch. Für ein Präsidialsystem hatte sich vor vielen Jahren auch schon Berlusconi ausgesprochen, und Salvini hatte im Jahr 2019, als er sich als damaliger Innenminister auf dem Höhepunkt seiner Popularität befand, „volle Machtbefugnisse“ für sich verlangt.

Meloni hat am Donnerstag bei einem gemeinsamen Wahlkampfauftritt mit Berlusconi und Salvini bekräftigt, dass man im Falle eines Wahlsiegs das Präsidialsystem auch alleine, also auch gegen die parlamentarische Opposition, durchpauken würde. Im Parlament ist für Verfassungsänderungen freilich eine Zweidrittelmehrheit erforderlich – und ob der Rechtsblock eine solche erringen wird, ist nicht sicher. Außerdem müssen Präsidialsysteme nicht zwangsläufig zu autoritären Regimen führen, wie das Beispiel von Frankreich zeigt. Und das Präsidialsystem der USA hat sogar einen Donald Trump ausgehalten, wenn auch nur mit Glück. Aber etwas beunruhigend sind die Pläne der italienischen Rechten schon, besonders wenn man an die trikolore Flamme im Parteiloge der Meloni-Partei denkt.

Würde eine Regierung unter Meloni die Ukraine weiterhin unterstützen?

Wenn es nur nach Giorgia Meloni ginge, vermutlich ja. Das Problem sind in diesem Fall ihre Koalitionspartner: Sowohl Matteo Salvini als auch Silvio Berlusconi waren – zumindest bis kurz vor den Wahlen – glühende Verehrer des russischen Präsidenten Wladimir Putin gewesen und hatten sich schwergetan, die russische Aggression gegen die Ukraine als solche zu bezeichnen. Beide Politiker äußerten wiederholt Zweifel an den Sanktionen, und auch bei den Waffenlieferungen an Kiew zeigen sie sich wenig enthusiastisch. Draghi erklärte in den vergangenen Tagen ziemlich unverblümt, dass es in Italien von Moskau „gekaufte Marionetten“ gebe, die den russischen Diktator „wie verrückt liebten“. Ob sich Meloni gegen die beiden Putin-Fans Salvini und Berlusconi ebenso souverän durchsetzen könnte wie Draghi, ist eine offene Frage.

Was würde der Sieg Melonis für die Frauen bedeuten?

Grundsätzlich wäre es eine gute Nachricht, wenn Italien zum ersten Mal eine Frau an der Spitze der Regierung hätte. Mit Meloni würde freilich eine Frau Ministerpräsidentin, die zugleich Chefin der patriarchalischsten aller italienischen Parteien ist: Fast alle Führungspositionen bei den Fratelli d‘Italia neben Meloni sind von Männer besetzt – und die meisten von ihnen finden, dass die Frauen eigentlich an den Herd gehörten. Immerhin: Meloni, die selber eine sechsjährige Tochter hat, versprach im Wahlkampf, dass sie sich als Regierungschefin dafür einsetzen würde, dass Frauen nicht mehr zwischen Familie und Beruf wählen müssten – etwa durch die Bereitstellung von Gratiskrippenplätzen. Gleichzeitig propagiert Meloni wie die Männer ihrer Partei die „natürliche Familie“ aus Mann und Frau und verdammt die „linke Genderideologie“ und die „Kultur des Todes“ bei den Abtreibungen. Dass sie das Recht auf Abtreibung abschaffen will, bestreitet sie aber.

Wie läuft die Wahl ab und was passiert danach?

Gewählt werden 400 Abgeordnete und 200 Senatoren. Das sind insgesamt 345 Parlamentarier weniger als bei den letzten Wahlen im Frühjahr 2018, weil in der Zwischenzeit die Sitzzahl im Parlament um ein Drittel verkleinert wurde. Nach der Wahl wird Staatspräsident Sergio Mattarella seine üblichen Konsultationen mit den Parteiführern beginnen. Das Staatsoberhaupt hat die alleinige Kompetenz, die Ministerriege und den Regierungschef oder die Regierungschefin zu ernennen. Sollten die Wahlen den Rechtsparteien wie erwartet eine absolute Mehrheit der Sitze bescheren und die Fratelli d‘Italia stärkste Partei im Parlament werden, hat Mattarella wenig Spielraum: Er würde Giorgia Meloni voraussichtlich etwa Mitte Oktober die Ernennungsurkunde überreichen und ihr den Amtseid abnehmen.