AboAbonnieren

Wird sie nächste Nato-Chefin?Warum Estlands junge Regierungschefin Kaja Kallas so beliebt ist

Lesezeit 4 Minuten
Kaja Kallas während einer Pressekonferenz in Tallinn.

Kaja Kallas während einer Pressekonferenz in Tallinn.

Modern und pragmatisch: Kaja Kallas ist als künftige Nato-Generalsekretärin im Gespräch. Wäre das eine gute Idee? Ein Porträt.

Der Amtssitz der estnischen Regierungschefin, ein historisches Gebäude an einem Hang über der Hauptstadt Tallinn, ist nicht prunkvoll. Aber der Blick über die City bis hin zu Ostsee ist spektakulär: Nagelneue Stahl-und-Glas-Wolkenkratzer wechseln sich mit einer strahlend restaurierten Altstadt ab, die Spuren von 50 Jahren Sowjetbesatzung sind weitgehend entfernt.

Kaja Kallas mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der die Staatschefin im Rahmen seiner Estland-Reise traf.

Kaja Kallas mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der die Staatschefin im Rahmen seiner Estland-Reise traf.

Das passt zum Stil von Kaja Kallas. Der Ministerpräsidentin der kleinen Baltenrepublik, die ihre Wiederwahl gerade erdrutschartig gewonnen hat, fliegen in ganz Europa, aber auch in den USA, gerade die Herzen zu, und das liegt nicht nur an ihrer glänzenden Ausstrahlung, sondern vor allem an ihrem modernen, pragmatischen und strikt prowestlichen Kurs. So erlebt sie auch der deutsche Bundespräsident zum Abschluss seines zweitägigen Estland-Besuchs, als die 45-Jährige sich extra vor ihrer Kabinettssitzung eine Stunde Zeit für ein gemeinsames Arbeitsfrühstück genommen hat.

Kaja Kallas: modern, pragmatisch – und strikt prowestlich

Das ist nicht selbstverständlich. Denn in ihrer Haltung beim alles dominierenden Thema der Region, dem Umgang mit Russland und die Unterstützung der Ukraine, ist die blonde 45-Jährige, die seit zwei Jahren als erste Frau an die Regierungsspitze des EU- und Nato-Mitglieds steht, näher an Polen und Litauen als am deutschen Kurs.

Die Ukraine muss den Krieg gewinnen, Russland muss vertrieben werden, und der russische Aggressor und die Kriegsverbrecher müssen bestraft werden.
Kaja Kallas

„Die Ukraine muss den Krieg gewinnen, Russland muss vertrieben werden, und der russische Aggressor und die Kriegsverbrecher müssen bestraft werden“, betont Kallas strikt.

Der Unterschied zu Polen und Litauen: Kallas schlägt nicht deren deutschenfeindliche Töne an. Und sie verfolgt die Entwicklung der deutsche Debatte in diesen Fragen sehr genau. Im Hintergrund arbeitet sie daran, den anderen Osteuropäern klarzumachen, dass die EU sich auf den gemeinsamen Gegner in Moskau konzentrieren müsse, statt sich untereinander Vorhaltungen zu machen.

In Estland ist die Sorge groß, das nächste Opfer Russlands zu werden

In dem 1,3-Millionen-Land, das im Osten eine fast 300 Kilometer lange Grenze mit Russland teilt, ist die Sorge groß, das nächste Opfer Russlands zu werden. Kallas ist eine Antreiberin in der EU: Um die Militärhilfe für die Ukraine zu beschleunigen, schlug sie gerade einen EU-Sammelmechanismus nach dem Vorbild der Corona-Impfstoffbeschaffung vor. Im Verhältnis zu seiner Größe war Estland der größte Lieferant von Rüstungsgütern an die Ukraine und das größte Empfängerland für Geflüchtete.

Im Wahlkampf, den das Thema ebenfalls dominiert hatte, gab sich Kallas in der Frage kompromisslos – und fuhr mit ihrer wirtschaftsliberalen Reformpartei einen deutlichen Wahlsieg ein. Gerade führt sie Koalitionsverhandlungen mit Sozialdemokraten und Liberalen.

Kallas wird als Nachfolgerin von Nato-Chef Stoltenberg genannt

Über die spricht sie mit so viel Leidenschaft, dass kaum jemand in Estland den Eindruck hat, sie habe tatsächlich Ambitionen, als Nachfolgerin des im Herbst scheidenden Jens Stoltenberg Nato-Generalsekretärin zu werden. Dass sie dafür gehandelt wird, hört man im Land allerdings sehr gern. Kallas selbst weist die Spekulationen als „sehr unwahrscheinlich“ zurück – und erklärt zugleich, dass die Balten seit ihrem Nato-Beitritt 2005 noch keine Führungspositionen in der Allianz bekommen haben.

Kaja Kallas, die heute selbst zwei Söhne und eine Tochter hat, ist in eine politische Familie hineingeboren: Ihr Vater ist der frühere estnische Ministerpräsident und EU-Kommissar Siim Kallas, sie selbst trat nach ihrem Jura- und Wirtschaftsstudium 2011 in die von ihm gegründete Reformpartei ein. Nur sieben Jahre später wurde sie ihre Chefin.

Die Estin war früher selbst EU-Abgeordnete – was ihre Perspektive auf die Politik in und von Europa geweitet hat. Auch das merkt man ihrer Regierungslinie an, heißt es lobend aus der deutschen Delegation.

Innenpolitisch verbindet Kallas dabei wirtschafts- mit gesellschaftpolitisch liberalen Positionen. Estlands Status als digitaler Vorreiter will sie ausbauen, ebenso erneuerbare Energien und die Rechte Homosexueller. Inzwischen muss sie sich vor allem um Inflationsbekämpfung und Sozialpolitik kümmern.

Kallas ist geprägt von Estlands Nationaltrauma

Und doch ist auch sie geprägt vom Nationaltrauma Estlands: Ihre Mutter, Großmutter und Urgroßmutter wurden unter der Stalin-Diktatur nach Sibirien deportiert – keine Seltenheit in estnischen Familiengeschichten. „Man könnte sagen“, appellierte Kallas einst in einer Rede als EU-Abgeordnete, „dass wir Erfahrungen mit Russland haben, die wir seit unserem Beitritt mit der EU zu teilen versuchen.“

Inzwischen sind viele Länder, darunter Deutschland, aufgewacht und nehmen die Warnungen der Balten ernst, findet die Estin heute – aber eben noch nicht alle. Von der Mahnerin Kaja Kallas wird man deshalb noch viel hören, so oder so.